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Physik

Video mit dem „Vater des Urknalls“ gefunden

Verschollenes Fernseh-Interview mit Georges Lemaître lag falsch beschriftet im Archiv

Lemaitre und Einstein
Als der belgische Physiker und Priester Georges Lemaître im Jahr 1931 seine Theorie eines Urknalls vorstellte, war selbst Albert Einstein skeptisch. Hier bei einem Treffen der beiden im Jahr 1933. © historisch

Einzigartiges Zeugnis der Wissenschaftsgeschichte: Ein belgischer Fernsehsender hat das einzige bekannte Fernseh-Interview mit Georges Lemaître wiederentdeckt – dem „Vater der Urknalltheorie“. Das Videoband zeigt Lemaître bei einem Gespräch im Jahr 1964, in dem der Physiker seine Theorie erläutert und die Theorien von Physikerkollegen kommentiert. Lange galt dieses Video als verschollen, erst vor wenigen Monaten wurde es unter falscher Beschriftung im Archiv des Senders wiederentdeckt. Inzwischen wurde es erstmals transkribiert.

Dass unser Universum einst in einem Urknall entstand, ist heute etablierte Lehrmeinung. Im Jahr 1927 widersprach diese Vorstellung aber dem gängigen Konzept eines ewigen, unveränderlichen Universums. Doch ausgerechnet ein katholischer Priester wagte es, einen solchen Uranfang zu postulieren. Der belgische Abbé und Physiker Georges Lemaître hatte fast zeitgleich mit Edwin Hubble erkannt, dass sich der Kosmos ausdehnen muss – nur das konnte die astronomischen Beobachtungen erklären.

Für Lemaître lag damit auf der Hand: Wenn sich das Universum in alle Richtungen ausdehnt, dann muss es früher viel kleiner gewesen sein. Konsequent zu Ende gedacht müsste der Kosmos sogar anfangs in einem winzigen Punkt konzentriert gewesen sein, einer Art „Urkeim“ des Kosmos. Im Jahr 1931 veröffentlicht Lemaître seine Urknall-Theorie – und schreibt damit Geschichte.

Ein Fernseh-Interview im Jahr 1964

Wie Lemaître selbst den Urknall erklärte und was er über seine Physikerkollegen dachte, berichtete er 1964 – zwei Jahre vor seinem Tod – in dem einzigen von ihm bekannten Fernseh-Interview. Das vom belgischen Sender VRT ausgestrahlte Gespräch wurde damals auf Französisch geführt und mit flämischen Untertiteln versehen. Doch nach seiner Ausstrahlung galt es jahrzehntelang als verschollen. Von dem gut 19 Minuten langen Zeitzeugnis blieb nur ein kurzer, drei Minuten langer Ausschnitt erhalten – so jedenfalls dachte man.

Doch als der Fernsehsender begann, alte Filmrollen aus dem Archiv nach und nach einzuscannen und zu digitalisieren, wurde das einzigartige Zeugnis der Wissenschaftsgeschichte wiederentdeckt. „Ein Mitarbeiter erkannte Lemaître auf dem Filmmaterial sofort und realisierte, dass er ein echtes Juwel gefunden hatte“, erzählt Kathleen Bertrem, Archivarin von VRT. Wie sich zeigte, war der Film falsch beschriftet und einsortiert. „Dadurch blieb das Interview jahrelang unauffindbar.“ Erste Ende 2022 wurde dieses wertvolle Filmdokument wiederentdeckt.

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Man kann das wiedergefundene und digitalisierte Interview mit Georges Lemaître auf der Seite des Senders VRT anschauen.

Ausstrahlung kurz vor dem Beweis des Urknalls

„Dieses Videomaterial gibt uns einen einzigartigen Einblick in die Ansichten des Physikers, der oft als Vater des Urknalls bezeichnet wird“, kommentiert die US-Physikerin Satya Gontcho A Gontcho. „Lemaître ist unzweifelhaft eine der Schlüsselfiguren der Physik des 20. Jahrhunderts.“ Gontcho und ihr Team haben das Lemaître-Interview transkribiert und ins Englische übersetzt. „Wir wollten das Interview damit der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft zugänglich machen“, sagt sie.

Das Interview mit Lemaître fand zu einer Zeit statt, als die kosmische Hintergrundstrahlung noch nicht entdeckt war. Diese Reliktstrahlung aus der Anfangszeit des Kosmos wurde erst wenige Monate später nachgewiesen und lieferte damit den entscheidenden experimentellen Beweis für ein sich veränderndes Universum und die Urknall-Theorie. Doch schon davor ist Lemaître überzeugt, dass das Universum einen Uranfang gehabt haben muss.

Vom Ur-Atom und physikalischen Widersachern

Lemaître erklärt in dem Interview unter anderem seine Vorstellung des Urknalls: „Es gibt einen Anfang, der sich sehr von dem heutigen Zustand des Kosmos unterschied“, sagte er. „Dieser Anfang lässt sich am ehesten als Desintegration aller Materie zu einem einzigen Atom beschreiben.“ Aus diesem „Urkeim“ sei dann das Universum entstanden: „Daraus folgt ein sich in alle Richtungen ausdehnender Raum, der von einem Plasma und energiereichen Strahlen erfüllt ist“, so Lemaître.

Der Physiker und Priester hält auch mit seiner Kritik an Physikerkollegen wie Fred Hoyle nicht hinter dem Berg, die zur Zeit des Interviews noch immer an der Vorstellung eines weitgehend statischen Universums festhielten. „Die Fakten, die auf eine Expansion des Universums hindeuten, machen diese Theorie inakzeptabel“, sagt Lemaître. „Wir haben daher eingesehen, dass wir eine Veränderung zulassen müssen. Aber diejenigen, die sich gegen ein veränderndes Universum sperren, wollen diesen Wandel minimieren.“

Kein Konflikt zwischen Wissenschaft und Glaube

Das Interview liefert auch erhellende Einblicke in Lemaîtres Ansichten zu Wissenschaft und Religion. Danach gefragt, ob seine physikalischen Erkenntnisse ihn nicht in Konflikt zu seinem Glauben bringen, verneint er dies klar. Er sieht kein Problem darin, den Urknall zu vertreten und gleichzeitig katholischer Priester zu sein. Für ihn liegen das wissenschaftliche Konzept vom Anfang des Universums und die theologische Vorstellung der Schöpfung auf völlig verschiedenen Erkenntnisebenen.

Gleichzeitig hält er es für nicht sinnvoll und zulässig, den Urknall quasi als Beleg für ein göttliches Eingreifen zu sehen. Denn Gott sei mehr als nur der Voltaire’sche Uhrmacher, der praktisch Hand anlegen muss. „Ich verteidige das primordiale Atom nicht aus einem wie auch immer gearteten religiösen Motiv heraus“, betont Lemaître. (Interview-Transcript: arXiv 2301.07198)

Quelle: Vlaamse Radio- en Televisieomroeporganisati American Physical Society,

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