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Medizin/Genetik

Neandertaler-DNA macht uns schmerzempfindlicher

Drei Genvarianten vom Neandertaler sind mit stärkeren Schmerzen assoziiert

Kaktus und Hand
Auf mechanische Reize durch spitze Gegenstände reagieren Menschen stärker, die vom Neandertaler geerbte Genvarianten aufweisen.© Cineberg / Getty Images

Urzeitliches Erbe: Menschen, die in ihrer DNA drei vom Neandertaler geerbte Genvarianten aufweisen, sind empfindlicher gegenüber bestimmten Schmerzreizen. Besonders häufig kommen diese Genvarianten heute in Nachfahren von amerikanischen Ureinwohnern vor, wie Forschende herausgefunden haben. Die Studie liefert ein weiteres Beispiel dafür, wie die Kreuzung unserer Vorfahren mit Neandertalern die Genetik von uns modernen Menschen beeinflusst hat. Zugleich wirft sie Fragen zum evolutionären Zweck der Schmerzempfindlichkeit auf.

Unsere Gene enthalten noch heute einen kleinen Anteil Neandertaler-Erbgut. Diese DNA-Abschnitte gelangten vor zehntausenden Jahren ins Genom unserer Vorfahren, als sich einige von ihnen mit Neandertalern kreuzten. Weil die Neandertaler-Gene den Nachkommen dieser Paarungen Vorteile brachten – zum Beispiel bei der Anpassung an das kühlere europäische Klima –, blieben sie im Erbgut erhalten und sind bis heute aktiv. Solche Neandertaler-Gene unterstützen beispielsweise unseren Fettabbau und unsere Immunabwehr und beeinflussen unser Aussehen über Nase, Haut und Haare.

Drei Neandertaler-Mutationen im selben Gen im Fokus

Aus früheren Studien zu Gensequenzierungen ist bereits bekannt, dass manche Menschen in ihrem Erbgut eine Variante im Gen SCN9A aufweisen. Das Gen ist besonders in sensorischen Nervenzellen aktiv, die Signale von geschädigtem Gewebe wahrnehmen und weiterleiten. Es kodiert für das Protein Nav1.7, das in den Neuronen als Natrium-Ionenkanal fungiert. Dadurch beeinflusst dieses Gen unser Schmerzempfinden, aber auch unseren Geruchssinn.

Vergleichende Genomstudien haben ergeben, dass drei Varianten dieses Gens, M932L, V991L und D1908G, vom Neandertaler stammen. Sie kommen heute vorwiegend im Erbgut von Lateinamerikanern vor, jedoch kaum in Europäern und Afrikanern. Ein Bericht aus Großbritannien deutete bereits darauf hin, dass diese Mutationen das Schmerzempfinden erhöhen könnten, wenn Personen über alle drei Varianten in ihrer DNA verfügen.

Hinweise auf Schmerzeindruck

Wegen des äußerst seltenen Vorkommens in Europäern waren die Daten jedoch wenig belastbar. Welche sensorischen Reaktionen die Varianten konkret hervorrufen, wurde daher bislang nicht untersucht. Forschende um Pierre Faux von der Universität Aix-Marseille sind dem nun mit Testpersonen aus Lateinamerika nachgegangen. Sie setzten 1.623 gesunde Kolumbianer verschiedenen Reizen aus und testeten, ab welcher Intensität die Probanden Schmerzen in der Hand oder im Arm spürten.

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Unter anderem übten sie mit einer speziellen Borste unterschiedlich starken Druck aus, bis diese als spitz und piksend empfunden wurde (mechanischer Reiz). Außerdem maßen sie mit standardisierten Geräten Druck- und Hitzeschmerz. Die ermittelte Schmerzschwelle verglichen die Forschenden jeweils mit dem Erbgut der Testpersonen, das sie auf die drei Genvarianten hin analysierten. Diese begleitenden Genanalysen ergaben, dass die D1908G-Variante in etwa 20 Prozent der Testpersonen vorhanden war. Etwa sechs Prozent wiesen die Varianten M932L und V991L auf. Träger dieser beiden Mutationen hatten zu rund 90 Prozent auch die dritte Mutation D1908G; umgekehrt traf dies nur auf circa 30 Prozent der D1908G-Träger zu.

Alle drei Varianten verstärken das Schmerzempfinden

Wie aber wirkten sich die Varianten auf das Schmerzempfinden der Testpersonen aus? Bei den Schmerztests zeigte sich, dass die Träger aller drei Neandertaler-Genvarianten tatsächlich empfindlicher gegenüber mechanischen Reizen waren. Das wurde besonders deutlich, wenn die Forschenden die Haut der Probanden mit Senföl einrieben und dadurch noch empfindlicher machten. Allerdings reagierten diese Testpersonen nicht schmerzempfindlicher auf Hitze oder Druck.

Auch Personen mit nur einer der drei Genvarianten waren in den Tests sensitiver für Schmerzen als Menschen ohne Neandertaler-Einfluss im SCN9A-Gen, jedoch nicht so ausgeprägt wie die Träger aller drei Varianten.

Neandertaler waren schmerzempfindlicher

Warum die drei Neandertaler-Genvarianten schmerzempfindlicher machen und was sie physiologisch bewirken, geht aus der Studie nicht hervor. Die Autoren vermuten aber, dass die Mutationen die Struktur des Natrium-Kanals Nav1.7 so verändern, dass in den Nervenzellen auch bei niedrigschwelligeren Reizen ein Signal ausgelöst wird. Denkbar sei jedoch auch, dass sich der Effekt unterscheidet, je nachdem um welche Art Nervenzellen und welche Kombination aus Mutationen es sich handelt, erklärt das Team.

„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Neandertaler empfindlicher auf bestimmte Arten von Schmerzen reagierten“, fasst Koautor Kaustubh Adhikari vom University College London zusammen. „Wir haben gezeigt, dass Variationen in unserem genetischen Code unser Schmerzempfinden verändern können, einschließlich der Gene, die der moderne Mensch von den Neandertalern übernommen hat“, ergänzt Erstautor Faux. Er betont jedoch auch, dass die Gene nur einer von vielen Faktoren sind, die das Schmerzempfinden beeinflussen. Ebenfalls wichtig seien die Umwelt, frühere Erfahrungen und psychologische Faktoren.

Häufiges Vorkommen in Nachfahren amerikanischer Ureinwohner

Um genauer zu prüfen, wie häufig die Genvarianten heute vorkommen, analysierten Faux und seine Kollegen das SCN9A-Gen auch bei einer größeren Personenzahl aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Insgesamt werteten sie genetische Daten von 5.971 Menschen aus Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko und Peru aus. In diesen Analysen traten alle drei Varianten je etwas häufiger auf als bei der rein kolumbianischen Testgruppe. Etwa elf Prozent der Südamerikaner wiesen alle drei Varianten gleichzeitig auf.

Außerdem zeigte sich, dass die drei Neandertaler-Genvarianten häufiger in Ländern vorkommen, deren Bevölkerung zu einem größeren Anteil von Native Americans abstammt. Dazu zählt der Studie zufolge etwa Peru, wo 66 Prozent der Menschen Nachfahren von amerikanischen Ureinwohnern sind.

Dass die Genvarianten dort besonders häufig sind, führen die Wissenschaftler auf zufällige Entwicklungen und evolutionäre Selektion während der ersten Besiedlung Amerikas zurück. Möglicherweise sei die durch die Varianten verursachte erhöhte Schmerzempfindlichkeit während der menschlichen Evolution von Vorteil gewesen, weil Schmerz das Verhalten ändert und weitere Verletzungen verhindert, vermuten Faux und seine Kollegen. Um festzustellen, ob das für die frühere Bevölkerung in Südamerika und die Neandertaler zutrifft, seien jedoch weitere Forschungen erforderlich. (Communications Biology, 2023; doi: 10.1038/s42003-023-05286-z)

Quelle: University College London

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