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Ökologie

Ist Europa bereit für Rewilding?

Wildnissuche auf einem dicht besiedelten Kontinent

In Europa ist es schwer, Orte zu finden, die noch nicht von uns verändert wurden. Selbst wer einen Spaziergang auf dem Land macht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Stromtrassen, geschotterte Wege, Äcker und bewirtschaftete Wälder vorfinden. Kein Wunder, denn Europa ist einer der am dichtesten besiedelten Kontinente.

Europa bei Nacht
Diese Satellitenaufnahme von Europa bei Nacht verdeutlicht, wie dicht besiedelt der Kontinent ist. © NASA

Zu hektisch für mehr Natur?

Egal wo in Europa man sich befindet: Die nächste Straße oder Bahnlinie ist im Schnitt nie weiter als zehn Kilometer entfernt, wie eine Studie aus dem Jahr 2020 zeigt. „Intensiv bewirtschaftete landwirtschaftliche Flächen nehmen ebenfalls etwa ein Viertel der Europäischen Union ein und sind für viele Arten als Lebensraum oder zur Durchquerung ungeeignet“, schreiben Néstor Fernández vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung und seine Kollegen darin.

Für die Natur ist das eine große Herausforderung. Die Tiere, die in ihr leben, müssen mit Lärm, Müll und gefährlichen Straßen umzugehen lernen – oder aussterben. Denkt man zurück an die Grundsätze des Rewildings und dass es große Flächen benötigt, scheint sich Europa auf den ersten Blick nicht für Rewilding zu eignen.

Lebensräume für Wisent und Elch
Potenzielle Lebensräume für Wisent und Elch in Europa. © Blum et al./ Diversity and Distributions /CC-by 4.0

Alte Äcker neu gedacht

Doch der Schein trügt. Einer aktuellen Studie zufolge gibt es in Europa sehr wohl genug Platz für Großwild wie Wisente und Elche. Demnach kämen in Deutschland zum Beispiel die Uckermark, die Mecklenburgische Seenplatte, aber auch Mittelgebirge wie der Harz, Spessart oder Pfälzerwald als Lebensraum für die beiden Tierarten in Frage. Noch stehen ihnen vielerorts allerdings Hindernisse wie Grenzzäune und Autobahnen im Weg.

Der bereits vorhandene Platz in Europa könnte sich in Zukunft außerdem vergrößern, denn weltweit werden aktuell Acker- und Weideflächen aufgegeben und liegen in der Folge brach. „Allein in der Europäischen Union werden im Zeitraum 2015 bis 2030 voraussichtlich elf Prozent (mehr als 20 Millionen Hektar) der landwirtschaftlichen Nutzfläche mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgegeben, davon mehr als 70 Prozent Ackerland und 20 Prozent Weideland“, berichten Forschende um Lanhui Wang von der Universität Aarhus.

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Unter anderem geben Landwirte ihre Äcker und Weiden auf, weil deren Bewirtschaftung nicht mehr genügend Geld abwirft oder weil die Böden nicht mehr so ertragreich sind. Obwohl die Einzelschicksale in diesem Zusammenhang mitunter tragisch sind, geht diese Entwicklung zumindest für das Rewilding in eine gute Richtung. Die frei gewordenen Landschaften könnten langfristig der Natur übergeben werden, die dort dann ungestört vom Menschen ihre eigenen Wege findet.

Gratis Klimaschutz

Brach liegendes Land und andere Flächen auf diese Weise zu nutzen, wäre jedoch keineswegs eine selbstlose Entscheidung, sondern würde auch dem Menschen zugutekommen. Gebiete, die wieder in Richtung ihres Ursprungszustands steuern, sind nämlich widerstandsfähiger gegen den Klimawandel und helfen sogar dabei, seine Auswirkungen zu reduzieren, so Wang und seine Kollegen.

Wiederverwilderte Landschaften binden zum Beispiel Kohlenstoff, produzieren saubere Luft und tragen zum Erhalt der Artenvielfalt bei. Und das alles im Grund kostenlos, denn sobald ein Ökosystem wieder allein klarkommt, braucht es kaum bis gar keine menschliche Zuwendung mehr, was wiederum auch so gut wie keine Kosten verursacht.

Auenwald
Auenwälder wie dieser bei Dortmund fungieren als Pufferzonen bei Hochwasser. © BinaFalcon/CC-by-sa 3.0

Puffer für Extremwetter

Rewilding macht Landschaften außerdem weniger anfällig für extreme Wettereignisse, was auch uns selbst vor ihnen schützt. Die Renaturierung von Flussauen dient zum Beispiel als Puffer für den Hochwasserschutz. „Daher werden seit Beginn des 21. Jahrhunderts Hochwasserdeiche zurückverlegt, damit das Hochwasser sich wieder in größeren Auenflächen ausbreiten kann und dadurch keine katastrophale Höhe erreicht. Die auf diese Weise wiedergewonnenen Auen sind gleichzeitig wertvolle Trinkwasserspeicher“, erklärt Martin Pusch vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei.

Auch Wald- und Grasbrände könnten in der Folge des Rewildings abnehmen. „Es gibt heute Beweise dafür, dass große Pflanzenfresser Brände eindämmen können, indem sie die Menge an Brennstoff reduzieren“, sagt Allison Karp von der Yale University. Denn die Pflanzenfresser weiden den Unterwuchs der Wälder ab und dünnen so das Unterholz aus, das Flammen oft besonders reiche Nahrung bietet. Wisente, Rinder und Pferde wieder anzusiedeln, könnte also das Waldbrandrisiko in Europa senken.

Wisent
Die Wisente im polnischen Białowieża-Urwald sind nur einen „Bisonsprung“ von Deutschland entfernt. © Herr stahlhoefer

Sind wir mental bereit für die Koexistenz?

Trotz all der Vorteile des Rewildings steht ihm eine große Hürde im Weg und die befindet sich in unseren Köpfen. Wir müssten erst wieder lernen, mit großen wildlebenden Tieren zu koexistieren. Während Wisente und Wölfe für unsere Vorfahren noch alltäglicher Teil ihrer Lebensrealität waren, gehören sie für uns eher in TV-Dokus oder in die amerikanische Prärie. Das Unbehagen gegenüber den tierischen Wiederkehrern zeigt sich hierzulande etwa an der aufgeheizten Debatte über die Rückkehr der Wölfe.

Aber auch ein Vorfall aus dem Jahr 2017 steht symbolisch für die Schwierigkeiten, die Rewilding mit sich bringt. Am 14. September war damals in der Nähe der ostdeutschen Stadt Lebus ein wild lebender Wisent erschossen worden, der von Polen aus die deutsche Grenze überschritten hatte. Besonders tragisch: Er war der allererste Wisent auf deutschem Boden seit rund 250 Jahren.

Doch der Leiter des ansässigen Ordnungsamtes sah in dem Tier eine Bedrohung für die Stadt und hat deshalb örtliche Jäger mit dem Abschuss beauftragt. „Dieses Tier war eindeutig keine Gefahr für den Menschen“, sagt Jonathan Rauhut von Rewilding Oder Delta. „Es ist offensichtlich, dass die deutschen Behörden in Panik gerieten und nicht wussten, was sie angesichts der Ankunft dieses seltsamen Tieres tun sollten. Sie reagierten, als wäre ein Dinosaurier über die Oder geschwommen.“

Rewilding Europe schlussfolgert aus dem Vorfall, dass die Wiederkehr großer Wildtiere noch sorgfältiger geplant und vorbereitet werden muss.

Bärensafari
Naturtourismus wie diese Bärensafari in Schweden könnte Rewilding auch für Einheimische lukrativ machen. © Fährtenleser/CC-by-sa 4.0

Neue Einnahmequellen für Einheimische

Generell versucht die Stiftung, ihre Rewilding-Projekte so zu planen und durchzuführen, dass sie bei der lokalen Bevölkerung auf Unterstützung stoßen. Die Menschen vor Ort sollen das Mehr an Wildnis nicht als Bedrohung, sondern als Chance wahrnehmen, die sogar ihren Lebensunterhalt finanzieren könnte. Die Einheimischen finden so zum Beispiel Anstellungen im Umweltschutz oder Naturtourismus. Rewilding Europe vergibt sogar Kredite an Menschen in Projektregionen, die Öko-Unternehmen gründen.

Außerdem unterhält die Stiftung eine eigene Reiseagentur, die mit Partnern vor Ort zusammenarbeitet. „Die Menschen wollen Vögel und Tiere aus nächster Nähe sehen – aus Verstecken, mit Hilfe von Führern, zum Fotografieren“, heißt es auf der Webseite. Die Idee: Wenn Menschen allerhand Geld zahlen, um Grizzlys in Alaska oder Gorillas in Afrika zu beobachten, warum sollten sie sich dann nicht auch von Braunbären in Slowenien, Geiern in Spanien oder Wölfen in Schweden angezogen fühlen?

Auch wenn ein wilderes Europa noch vor zahlreichen Hürden und Problemen steht: Es würde sich durchaus lohnen – für die Artenvielfalt, den Kampf gegen den Klimawandel, die Natur und uns Menschen.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Mehr Wildnis wagen
Wie Rewilding zerstörte Ökosysteme in Europa wiederbeleben kann

Emanzipation der Natur
Rewilding als Hilfe zur Selbsthilfe für Ökosysteme

Kerngebiete, Wildtierkorridore, Schlüsselarten
Die Grundprinzipien des Rewildings

Rewilding in Deutschland
Das Oder-Delta wird wieder wild

Rewilding gone wrong
Wenn Renaturierung nach hinten losgeht

Ist Europa bereit für Rewilding?
Wildnissuche auf einem dicht besiedelten Kontinent

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