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Neurobiologie

„Aufschieberitis“ liegt am Gehirn

Hirnanatomie und Vernetzung ist bei Sofort-Machern und Aufschiebern verschieden

Viele Mencsen neigen dazu, Aufgaben aufzuschieben. Die neuronale Basis für diese Neigung haben Forscher nun aufgedeckt. © Brain Jackson/ iStock.com

Lieber morgen als heute: Wer unangenehme Aufgaben gerne aufschiebt, kann künftig seiner Hirnanatomie die Schuld geben. Denn wie eine Studie enthüllt, lässt sich der Hang zur Prokrastination an der Größe und Verknüpfung zweier Hirnareale ablesen. Ist ihr Zusammenspiel gestört, fällt die Handlungskontrolle schwer und wir schieben Dinge eher vor uns her, wie die Forscher berichten. Das Wissen um diesen Zusammenhang könnte möglicherweise helfen, neue Therapien bei starker „Aufschieberitis“ zu entwickeln.

Wie gehen Sie neue Aufgaben an? Eher impulsiv und schnell? Oder arbeiten Sie systematisch einfach eine nach der andere ab? Oder gehören Sie vielleicht zu den Menschen, die sich zwar einen perfekten Plan machen, dann aber doch das meiste wieder aufschieben? Klar scheint: Ob jemand eher zur „Aufschieberitis“ neigt oder nicht, hängt stark von der Persönlichkeit ab.

Blick ins Gehirn

Doch welche neuronalen Mechanismen stecken dahinter? „Obwohl individuelle Unterschiede in der Handlungskontrolle einen großen Teil unseres täglichen Lebens prägen, ist die neuronale Basis dafür bisher weitgehend unbekannt“, erklärt Caroline Schlüter von der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Sie hat deshalb gemeinsam mit ihrem Team untersucht, ob es Unterschiede bei den Gehirnen von Menschen mit „Aufschieberitis“ und eher Schnell-Entschlossenen gibt.

Für ihre Studie befragten die Forscher zunächst ihre 264 männlichen und weibliche Probanden ausführlich nach deren Neigung zur Prokrastination und ihren Fähigkeiten zur Handlungskontrolle. Anschließend wurden die Gehirne der Teilnehmer mittels funktioneller Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) gescannt. Mithilfe der Aufnahmen konnten die Wissenschaftler das Volumen bestimmter Hirnareale ermitteln, aber auch die funktionelle Vernetzung wichtiger Zentren messen.

Die Amygdala ist ein Zentrum für die Gefühlsverarbeitung im Gehirn © Life Science Databases(LSDB)/ CC-BY-SA-2.1-jp

Emotionszentrum vergrößert

Und tatsächlich: Die Hirnscans enthüllten deutliche Unterschiede zwischen den eher schnell entschlossenen und den zum Aufschieben neigenden Probanden. Bei Letzteren war die Amygdala, auch Mandelkern genannt, etwas vergrößert, wie die Forscher berichten. Dieses Areal gilt als Gefühlszentrum des Gehirns, spielt aber auch eine wichtige Rolle beim Einschätzen und Wiedererkennen von Situationen.

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Die Aufgabe der Amygdala ist es unter anderem, uns vor möglichen negativen Konsequenzen einer Handlung zu warnen. „Menschen mit höherem Amygdala-Volumen könnten eine größere Furcht vor den negativen Konsequenzen einer Handlung haben – sie zögern und schieben deshalb Dinge auf“, vermutet Koautor Erhan Genç.

Schwache Verknüpfung

Und noch einen Unterschied fanden die Wissenschaftler: Bei Probanden mit „Aufschieberitis“ war die funktionelle Verbindung zwischen der Amygdala und einem weiteren Hirnareal, dem sogenannten dorsalen anterioren cingulären Cortex (dorsaler ACC) weniger stark ausgeprägt. Bei denjenigen, denen das sofortige Erledigen von Aufgaben leicht fiel, war diese Verbindung dagegen stark ausgeprägt, wie die Forscher berichten.

Der dorsale ACC spielt eine wichtige Rolle für unsere Handlungskontrolle, wie Schlüter und ihre Kollegen erklären. Er nutzt Informationen über den potenziellen Ausgang von Aktionen, um diejenigen auszuwählen, die in die Tat umgesetzt werden. Gleichzeitig unterdrückt er konkurrierende Einflüsse, damit diese Handlung ungestört abgeschlossen werden kann.

Ist nun das Zusammenspiel zwischen Amygdala und dorsalem ACC gestört, funktioniert diese Auswahl und Abschirmung nur noch unzureichend. Dadurch können negative, eher hemmende Einflüsse der Amygdala die Oberhand gewinnen – und unseren Handlungswillen lähmen.

Ansatz für gezielte Trainings?

„Unsere Ergebnisse sind die ersten, die zeigen, dass individuelle Unterschiede in der Handlungskontrolle auf der anatomischen Architektur und dem funktionellen Netzwerk der Amygdala basieren“, konstatieren Schlüter und ihre Kollegen. Sie wollen nun erforschen, ob die unterschiedlich gut ausgeprägte Handlungskontrolle möglicherweise durch spezifische Trainings oder Hirnstimulation verändert werden kann. (Psychological Science, 2018; doi: 10.1177/0956797618779380)

(Ruhr-Universität Bochum, 22.08.2018 – NPO)

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