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Neurowissenschaften

Wie unser Gehirn auf Überraschungen reagiert

Verschiedene Hirnareale lernen nacheinander aus denselben Erfahrungen

Illustration eines Gehirns in einem menschlichen Kopf
Während wir heranwachsen, entwickeln sich nacheinander verschiedene Gehirnareale, so dass sie beispielsweise unvorhergesehene Geräusche schneller einordnen können. © jungle / iStock

Überraschung! Unser Gehirn lernt wahrscheinlich erst allmählich und in Etappen, mit Unerwartetem umzugehen, wie eine Studie an jungen Mäusen nahelegt. Demnach entwickeln sich die beteiligten Gehirnareale beim Heranwachsen nicht gleichzeitig, sondern nacheinander, so dass sie beispielsweise unvorhergesehene Geräusche schneller einordnen können. Bei Mäusen dauert dieser zeitversetzte Erfahrungs- und Reifeprozess etwa 50 Tage, beim Menschen wahrscheinlich gut 20 Jahre, wie die Forschenden in „Science Advances“ berichten.

Für Kinder steckt die Welt voller Überraschungen. Erwachsene überrascht hingegen kaum noch etwas. Das liegt daran, dass sich unser Gehirn mit dem Heranwachsen verändert und auf Unvorhergesehenes dann anders reagiert. Unser Gehirn muss unerwartete Reize wie Geräusche oder einen veränderten Tonfall dabei als „wichtig“ und „gefährlich“ oder als „uninteressant“ und „harmlos“ einstufen.

Bei Erwachsenen geschieht diese Einordnung deutlich schneller als bei Kindern und Jugendlichen, sodass sie bei wiederholten „Überraschungen“ deutlich weniger darauf reagieren. Das spart neurologisch gesehen Energie. Kinder reagieren hingegen auch beim dritten und vierten Mal noch ähnlich intensiv auf dasselbe vermeintlich neuartige Ereignis oder Geräusch. Wann und wie sich ihr Gehirn dahingehend umformt und fortan effizienter auf Unvorhergesehenes reagiert, ist aber noch kaum erforscht.

Was passiert im Gehirn von jungen Mäusen?

Ein Forschungsteam um Patricia Valerio von der Universität Basel hat das nun anhand von jugendlichen Mäusen untersucht. Dafür testeten die Neurowissenschaftler, wie das Gehirn von Jungtieren im Alter von 20, 30, 40 und gut 50 Tagen auf überraschende Töne reagiert. Die Forschenden verwendeten in ihren Versuchen zehn verschiedene Tonfolgen aus je identischen Tönen, in denen in unregelmäßigen Abständen ein abweichender Ton auftauchte. Während die Tiere die Tonfolgen hörten, zeichneten die Wissenschaftler ihre Hirnströme mit operativ angebrachten Elektroden auf.

Die Messungen ergaben, dass bestimmte Hirnregionen der jungen Mäuse, die für die Geräuschverarbeitung zuständig sind, anfangs sehr stark auf den abweichenden Ton reagierten. Mit zunehmendem Alter und Reifegrad der Tiere nahmen diese Hirnreaktionen jedoch immer weiter ab, bis sie der von erwachsenen Tieren glichen, wie die Forschenden berichten.

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Gehirn reift von außen nach innen

Die betroffenen Hirnareale entwickelten sich dabei unterschiedlich schnell und nicht gleichzeitig, sondern zeitversetzt zu ihrer „erwachsenen“ Version, wie die Versuche ergaben. Nach knapp 20 Tagen als erstes ausgereift war demnach der Colliculi inferiores. Diese Hirnregion liegt am Anfang des neuronalen Signalweges vom Hörnerv zur Hörrinde. Dem Colliculi inferiores folgte der weiter innen liegende auditorische Thalamus, der im Alter von 30 Tagen eine „erwachsene“ Reaktion auf den abweichenden Ton zeigte. Die Entwicklung im sogenannten primären auditorischen Cortex in der Hirnrinde dauerte sogar bis zum 50. Lebenstag.

„Dieses Heranwachsen der Überraschungsreaktion beginnt also in der Peripherie und endet in der Hirnrinde“, erklärt Seniorautorin Tania Barkat von der Universität Basel. Die Hirnrinde reife somit deutlich später aus als vermutet. In Menschenjahren entspräche der Zeitpunkt ungefähr einem Alter von gut 20 Jahren. „Unsere Ergebnisse können wahrscheinlich auf den Menschen übertragen werden, da die Reifung unserer Hörfähigkeiten weitgehend mit der bei Mäusen übereinstimmt“, schreiben die Neurowissenschaftler.

Übung macht den Meister

Um herauszufinden, wie viel Training das Gehirn für diese Entwicklung braucht, zogen die Forschenden in einem Folgeexperiment auch Mäuse in einer geräuschneutralen Umgebung auf. Wenn den Tieren dann die Tonfolgen präsentiert wurden, entwickelte sich die Verarbeitung unerwarteter Töne in ihrem auditorischen Cortex in der Hirnrinde stark verzögert, berichten Valerio und ihre Kollegen. Im auditorischen Thalamus und in den äußeren Schichten der Hirnrinde, wo das Geräuschsignal nach vorhergehenden Verarbeitungsschritten ankommt, lief die Entwicklung jedoch genauso schnell ab wie in den Vorversuchen.

Das Team schließt daraus, dass für diese letzte Entwicklungsstufe in der Hirnrinde Erfahrungen eine wesentliche Rolle spielen, anhand derer sich das Gehirn beim Heranwachsen ein Bild der Welt macht. „Ohne Erfahrungen mit Geräuschen kann die Hirnrinde dieser Mäuse jedoch kein solches Modell der Welt entwickeln“, so Barkat. Entsprechend funktioniert die Einordnung von zuvor unbekannten äußeren Reizen wie Tönen in „bekannt“ und „unerwartet“ dann nicht richtig. (Science Advances, 2024; doi: 10.1126/sciadv.adi7624)

Quelle: Universität Basel

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