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Archäologie

Wie alt ist das Küssen?

4.500 Jahre alte Zeugnisse aus Mesopotamien legen frühen und verbreiteten Ursprung des erotischen Küssens nahe

Kuss unter Liebenden
Bis zu 4.500 Jahre alte Keilschrifttexte und Abbildungen aus Mesopotamien liefern die ältesten bekannten Zeugnisse des Küssens unter Liebenden. © The Trustees of the British Museum

Inniger Kontakt: Das erotische Küssen hat wahrscheinlich ältere Wurzeln als bisher angenommen. Denn schon vor rund 4.500 Jahren war das Küssen unter Liebenden in Mesopotamien gängig, wie Forschende anhand von Keilschrifttexten und Reliefs belegen. Dies verschiebt das früheste Zeugnis des erotischen Kusses um rund 1.000 Jahre in die Vergangenheit und liefert Hinweise darauf, wann und wo Menschen das erotische Küssen erstmals praktizierten – und wie universell diese Sitte ist.

Kuss ist nicht gleich Kuss: Wir geben Freunden und Verwandten einen Kuss auf die Wange, um unsere Zuneigung auszudrücken. Eher als Unterwerfungsgeste küssten dagegen früher Untertanen ihren Herrschern die Füße oder Gläubige den Ring eines Bischofs. Demgegenüber steht der romantisch-erotische Kuss auf die Lippen, den Liebende austauschen und der Intimität und Begehren vermittelt.

Universell oder kulturell bedingt?

Doch wann „erfand“ der Mensch das Küssen? „Während freundschaftlich-elterliche Küsse unter Menschen schon zu allen Zeiten und in allen Regionen verbreitet waren, ist das romantisch-sexuelle Küssen nicht universell – es kommt nicht in allen Kulturen vor“, erklären Troels Pank Arbøll von der Universität Kopenhagen und Sophie Lund Rasmussen von der University of Oxford. Einer Studie von 2015 zufolge 91 von 168 Kulturen „kussabstinent“, darunter viele Amazonasvölker und Kulturen in Afrika.

Deshalb ist bisher strittig, ob der Kuss unter Liebenden schon bei unseren frühen Vorfahren üblich war oder ob er eine „Erfindung“ erst fortgeschrittener, komplexerer Gesellschaften ist. Auch ob das erotische Küssen auf einen Ursprung zurückgeht oder sich vielmals unabhängig entwickelt hat, ist unklar. Als das älteste eindeutige Zeugnis eines solchen Kusses galt bisher ein 3.500 Jahre alter Text aus dem bronzezeitlichen Indien.

Kuss
Dieses 3.800 Jahre alte Relief aus Mesopotamien zeigt einen eindeutig erotisch-sexuellen Kuss. © The Trustees of the British Museum

Erotisches Küssen schon vor 4.500 Jahren

Jetzt jedoch liefern Arbøll und Rasmussen Belege dafür, dass der Kuss unter Liebenden schon tausend Jahre früher praktiziert, beschrieben und abgebildet wurde – im alten Mesopotamien. Belege dafür liefern unter anderem eine 3.800 Jahre alte Tontafel, auf der ein Paar beim Küssen und Sex abgebildet ist, aber auch zahlreiche bis zu 4.500 Jahre alte Keilschrifttexte. „Keilschrifttafeln enthalten klare Belege dafür, dass das Küssen damals als Bestandteil von Erotik und Intimität angesehen wurde“, sagt Arbøll.

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Die Texte beschreiben das Küssen als etwas, das verheiratete Paare praktizieren, aber auch Liebende vor der Hochzeit. Und der erotische Kuss kann durchaus für Konflikte sorgen: Ein Text beschreibt, dass eine verheiratete Frau durch den Kuss eines anderen Mannes fast auf „Abwege“ geraten wäre. Ein anderer Text berichtet von einer Frau, die schwor, nie wieder Küsse und andere sexuelle Akte mit einem bestimmten Mann zu begehen.

„Die damalige Gesellschaft versucht offenbar, solche Aktivität zwischen Unverheirateten oder Ehebrechern zu regulieren“, erklären die Forschenden. „Der sexuelle Aspekt des Küssens war etwas, das in der Öffentlichkeit eher Anstoß erweckte.“

„Fundamentales Verhalten des Menschen“

Nach Ansicht von Arbøll und Rasmussen liefern diese archäologischen Zeugnisse den Beleg dafür, dass das erotische Küssen schon deutlich früher verbreitet war als angenommen – und dass es wahrscheinlich nicht nur einen geografischen Ursprung hat. „Küssen sollte nicht als Sitte angesehen werden, die in einer einzigen Region entstanden ist und sich von dort aus ausbreitete“, sagt Arbøll. „Stattdessen wurde dies von vielen alten Kulturen und über mehrere Jahrtausende hinweg verteilt praktiziert.“

Die Forschenden vertreten daher die Meinung, dass wahrscheinlich schon unsere frühesten Vorfahren ihre Liebe durch innige Küsse ausdrückten. Sogar sexuell aktive Bonobos wurden schon bei Mund-zu-Mund-Küssen beobachtet, wie das Team erklärt. „Dies könnte auch erklären, warum das romantische Küssen in vielen sehr verschiedenen Kulturen zu finden ist – es ist ein für den Menschen fundamentales Verhalten“, sagt Rasmussen.

Mit dem Küssen kam der Lippenherpes

Dies wirft auch neues Licht auf einen eher unliebsamen Nebeneffekt des Küssens: die Übertragung von Krankheitserregern. Immerhin tauschen wir bei einem Kuss im Schnitt rund 80 Millionen Bakterien und noch mehr Viren mit unserem Gegenüber aus, wie ein Kuss-Experiment ergeben hat. „Der Akt des Küssens könnte daher eine zweite, unabsichtliche Rolle in der Geschichte gespielt haben, indem er die orale Übertragung von potenziell krankheitsverursachenden Mikroorganismen erleichterte“, so die Wissenschaftler.

Indizien dafür könnte unter anderem eine Studie vom Juli 2022 gefunden haben. Denn ihr zufolge traten der Herpes-simplex-Virus 1 (HSV-1) genau dann im bronzezeitlichen Europa vermehrt auf, als die damals einwandernden Steppennomaden neue Bräuche und Kulturtechniken mitbrachten – und möglicherweise auch die Sitte des erotischen Kusses. Dies könnte dann der Ausbreitung des Lippenherpes den Weg gebahnt haben.

Lippenbläschen auch schon in Mesopotamien

Tatsächlich finden sich auch in mesopotamischen Keilschrifttafeln Hinweise auf einen Zusammenhang von Küssen und Lippenherpes: „Es gibt einen substanziellen Korpus medizinischer Texte aus Mesopotamien, in denen eine Krankheit mit Symptomen ähnlich denen einer Infektion mit Herpes-simplex-1 beschrieben wird“, sagt Arbøll. „Diese als Bu’shanu bezeichnete Krankheit zeigte sich primär in und an Mund und Rachen. Als Symptome werden unter anderem Bläschen im Mundbereich beschrieben, die eines der vorherrschenden Anzeichen für einen Lippenherpes sind.“

Wenn das Küssen in frühen Kulturen tatsächlich weiter verbreitet war als lange angenommen, dann spielte es vermutlich auch schon von Beginn an eine wichtige Rolle für die Krankheitsübertragung. „Der Effekt des Küssens in Bezug auf die Übertragung von Erregern könnte demnach mehr oder weniger konstant präsent gewesen sein“, so Rasmussen. (Science, 2023; doi: 10.1126/science.adf0512)

Quelle: University of Copenhagen

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