Wenn in den Haarsinneszellen unseres Ohrs ein Protein fehlt, bekommen die Synapsen der Hörzellen ein Nachschubproblem: Bläschen mit dem von ihnen dringend benötigtem Botenstoff kommen nicht rechtzeitig an. Genau dieser Mechanismus führt, wie Forscher jetzt in „Nature Neuroscience“ berichten, zu einer bestimmten Form der Schwerhörigkeit: der so genannten Hörermüdung.
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„Nicht Sehen können trennt von den Dingen, nicht Hören von den Menschen“ – so beschrieb Immanuel Kant die Folgen der Taubheit. Weltweit beschäftigen sich Hörforscher mit der Frage, wie wir hören, wie Schwerhörigkeit entsteht und wie Schwerhörigen geholfen kann. Bei einigen neuralen Erkrankungen kann unser Hörsinn im Laufe von kurzer Zeit „ermüden“. „Dabei nimmt das Hörvermögen während des Zuhörens stark ab“, erklärt Professor Tobias Moser, Leiter des Innenohr-Labors an der Universitätsmedizin Göttingen. „Das Phänomen ist grob vergleichbar mit dem verschlechterten Verstehen beim Entfernen aus dem Mobilfunknetz. Der Empfang wird zunehmend schlechter“.
Aber warum? Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen und der Göttinger Max-Planck-Institute für experimentelle Medizin und biophysikalische Chemie haben jetzt herausgefunden, woran dies liegt.
Hunderte von Botenstoffbläschen in der Sekunde
Wenn wir hören, werden an jeder Haarzellsynapse in jeder Sekunde unermüdlich hunderte mit dem
Botenstoff Glutamat beladene Botenstoffbläschen freigesetzt. Dies geschieht je nach Hörsituation über mehrere Stunden hinweg. Mit dieser enormen Leistungsfähigkeit überbietet die Haarzellsynapse des Hörorgans die meisten anderen Synapsen des Körpers. Auch die strukturell ähnlichen und für das Sehen wichtigen Synapsen der Netzhaut liefern Botenstoffbläschen nur um etwa einen Faktor zehn langsamer nach. Woran liegt das?
Protein bringt Botenstoffbläschen auf Trab
Eine Ursache haben die Göttinger Wissenschaftler nun mit dem Protein „Otoferlin“ identifiziert. Das Eiweiß ist offenbar eine Komponente der Haarzellsynapse, die für deren Leistungsfähigkeit wichtig ist. Fehlte Mäusen im Versuch das Otoferlin oder wurde in nur ungenügender Menge erzeugt, waren die Tiere schwerhörig. „Interessanterweise war an den untersuchten Haarzellsynapsen der Schwerhörigkeits-Mäuse die Nachlieferung von Botenstoffbläschen immer noch dreimal schneller als an Synapsen der Netzhaut. Und dies, obwohl bei den schwerhörigen Mäusen die Otoferlinfunktion teilweise versagt“, so Moser.
Zu langsamer Nachschub
Die Wissenschaftler konnten mit mehreren Methoden nachweisen, dass die untersuchten Mäuse eine sehr ausgeprägte „Hörermüdung“ haben. Im normalen Hörorgan setzen die Haarsinneszellen an ihren Synapsen auch in Ruhe ständig Botenstoff frei. Schallsignale modulieren dann diese Aktivität und steigern sie weiter. Wenn die Nachlieferung von Botenstoffbläschen jedoch gestört ist, „verarmen“ die Synapsen an Botenstoffbläschen. Sie können nicht mehr auf Schallsignale reagieren. Diese Verarmung erklärt auf völlig neue Weise das Phänomen der Hörermüdung.
(Universitätsmedizin Göttingen, 22.06.2010 – NPO)