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Neurobiologie

Lesen krempelt unser Gehirn um

Das Lesenlernen verändert selbst evolutionär alte Hirnareale

Das Lesenlernen verändert unser Gehirn überraschend tiefgreifend © iStock.com

Tiefgreifende Umstrukturierung: Wenn wir lesen lernen, verändert dies unser Gehirn auf überraschend fundamentale Weise. Denn nicht nur die Sprach- und Sehzentren im Cortex wandeln sich dadurch, auch evolutionär alte Hirnareale wie der Hirnstamm und der Thalamus sind beteiligt. Die komplexe Aufgabe des Lesenlernens hinterlässt damit tiefgreifende und dauerhafte Spuren in unserem Gehirn, wie Forscher im Fachmagazin „Science Advances“ berichten.

Das Lesen ist eine der größten Errungenschaften der menschlichen Kultur – und eine mentale Herausforderung. Der Mensch benötigt meist Monate, manchmal Jahre des Übens, um lesen zu lernen. Ein möglicher Grund: Weil die Schrift erst vor wenigen tausend Jahren erfunden wurde, hat unser Gehirn noch keine Zeit gehabt, ein eigenes Lesezentrum zu entwickeln. Stattdessen muss es andere Hirnareale umfunktionieren.

Blick ins Gehirn beim Lesenlernen

Was sich jedoch beim Lesenlernen im Gehirn verändert, war bisher nur in Ansätzen bekannt. „Bisher ging man davon aus, dass sich diese Veränderungen lediglich auf die äußere Großhirnrinde beschränken“, berichtet Studienleiter Falk Huettig vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen. So werden unter anderem Hirnareale für die Gesichtserkennung zur Erkennung der Buchstaben genutzt und es bilden sich Schnittstellen zwischen Seh- und Sprachzentrum.

Doch was darüber hinaus im Gehirn geschieht, haben Huettig und seine Kollegen erst jetzt aufgeklärt. Für ihre Studie brachten sie 21 indischen Analphabetinnen sechs Monate lang das Lesen und Schreiben bei. Vor, während und nach dieser Phase untersuchten die Forscher ihre Ruhe-Hirnaktivität mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanz-Tomografie (fMRT).

Wandel selbst im „Reptilienhirn“

Das erstaunliche Ergebnis: Das Lesenlernen verändert keineswegs nur die Funktion der Großhirnrinde wie bisher angenommen. Stattdessen werden durch diesen Lernprozess Umstrukturierungen in Gang gesetzt, die bis in den Thalamus und den Hirnstamm hineinreichen – und damit in evolutionär sehr alte Hirnteile.

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Zusammenwirken verschiedener Hirnareale der rechten Hirnhälfte beim Lesen © MPI CBS

Unser Gehirn ist demnach auch im Erwachsenenalter noch zu massiven funktionellen Umstrukturierungen fähig. Der Aufgabe des Lesenlernens hinterlässt ihre Spuren nicht nur im flexiblen Neocortex, sondern auch in den Hirnteilen, die wir mit den Reptilien teilen. „Das erwachsene Gehirn stellt hier seine Formbarkeit eindrucksvoll unter Beweis“, sagt Huettig.

Synchrones Feuern hilft beim Lesen

Wie die Forscher beobachteten, passen bestimmte Areale im Hirnstamm und im Thalamus ihre Aktivitätsmuster im Laufe der Zeit enger an die Feuerrate der Sehzentren in der Großhirnrinde an. Sie übernehmen damit offenbar Assistenzaufgaben beim Entziffern der Schrift. Je synchroner diese Hirnareale zusammenarbeiteten, desto besser konnten die Probandinnen am Ende lesen.

„Die Thalamus- und Hirnstammkerne helfen unserer Sehrinde dabei, wichtige Informationen aus der Flut von visuellen Reizen herauszufiltern noch bevor wir überhaupt bewusst etwas wahrnehmen“, erklärt Erstautor Michael Skeide vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.

Er vermutet, dass die Areale am Hirnstamm zudem die Augenbewegungen koordinieren helfen, mit denen wir die Buchstaben fixieren. „Auf diese Weise können geübte Leser vermutlich effizienter durch Texte navigieren“, so Skeide.

Hinweise auf Ursachen der Legasthenie?

Die Studie könnte auch ein neues Licht auf die Lese-Rechtschreib-Schwäche werfen. Denn bisher können Forscher nur darüber spekulieren, warum manche Kinder eine Legasthenie entwickeln und was dabei im Gehirn geschieht. Bekannt ist, dass das Gehirn der Betroffenen sich weniger gut an bereits bekannte visuelle und akustische Reize anpasst. Außerdem weiß man, dass es eine genetische Komponente gibt.

Forscher vermuten zudem, dass auch eine angeborene Fehlfunktion im Thalamus eine Rolle spielen könnte. Angesichts der jetzt festgestellten Plastizität dieser Areale bezweifeln Skeide und seine Kollegen dies jedoch. „Da wir nun wissen, dass sich der Thalamus bereits nach wenigen Monaten Lesetrainings so grundlegend verändern kann, muss diese Hypothese neu hinterfragt werden“, so Skeide. Mehr dazu wollen sie nun in einer mehrjährigen Studie herausfinden. (Science Advances, 2017; doi: 10.1126/sciadv.1602612)

(Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, 26.05.2017 – NPO)

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