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Archäologie

Kinderkrakel in mittelalterlichem Lehrbuch entdeckt

Forscher lösen Rätsel um ungewöhnliche Figuren auf dem Manuskriptrand

Eine menschenähnliche Figur und ein Pferd oder eine Kuh - eine der Randfiguren im mittelalterlichen Manuskript © Kislak Center for Special Collections, Rare Books and Manuscripts, University of Pennsylvania Libraries folio 26r

Mysteriöse Figuren: In einem astronomisch-religiösen Lehrbuch des Mittelalters haben Forscher ungewöhnliche Randfiguren entdeckt. Denn bei näherer Analyse entpuppten sich diese Figuren als Krakeleien von Kindern. Das Seltsame daran: Das Manuskript war im 14. Jahrhundert Teil einer Klosterbibliothek – und Kinder hatten dort keinen Zutritt. Die Verzierungen von Kinderhand sprechen daher dafür, dass dieses Buch irgendwann aus dem Kloster nach draußen gelangte.

Das Deckblatt des mittelalterlichen Lehrbuchs LSJ 361 verrät, dass dieses lateinische Manuskript 1327 von einem Dominikanermönch in Neapel geschrieben wurde. Es enthält astronomische und astrologische Tabellen, sowie dominikanische Predigten und Bibelkommentare. Doch am Rand einiger Seiten dieses Manuskripts entdeckte Deborah Thorpe von der University of York etwas Seltsames:

Mensch, Kuh, Teufel

„Ich schaute mir die Seiten in einer Online-Datenbank mittelalterlicher Manuskripte an und entdeckte bei einigen wunderschöne Krakeleien am Rand“, berichtet die Forscherin. Eine der Zeichnungen stellte ein Pferd oder eine Kuh zusammen mit einer menschlichen Gestalt dar, die beiden anderen waren Figuren mit gehörnten Köpfen – ähnlich einer Teufelsfigur.

Prinzipiell sind Randnotizen und krude Skizzen auf den Rändern alter Manuskripte nichts Ungewöhnliches. Sie stammen oft von den Mönchen, die vor der Erfindung des Buchdrucks diese Bücher mühselig abschrieben. „Tatsächlich waren die eifrigsten Krakler in mittelalterlichen Büchern Erwachsene „, sagt Thorpe. Manchmal illustrieren und kommentieren diese Randskizzen den Text, genauso oft aber scheinen sie willkürlich auf den Seiten aufzutauchen.

Charakteristische Merkmale von Kinderzeichnungen

Doch die Randfiguren im Lehrbuch aus Neapel waren im Stil her ganz anders als die bereits bekannten. „Für mich sahen sie aus, als wenn Kinder sie gemalt hätten“, erklärt Thorpe. Aber stimmte das auch? Um ganz sicher zu gehen, holte sich die Forscherin Kinderpsychologen zu Hilfe.

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Strichbeine, kein Rumpf und ein großer eckiger Kopf - typische Merkmale von Kinderzeichnungen. © Kislak Center for Special Collections, Rare Books and Manuscripts, University of Pennsylvania Libraries folio 23r

Kinder nutzen je nach Alter und Entwicklungsstand bestimmte Formen und Perspektiven, die sich von den typischen Motiven Erwachsener unterscheiden – und genau diese Merkmale fanden die Forscherinnen auch in den Randfiguren des mittelalterlichen Lehrbuchs wieder. „Für Kinder als Autoren sprechen beispielsweise die langgezogenen Formen, die überlangen Strichbeine, der Fokus auf den Kopf und das komplette Fehlen des Rumpfs“, erklärt Thorpe.

Typisch für Fünf- bis Sechsjährige

Die genaue Analyse ergab, dass die Randfiguren von fünf bis sechsjährigen Kindern stammen müssen und noch dazu von mindestens zwei verschiedenen. „Die zögerlichen, gezackten Linien der ersten Figur kontrastieren beispielsweise mit den glatten Umrissen des daneben gezeichneten Tieres – das spricht für verschiedene Künstler“, so die Forscherin.

Damit jedoch erweisen sich diese Krakeleien als historisch spannender Fund. „Es gibt zwar spätere Beispiele für Kinderzeichnungen, aber dies ist das erste Mal, dass man solche Kinderkrakeleien in einem mittelalterlichen Buch identifiziert hat“, sagt Thorpe. „Sie geben uns einen einzigartigen Einblick in die geistige Entwicklung von Kindern aus prämoderner Zeit.“

Ausgeliehen oder verkauft

Aber wie war dieses Manuskript aus Klosterbibliothek in die Hände von Kindern gelangt? Schließlich waren solche Orte im Mittelalter nur den Mönchen und Priestern vorbehalten – weder Frauen noch kleine Kinder hatten hier Zutritt. Allerdings: „Wir wissen, dass einige Bücher die dominikanischen Klöster verließen und verliehen wurden“, erklärt Thorpe. Auch in Manuskript LJS 361 gibt es dafür Anzeichen: Im hinteren Einband vermerkt ein Eintrag, dass das Buch an den dominikanischen Mönch Umilis von Gubbio gegen Zahlung eines Pfands von einem Florin ausgeliehen wurde.

„Es ist gut möglich, dass dieser Mönch das geborgte Buch nie zurückgab oder dass er oder der Bibliothekar dieses Buch weiterverkaufte“, sagt die Forscherin. Einen Hinweis darauf gibt auch der herausgekratzte Name des Schreibers im vorderen Einband. Dies wurde damals immer dann gemacht, wenn ein Buch aus Klosterbesitz in andere Hände geriet. Irgendwann muss das Lehrbuch dann auch in Kinderhände geraten sein.

„Ob sie damals darin herumkrakeln durften oder nicht, wissen wir nicht“, so Thorpe. „Aber die Existenz dieser Kinderzeichnungen in diesem Manuskript fügt diesem eine faszinierende menschliche Ebene hinzu.“ (Cogent Arts & Humanities, 2016; doi: 10.1080/23311983.2016.1196864)

(University of York, 27.07.2016 – NPO)

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