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Zoologie

Ein Orang-Utan als Heilkundiger

Menschenaffe behandelt Wunde mit schmerzlindernder Liane

Foto des männlichen Orang-Utans namens Rakus mit einer Wunde im Gesicht
Foto des männlichen Orang-Utans namens Rakus mit einer Wunde im Gesicht, zwei Tage bevor er diese behandelte. © Armas / Suaq Project

Tierisches Heilwissen: Einige Pflanzen enthalten Substanzen, die die Wundheilung fördern. Das wissen offenbar auch Menschenaffen, wie der Fall eines wilden Orang-Utans aus Sumatra nun nahelegt. Der Affe behandelte eine Wunde in seinem Gesicht erfolgreich mit zerkauten Blättern der Kletterpflanze Akar Kuning, wie Biologen berichten. Es ist das erste Mal, dass ein Wildtier dabei beobachtet wurde, wie es eine frische Wunde mit einer Heilpflanze verarztete.

Immer Mal wieder beobachten Wissenschaftler Wildtiere, die Pflanzen oder Tiere mit medizinischen Eigenschaften fressen, kauen oder auf Haut und Fell reiben. Unter den Primaten sind dies beispielsweise Schimpansen, Bonobos, Gorillas, Gibbons und Orang-Utans. Sie wehren damit aktiv oder präventiv Parasiten, Infektionen oder andere Krankheiten ab, wie aus früheren Studien hervorgeht. Schimpansen in Gabun nutzen möglicherweise sogar Insekten, um Wunden zu verarzten. Deren Wirkung ist jedoch bislang nicht klar belegt.

Bilder der Pflanzenblätter und von dem Orang-Utan beim Fressen
Links: Die Blätter der Pflanze Akar Kuning (Fibraurea tinctoria) sind etwa 15 bis 17 Zentimeter lang. Rechts: Rakus beim Fressen dieser Blätter, am Tag nachdem er seine Wunde mit dieser Liane behandelt hatte. © Saidi Agam / Suaq Project

Orang-Utan behandelt verletzte Wange mit Pflanzensaft

Nun hat ein Forschungsteam um Isabelle Laumer vom Max-Planck-Institut (MPI) für Verhaltensbiologie in Konstanz erstmals ein wildlebendes Tier beobachtet, dass eine nachweislich heilsame Pflanze zur Behandlung einer frischen Wunde nutzte. Im Juni 2022 beobachteten die Biologen, wie ein männlicher Orang-Utan (Pongo abelii) im Gunung-Leuser-Nationalpark auf Sumatra in Indonesien auf Blättern und Ästen der Kletterpflanze Akar Kuning (Fibraurea tinctoria) kaute – eine von Orang-Utans nur sehr selten verzehrte Pflanze.

Die beim Herumkauen auf der Heilpflanze produzierte Flüssigkeit trug der Rakus getaufte Menschenaffe wiederholt mit den Fingern auf eine drei Tage alte Wunde auf seiner rechten Wange auf. Insgesamt sieben Minuten lang rieb der Orang-Utan seine Wunde mit dem Pflanzensaft ein, wie das Team beobachtete. Anschließend bedeckte er die Wunde mit dem zerkauten Pflanzengewebe und fraß für eine weitere halbe Stunde Blätter der Liane. Am Tag danach fraß er ebenfalls für zwei Minuten Blätter der Pflanze, jedoch an keinem der weiteren Tage.

Foto des männlichen Orang-Utans namens Rakus mit verheilter Wunde
Foto von Rakus, zwei Monate nachdem er das Pflanzenprodukt auf seine Wunde aufgetragen hatte. Die Wunde ist gut verheilt und kaum noch sichtbar. © Safruddin

Pflanzenprodukt beschleunigt Wundheilung

Der Effekt dieser Wundbehandlung zeigte sich an den Folgetagen: Die Biologen beobachteten, dass sich die Wunde nicht infizierte, sondern gut heilte. Auch die sonst häufige Ansammlung von Fliegen an der verletzten Stelle blieb aus. Innerhalb von fünf Tagen war die Wunde verschlossen und innerhalb eines Monats komplett abgeheilt, wie Laumer und ihr Team berichten.

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Aus früheren Studien ist bekannt, dass Akar Kuning aufgrund verschiedener Inhaltsstoffe medizinische Eigenschaften besitzt. Die Kletterpflanze wirkt gegen Entzündungen, Fieber und Schmerzen sowie gegen Infektionen durch Bakterien oder Pilze. Die Liane wird daher in der traditionellen asiatischen Medizin zur Wundheilung und gegen Krankheiten wie Ruhr, Diabetes und Malaria eingesetzt.

Laumer und ihre Kollegen schließen aus Rakus Verhalten, dass der Orang-Utan seine Wunde – die er sich wahrscheinlich beim Kampf mit einem Rivalen zugezogen hatte – gezielt und absichtlich mit der „Kräutersalbe“ verarztet hatte. Der Pflanzensaft und die zerkauten Blätter könnten seine Schmerzen gelindert und die Wundheilung beschleunigt haben, vermutet das Team. Möglicherweise haben sie auch die Fliegen ferngehalten. „Interessanterweise ruhte Rakus auch mehr als sonst, als er verletzt war“, sagt Laumer. „Schlaf wirkt sich positiv auf die Wundheilung aus.“

Woher wusste der Affe von der Wirkung der Pflanze?

Für die Forschenden ist es der erste und einzige beobachtete Fall in Indonesien, bei dem ein Orang-Utan Akar Kuning zur Wundbehandlung verwendet hat. Das könnte jedoch daran liegen, dass verletzte Tiere in diesem Teil Sumatras insgesamt nur selten gesichtet werden. Ob Rakus die Pflanze zum ersten Mal zur Behandlung einer Wunde verwendet hat oder das Verhalten zuvor bei einem Artgenossen abgeschaut hatte, ist daher unklar.

„Es ist möglich, dass die Wundbehandlung mit Fibraurea tinctoria bei den Orang-Utans in Suaq durch individuelle Innovation entsteht“, sagt Seniorautorin Caroline Schuppli vom MPI für Verhaltensbiologie. „Es könnte vorkommen, dass Individuen beim Fressen versehentlich und unbeabsichtigt den Pflanzensaft auf ihre Wunden auftragen.“ Die dadurch verspürte sofortige Schmerzlinderung könnte sie dann dazu veranlassen, dieses Verhalten zu wiederholen.

Auch Menschenaffen verfügen über Heilwissen

Die Beobachtung legt nach Ansicht der Biologen nahe, dass bereits gemeinsame Vorfahren der Menschenaffen und Menschen Heilpflanzen genutzt haben könnten. Demnach verfügen auch Affen seit Langem über medizinisches Heilwissen. „Die Studie liefert neue Einblicke in die Existenz der Selbstmedikation bei unseren nächsten Verwandten und in die evolutionären Ursprünge der Wundmedikation im weiteren Sinne“, schreiben Laumer und ihre Kollegen.

Die ältesten Berichte über Menschen, die Wunden reinigten, salbten und verbanden, sind rund 4.200 Jahre alt. „Es ist möglich, dass es einen gemeinsamen zugrunde liegenden Mechanismus für die Erkennung und Anwendung von Substanzen mit medizinischen oder funktionellen Eigenschaften auf Wunden gibt und dass unser letzter gemeinsamer Vorfahre bereits ähnliche Verhaltensformen zeigte“, so das Team. (Scientific Reports, 2024; doi: 10.1038/s41598-024-58988-7)

Quelle: Max-Planck-Gesellschaft

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