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Physik

Superatomischer Halbleiter bricht Tempolimit

Neuartiges Material erlaubt erstmals "ballistischen" Ladungstransport im Halbleiter

Prozessor
Ein neuartiges Halbleiter-Material transportiert Ladungen weit schneller als Silizium und Co. © Panuwat Sikham/ Getty images

Physikalische Grenze geknackt: Chemiker haben den schnellsten und effizientesten Halbleiter der Welt konstruiert – ein Material, das das bisherige Tempolimit beim Ladungstransport bricht. Möglich wird dies, weil dieser superatomische Halbleiter selbst bei Raumtemperatur wenig Gitterschwingungen zeigt und Ladungen in Form von speziellen Quasipartikeln transportiert. Diese neuartige Klasse von Halbleitern könnte Elektronik dadurch erheblich schneller und effizienter machen, wie das Team in „Science“ berichtet.

Halbleiter wie Silizium, Germanium oder Perowskite sind die Grundbausteine fast aller Elektronik. Typisch für sie ist eine Bandlücke, durch die Elektronen oder positive „Löcher“ im Kristallgitter erst bei Energiezufuhr mobil werden und Strom leiten. Dieser kontrollierbare Ladungstransport macht Halbleiter zur Basis von Transistoren, Halbleiterlasern, Solarzellen, Leuchtdioden und Co.

Silizium-Wafer
In gängigen Halbleitern, wie hier diesen Silizium-Wafern, ist die Geschwindigkeit des Ladungstransport durch Gitterschwingungen begrenzt. © Kynny/ Getty images

Doch bei gängigen Halbleitern gibt es ein „Tempolimit“ für den Ladungstransport: „Bei Raumtemperatur werden die Ladungsträger durch Gitterschwingungen schon innerhalb weniger Nanometer und Femtosekunden gestreut“, erklären Jack Tulyagankhodjae von der Columbia University in New York und seine Kollegen. Als Folge der Gitterschwingungen entstehen sogenannte Phononen, Quasiteilchen, die die Elektronen oder Löcher ablenken, ihre Energie absorbieren und den Halbleiter warm werden lassen.

Gitter aus „Superatomen“

Eine Lösung für dieses Problem haben nun Tulyagankhodjae und sein Team durch Zufall entdeckt. Um die Auflösung eines neuen, zur Abbildung von Teilchenbewegungen in Feststoffen ausgelegten Mikroskops zu testen, untersuchten sie ein gerade erst im Labor synthetisiertes superatomisches Material. Diese bestehen aus Gruppen von Atomen, die eng miteinander verbunden sind und sich daher im Verbund mit anderen Komponenten wie ein einziges großes Atom verhalten.

In diesem Fall handelte es sich um das Material Re6Se8Cl2 – eine Verbindung aus sechs oktaederförmig miteinander verknüpften Rheniumatomen, die von einem Würfel aus acht Selenatomen eingeschlossen werden. Jede dieser Rhenium-Selen-Einheiten ist mit zwei außen angelagerten Chloratomen verbunden. Zusammen bilden diese Einheiten ein flaches, quadratisches Gitter.

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Schneller als jedes andere Halbleiter-Material

Als Tulyagankhodjae und seine Kollegen dieses superatomische Material mit Licht anregten und die Ladungsbewegungen in ihm analysierten, entdeckten sie Überraschendes: „Es passierte das Gegenteil von dem, was wir erwartet hatten“, berichtet Seniorautor Milan Delor von der Columbia University. „Statt der erwarteten langsamen Bewegung sahen wir das Schnellste, was wir je gesehen hatten.“

Das superatomische Material erwies sich als Halbleiter, der Elektronen weit schneller transportierte als alle bisher bekannten Halbleitermaterialien. „In Bezug auf den Ladungstransport ist Re6Se8Cl2 der schnellste Halbleiter, den wir bisher kennen“, sagt Delor. Konkret bewegten sich die Elektronen im Material doppelt so schnell wie in Silizium oder Borarsenid und 23-mal so schnell wie Wolframselenid , wie das Team berichtet.

Hase und Igel
Analogie von Hase und Igel: Einzelne Elektronen verhalten sich in gängigen Halbleitern wie der hakenschlagende Hase, weil sie gestreut und abgelenkt werden. Durch Verbindung mit den Phononen zu schweren Polaronen entfällt die Ablenkung und sie bewegen sich langsamer, aber dafür direkter ans Ziel – und kommen so schneller an. © Jack Tulyag/ Columbia University

Prinzip von Hase und Igel

Das neue Material ist damit der erste Halbleiter, der bei Raumtemperatur einen quasi-ballistischen Fluss der Ladungen zeigt, wie die Forschenden erklären. Gemeint ist damit, dass die Elektronen und Löcher weitgehend ohne Streuung durch die sonst auftretenden Gitterschwingungen durch das Material fließen. Dies ermöglicht es ihnen, das sonst auftretende „Tempolimit“ zu überschreiten.

Möglich wird dies durch zwei Faktoren: Zum einen versteifen die Superatome das Kristallgitter dieses Halbleiters und hemmen damit die bei Anregung auftretenden Gitterschwingungen. Zum anderen kommt es zu einer Verbindung der Elektronen mit den vom Gitter erzeugten Phonon-Quasipartikeln. Dadurch entstehen neue Quasi-Partikel, Polaronen, die eher schwer und langsam sind. Was zunächst kontraproduktiv klingt, ist für den schnellen Ladungstransport entscheidend, wie das Team erklärt: Weil diese Ladungsträger anders als die einzelnen, leichteren Elektronen schwer zu streuen und abzulenken sind, ist ihr Transport deutlich schneller als der von Elektronen in normalen Halbleitern.

Tulyagankhodjae und seine Kollegen vergleichen dies mit der Fabel vom Hasen und dem Igel: Der Igel ist zwar langsamer, kommt aber durch diese Paarbildung mit den Phononen trotzdem schneller ans Ziel als der hakenschlagende Hase.

Chance auf schnellere und effizientere Elektronik

Materialien mit dieser Fähigkeit könnten elektronische Halbleiter-Bauteile in Zukunft deutlich effizienter und schneller machen. „Diesen wellenartigen, weitreichenden elektronischen Energiefluss in 2D-Materialien zu generalisieren, könnte eine Ära von nahezu verlustfreier Nanoelektronik einleiten“, konstatieren die Forschenden. Weil das Element Rhenium extrem selten und teuer ist, eignet sich ihr neuartiger Halbleiter allerdings nicht für eine Massenproduktion.

Aber ein solcher Ladungstransport mittels Polaronen könnte auch in anderen neuartigen Quantenmaterialien vorkommen: „Dies ist zwar bisher das einzige Material, in dem ein anhaltender ballistischer Ladungstransport bei Raumtemperatur beobachtet wurde. Aber wir können nun vorhersagen, welche anderen Materialien dieses Verhalten noch zeigen könnten“, sagt Delor. „Es gibt dort draußen eine ganze Familie von superatomischen und anderen 2D-Halbleitermaterialien, deren Eigenschaften für die Polaron-Bildung günstig sind.“

Das Team um Tulyagankhodjae plant nun, nach weiteren solcher superatomischen Halbleiter zu fahnden. (Science, 2023; doi: 10.1126/science.adf2698)

Quelle: Columbia University

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