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Neurobiologie

Leser überhören Wutausbrüche leichter

Visuelle Reize können die Wahrnehmung akustischer emotionaler Signale blockieren

Wutausbruch © SXC

Wenn der Partner mal wieder Ihren Wutausbruch komplett ignoriert, dann muss das keine böse Absicht sein: Psychologen haben festgestellt, dass visuelle Informationen – beispielsweise das Lesen einer Zeitung – die automatische Verarbeitung von akustischen, emotionalen Reizen durch das Gehirn blockieren. Während wütende Ausrufe eines anderen Menschen normalerweise sofort eine Alarmbereitschaft auslösen, geschieht dies bei optischer Ablenkung nicht, wie Experimente zeigten. Ist die Kapazitätsgrenze für die Verarbeitung von Reizen erreicht, haben visuelle Reize Priorität, so die Forscher in der Fachzeitschrift „Journal of Neuroscience“.

Eine gute Nachricht für alle Ehepaare: Wenn er mal wieder das Gesicht hinter der Zeitung verbirgt und sich in die Sportberichte vertieft, während sie sich mit ihm unterhalten möchte und er auch auf die dritte Frage von ihr – inzwischen in deutlich verärgertem Ton – noch immer nicht reagiert, dann ist das nicht etwa Desinteresse. „Der Mann kann die Frau in dieser Situation gar nicht hören“, sagt Thomas Straube von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. „Die Konzentration auf eine visuelle Aufgabe blockiert in diesem Augenblick die Aufnahme und Verarbeitung der auditiven Reize“, erläutert der Psychologe vom Lehrstuhl für Biologische und Klinische Psychologie.

Für ihre Studie spielten die Jenaer Psychologen Versuchspersonen verschiedene Begriffe vor, die entweder von einer wütenden oder einer neutralen Stimme gesprochen wurden. Gleichzeitig bekamen die Probanden auf einem Bildschirm zwei verschiedene Symbole angezeigt. Während sie so schnell wie möglich zu entscheiden hatten, ob sie eine männliche oder eine weibliche Stimme gehört haben und ob das gesehene Symbol ein Kreuz oder ein Kreis war, wurde die Gehirnaktivität der Versuchspersonen mittels Kernspintomographie aufgezeichnet.

Visuelle Aufgabe blockiert Reaktion auf Wut

„Es zeigte sich deutlich, dass eine wütende Stimme eine deutlich höhere Aktivierung der Gehirnregion zur Folge hat, die für die Verarbeitung emotionaler Reize zuständig ist“, sagt Mothes-Lasch. „Und zwar unabhängig davon, ob diese Stimme männlich oder weiblich ist.“ Offenbar habe die Stimmfärbung eine wichtige Signalwirkung. Zur Überraschung der Psychologen bleibt aber die Aktivierung dieser Gehirnregion komplett aus, wenn sich die Probanden beim Hören der Stimme auf die visuelle Aufgabe konzentrieren müssen. „Das hatten wir anders erwartet“, betont Straube.

„Bisher sind wir davon ausgegangen, dass soziale emotionale Reize – insbesondere Wut – vom Gehirn automatisch verarbeitet werden“, sagt Martin Mothes-Lasch aus Straubes Team. Schließlich könnten sie ein Hinweis auf eine potenzielle Gefahrenquelle sein, so der Erstautor der Studie weiter. Gefahren zu erkennen, gehöre zu den überlebensnotwendigen Fähigkeiten eines jeden Organismus. Auch der Mensch ist mit dieser Fähigkeit ausgestattet. „Spricht jemand in hörbar wütendem Tonfall zu uns, wird unser Gehirn in Alarmbereitschaft versetzt“, erläutert Mothes-Lasch. Das funktioniere allerdings nur, wenn wir nicht von visuellen Informationen abgelenkt sind.

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Offenbar, so schlussfolgert der Psychologe, stoße die automatische Verarbeitung emotionaler Reize ab einer bestimmten Menge zu verarbeitender Informationen an ihre Grenzen. „Ist diese Kapazitätsgrenze erreicht, haben die visuellen Reize Priorität.“ Gestressten Paaren bleibt also nur der Tipp, abzuwarten – bis der Partner die Zeitungslektüre beendet hat und wieder „ganz Ohr“ ist. (Journal of Neuroscience, 2011; DOI:10.1523/jneurosci.6665-10.2011).

(Universität Jena, 30.06.2011 – NPO)

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