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Meeresforschung

Polarstern erkundet frischen Eisabbruch

Erster Blick auf die Lebenswelt eines jahrtausendelang von Eis bedeckten Meeresgebiets

Brunt-Schelfeis
Zwischen dem frisch abgebrochenen Eisberg A74 und dem Rest des Brunt-Schelfeises klafft eine größer werfende Lücke. In sie hat sich nun die "Polarstern" hineingewagt, um die frisch vom Eis befreite Meereswelt zu erforschen. © Alfred-Wegener-Institut / Christian R. Rohleder, DWD

Einzigartige Chance: Das deutsche Forschungsschiff Polarstern ist dahin vorgedrungen, wo vor gut zwei Wochen ein gewaltiger Eisberg vom Brunt-Schelfeis abgebrochen ist – mitten in den sich weitenden Spalt im Eis. Dadurch können die Wissenschaftler an Bord nun einzigartige Einblicke in eine Lebenswelt bekommen, die bisher von hunderte Meter dickem Eis bedeckt war. Schon die ersten Aufnahmen und Daten vom Meeresgrund sorgten für Begeisterung.

Es war ein spektakuläres Ereignis: Nachdem sich ein Riss immer weiter durch das antarktische Brunt-Schelfeis gefressen hatte, brach am 26. Februar 2021 ein riesiger Eisberg ab. Das tafelförmige Stück von der halben Größe des Saarlandes erstreckt sich über 1.270 Quadratkilometer und driftet nun langsam vom Rest des Schelfeises weg. Ein Abbruch so großer Eisberge findet in der Antarktis nur etwa alle zehn Jahre statt – auch wenn dies mit dem Klimawandel zukünftig häufiger geschehen könnte.

Eisabbruch
TerraSAR-X Satellitenaufnahme der Polarstern im Spalt zwischen Brunt-Schelfeis und Eisberg. © TSX data/ DLR 2021

Wie reagiert die Meereswelt auf den abrupten Wandel?

Das Spannende daran: Durch solche Abbrüche werden plötzlich Meeresgebiete frei, die zuvor Jahrtausende lang vom hunderte Meter dicken Schelfeis bedeckt waren. Für die Organismen am Meeresgrund und im Wasser bedeutet dies, dass Dunkelheit und Isolation abrupt enden und erstmals wieder Sonnenlicht in ihren Lebensraum eindringt. Was diese Veränderungen in den marinen Ökosystemen auslösen und wie sich deren Bewohner anpassen, ist bisher kaum bekannt.

Doch jetzt ist die Chance dafür gekommen: Der deutsche Forschungseisbrecher Polarstern war zur Zeit des Eisabbruchs ohnehin im nahen Wedellmeer unterwegs. Damit konnte diese Expedition als einziges Team das Brunt-Schelfeis schon kurz nach dem Abbruch erreichen. „Es ist ein Glücksfall, dass wir flexibel reagieren und das Abbruchgeschehen am Brunt-Schelfeis aktuell so detailliert erforschen konnten“, sagt Expeditionsleiter Hartmut Hellmer vom Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI).

„Einmalige Gelegenheit“

Vor wenigen Tagen ist die Polarstern in den Spalt zwischen Brunt-Schelfeis und Eisberg gefahren und liegt nun direkt in dem sich vergrößernden Meeresgebiet, das frisch vom Eis freigelegt wurde. Dort können die Wissenschaftler nun die einzigartige Lebenswelt erforschen, die so lange unter dem Schelfeis lag. Sie erkunden den Meeresgrund und das offene Wasser mittels Kameras und untersuchen Wasser- und Sedimentproben.

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„Es ist eine einmalige Gelegenheit, die sich den Forschenden auf der Polarstern am antarktischen Eisschild bietet. Ich bin der Besatzung der Polarstern dankbar, dass sie die damit verbundenen Strapazen und auch Risiken auf sich nehmen“, sagte Bundesforschungsministerin Anja Karliczek anlässlich dieser spontanen Exkursion der Polarstern zum Eisabbruch.

Seeanemone
Eine rund zehn Zentimeter große Seeanemone am Grund des frisch vom Eis befreiten Meeresgebiets. © Alfred-Wegener-Institut / OFOBS-Team PS124

Überraschend artenreich

Schon die ersten Aufnahmen mithilfe des OFOBS (Ocean Floor Observation and Bathymetry System) enthüllten ein überraschend artenreiches Ökosystem am antarktischen Meeresgrund. Das Tiefsee-Forschungsteam beobachtete zahlreiche Tiere, die auf unterschiedlich großen Steinen festsitzen, umgeben von einer Schlammlandschaft. Die Steine stammen vom antarktischen Kontinent und werden von den Gletschern ins Meer transportiert.

Die meisten der am Grund des frisch vom Eis befreiten Meeresgebiets lebenden Organismen sind Filtrierer, wie die Forscher berichten. Ob sie sich jedoch weitgehend von Algenresten ernähren oder von organischen Partikeln, die mit dem Eis transportiert wurden, ist noch unklar. Entdeckt wurden auch einige mobile Arten wie Seegurken, Seesterne, verschiedene Weichtiere sowie mindestens fünf Fischarten und zwei Tintenfischarten.

Datenerfassung im Wedellmeer geht trotzdem weiter

Eigentlich war die Polarstern im Wedellmeer unterwegs, um die langfristige Erforschung dieses Gebiets und der Auswirkungen des Klimawandels auf die Schelfeise fortzusetzen. Hierzu führt das Alfred-Wegener-Institut bereits seit den 1980er Jahren regelmäßig Polarstern-Expeditionen ins antarktische Weddellmeer durch. Die spontane Expedition zum Brunt-Schelfeis bedeutet nun für die Wissenschaftler, dass sie improvisieren und umdisponieren müssen.

Vor ihrer Abfahrt zum Eisabbruch haben die Wissenschaftler ihre im Wedellmeer installierten Sensoren und Anlagen entsprechend angepasst: „Noch glücklicher bin ich, dass wir eine große Anzahl von Verankerungen erfolgreich ausgetauscht haben, die auch in unserer Abwesenheit elementare Daten von Temperatur, Salzgehalt, Strömungsrichtung und -geschwindigkeit aufzeichnen“, sagt Hellmer. „Sie bilden die Grundlage für unsere Modellrechnungen darüber, wie die Eisschilde auf einen Klimawandel reagieren werden.“

Bislang hat der Klimawandel vor allem die Westantarktis erwärmt, auf die Ostantarktis und somit das aktuelle Forschungsgebiet der Polarstern hat sich der globale Temperaturanstieg bislang weniger ausgewirkt. Klimamodelle prognostizieren jedoch, dass auch im östlichen antarktischen Weddellmeer die Lufttemperatur im Laufe dieses Jahrhunderts ansteigen wird, mit negativen Auswirkungen für das Meereis. 2020 wurden sogar am Südpol Wärmerekorde registriert.

Quelle: Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

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