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Ökologie

Erster Blick in die Welt nach dem Gletscherrückgang

Eisschmelze in Hochgebirgen und Arktis könnte neue Ökosysteme und Refugien schaffen

Geschmolzener Gletscher
Geschmolzene Gletscher werden zukünftig Raum für neue, eisfreie Ökosysteme bieten, wie hier im Mont-Blanc-Massiv. © Jean-Baptiste Bosson, Asters-CEN74

Zukunft ohne Eis: Der vom Klimawandel verursachte Gletscherrückgang wird in den nächsten Jahrzehnten große Gebiete eisfrei machen – und könnte Flächen bis zur Größe Finnlands freilegen, wie Forschende ermittelt haben. Dies könnte zu einer erheblichen Verschiebung von Ökosystemen führen und die Landschaften und Ökologie der Hochgebirge und des hohen Nordens massiv verändern – aber auch Chancen bieten.

Die Gletscher dieser Erde sind auf dem Rückzug und das schneller denn je. Wenn sie weiterhin hunderte Milliarden Tonnen Eis pro Jahr verlieren, könnte sich die heutige Gletscherfläche bis zum Jahr 2100 halbiert haben. Gleichzeitig heizt diese rasante Gletscherschmelze auch den Klimawandel weiter an, weil die abgetauten Flächen weniger Strahlung reflektieren als das Eis und teilweise große Mengen des Treibhausgases Methan freisetzen.

Blick in die Zukunft der Gletscher

Forschende um Jean-Baptiste Bosson vom Konservatorium für Naturräume im französischen Annecy haben nun erstmals untersucht, wie die Welt nach der Gletscherschmelze aussehen könnte. „Die Eismassen sind gut untersucht, weil sie Schlüsselindikatoren für die Klimaentwicklung sind“, erklären sie. „Aber unsers Wissens existiert bisher abgesehen von einzelnen Flächen oder Regionen keine globale, quantitative und systematische Analyse zur Ökologie der vom Gletscherrückzug freigelegten Flächen.“

Für diesen Blick in die Zukunft nutzten die Forschenden ein Computermodell der globalen Gletscherentwicklung, mit dem sie die Veränderungen aller außerhalb der großen Eiskappen Grönlands und der Antarktis liegende Gletschergebiete bis zum Jahr 2100 modellierten – diese heute noch eisbedeckten Flächen sind rund 650.000 Quadratkilometer groß. Anschließend untersuchten sie mithilfe eines weiteren Modells, welche Bedingungen auf den freigelegten Flächen herrschen und welche neuen Ökosysteme dort entstehen könnten.

Bosson und sein Team führten diese Modellrechnungen für verschiedene Klimaszenarien durch. Die Spanne reichte vom Erreichen der Netto-Null-Emissionen im Jahr 2050 bis zu einer Verdreifachung der Treibhausgas-Emissionen bis 2075.

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Neue Flächen von der Größe Nepals bis Finnlands

Das Ergebnis: Selbst wenn es uns gelingt, bis 2050 unterm Strich keine neuen Emissionen mehr in die Atmosphäre zu bringen, gehen die Gletscherflächen trotzdem um 22 Prozent zurück, wie die Forschenden auf Basis ihres Computermodells ermittelten. Es könnte aber noch deutlich schlimmer kommen, wenn sich die globalen Treibhausgas-Emissionen bis 2075 verdreifachen. In diesem Fall würde die Hälfte der aktuell 650.000 Quadratkilometer großen Gletscherfläche davonschmelzen, berichten Bosson und seine Kollegen.

Je nach Zukunftsszenario könnten bis Ende des Jahrhunderts demnach Gletschergebiete von der Größe Nepals oder sogar Finnlands gänzlich eisfrei werden. Besonders stark betroffen wären unter anderem Alaska und die asiatischen Hochgebirge.

Gletschersee
Auch Süßwasserökosysteme könnten an die Stelle heutiger Gletscherlandschaften treten. © Jean-Baptiste Bosson, Asters-CEN74

Platz für neue Ökosysteme

Doch wo Altes vergeht, gibt es auch Raum für Neues: Die Modellrechnungen ergaben ebenso, dass auf 78 Prozent der künftig eisfreien Flächen neue Landökosysteme entstehen werden, rund 14 Prozent werden zu Meeresgebieten und auf acht Prozent entstehen neue Süßwassersysteme. Bosson und sein Team erwarten, dass diese neuen Ökosysteme verschiedenste ökologische Bedingungen bieten werden, von extrem bis mild.

Gerade in Regionen, die auch nach der Gletscherschmelze kalt bleiben, könnten demnach verdrängte, kälteangepasste Arten eine neue Zuflucht finden. Dem Forschungsteam zufolge trifft das unter anderem auf den Pazifischen Lachs oder das alpine Insekt Lednia tumana zu. Andernorts wiederum könnten sich Arten der gemäßigten Breiten ansiedeln, die durch den Klimawandel aus ihren angestammten Regionen verdrängt wurden.

Pionierpflanzen
Pionierpflanzen wie diese werden nach der Gletscherschmelze als Erste die neu entstandenen Ökosysteme erobern. © Jean-Baptiste Bosson, Asters-CEN74

Gletschernachfolger sind Kohlenstoffsenken

Die Neubesiedlung ehemaliger Gletscherflächen könnte neben einigen bedrohten Arten auch dem Kampf gegen den Klimawandel zugutekommen. Denn Prozesse wie die Entstehung neuer Böden oder die Photosynthese-Aktivitäten neu gewachsener Wälder könnten dazu beitragen, atmosphärischen Kohlenstoff zu binden und so den Klimawandel abzuschwächen. „Wir haben berechnet, dass die Böden aller neu entstehenden Landgebiete zwischen 45 und 85 Millionen Tonnen Kohlenstoff speichern könnten. Das entspricht dem Kohlenstoff, der in 2.200 bis 10.600 Quadratkilometern tropischem Tieflandregenwald gespeichert ist“, so Bosson und sein Team.

Diese Zukunftsaussichten entbinden aber nicht von den Bemühungen, so viele Gletschergebiete wie möglich zu erhalten, betonen die Forschenden. Denn ihre Funktion sei für das Weltklima unersetzbar. (Nature, 2023; doi: 10.1038/s41586-023-06302-2

Quelle: Nature

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