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Medizin

Übergewichtige sind anders

Unterschiede zu Normalgewichtigen auch in Entscheidungsverhalten und Hirnstruktur

Übergewicht ist mit grundlegenden, geschlechtsspezifischen Änderungen der Hirnstruktur assoziiert. Bei Männern und Frauen treten die Veränderungen vor allem in Hirnregionen auf, die mit der Verarbeitung von Belohnungen (orbitofrontaler Kortex, ventrales Striatum) und der zentralen Steuerung der Energiebalance (Hypothalamus) beschäftigt sind (obere Reihe). Bei Frauen finden sich zusätzlich Veränderungen in Regionen, die wichtig für die Verhaltenskontrolle sind (dorsales Striatum, untere Reihe; dorsolateraler Präfrontalkortex,). © Horstmann et al.

Übergewichtige Menschen unterscheiden sich nicht nur durch ihre Figur, auch Verhalten und sogar Gehirnstruktur sind anders als bei Normalgewichtigen. Eine aktuelle Studie zeigt, dass übergewichtige Männer und Frauen Veränderungen in Belohnungsschaltkreisen und Zentren des Sättigungsempfindens im Gehirn aufweisen. Bei Verhaltenstests entschieden sich Übergewichtige eher für kurzfristige Belohnungen, selbst dann, wenn dies einen langfristigen Verlust bedeutet.
Nach Ansicht der Wissenschaftler deuten Verhalten und Gehirnstruktur auf suchtähnliche Züge des starken Übergewichts hin.

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Dass sich Übergewichtige in ihrem Essverhalten und ihrer Lebensweise von den meisten Normalgewichtigen unterscheiden, ist nichts Neues. Unklar war aber bisher, inwieweit die Unterschiede auch impulsive Entscheidungen und möglicherweise sogar die Gehirnstruktur betreffen. Forscher des Leipziger Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften sowie des Integrierten Forschung- und Behandlungszentrums Adipositas-Erkrankungen haben jetzt erstmals diese beiden Merkmale bei normal- und übergewichtigen Männern und Frauen vergleichend verglichen.

Männer und übergewichtige Frauen wählen Sofortgewinn

Für die Verhaltenstests setzten die Wissenschaftler ein computergestütztes Kartenspiel ein, den „Iowa Gambling Task“. Dabei sollten die Versuchsteilnehmer zwischen zwei Spielkartenstapeln wählen, die mit unterschiedlichen Erfolgs- und Risikoaussichten belegt waren. „Im Prinzip spiegelt dieser Test die tägliche Abwägung zwischen kurzfristiger Befriedigung durch übermäßiges Essen und den langfristig negativen Auswirkungen auf den Körper wieder“, erklärt Annette Horstmann, die Erstautorin der Studie.

Übergewichtige Frauen verhielten sich im Vergleich zu normalgewichtigen besonders kurzsichtig; sie wählten überproportional häufig den Stapel, der zwar zu hohen Sofortgewinnen, aber auch zu einem negativen Langzeitergebnis führte. Während normalgewichtige Frauen im Laufe des Spiels lernten, den Stapel mit Langzeitverlusten zu meiden, blieben die übergewichtigen Frauen bei ihrer impulsiven Strategie. Zwischen normal- und übergewichtigen Männern wurden keine Unterschiede im Spielverhalten festgestellt; insgesamt glichen die impulsiven Verhaltenspräferenzen der Männer denjenigen der übergewichtigen Frauen.

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Gehirn: Kontrollregionen verkleinert, Belohnungsschaltkreis verstärkt

Mithilfe voxel-basierter Morphometrie, einer Variante der Magnetresonanztomografie (MRT), wurde anschließend die Größe der grauen Hirnsubstanz der Teilnehmer ermittelt, in der sich die Nervenzellkörper, die für die Verarbeitung von Nervensignalen verantwortlich sind, befinden.

Es zeigte sich, dass bei übergewichtigen Personen generell diejenigen Hirnregionen über mehr graue Substanz verfügen, die an der Bewertung von Belohnungsreizen beteiligt sind. Daneben ist auch der Hypothalamus, eine Hirnregion, die in die hormonelle Steuerung von Hunger- und Sättigungsempfinden eingebunden ist, bei übergewichtigen Männern und Frauen stark vergrößert. Im Gegensatz dazu sind insbesondere Regionen, die an der kognitiven Verhaltenskontrolle beteiligt sind, vor allem bei übergewichtigen Frauen signifikant verkleinert.

„Die damit einhergehende mangelnde Impulskontrolle ist ein weiteres Indiz dafür, Übergewicht bei ansonsten gesunden Personen in den Bereich der Suchterkrankungen einzuordnen“, sagt Erstautorin Annette Horstmann. Gleiche strukturelle Veränderungen seien schon aus vorangegangenen Studien mit Frauen bekannt, die an Ess-Brechsucht (Bulimia nervosa) leiden. Dies lasse darauf schließen, dass der Unterschied in der grauen Substanz möglicherweise nicht mit dem Übergewicht selbst, sondern mit einem veränderten Essverhalten zusammen hängt.

Ob jedoch das veränderte Essverhalten und die eingeschränkte Impulskontrolle die strukturellen Veränderungen hervorrufen oder umgekehrt, werde nur im Rahmen von weiterführenden Untersuchungen eindeutig zu klären sein. (Frontiers of Human Neuroscience, 2011; doi: 10.3389/fnhum.2011.00058)

(Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, 27.06.2011 – NPO)

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