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Neurobiologie

Fliegen „sehen“ elektrisch

Details einer neuronalen Verschaltung im Fliegengehirn enthüllt

Naturgetreues Modell der zehn VS-Zellen, in dem jede Zelle in einer individuellen Farbe markiert ist. Der Schaltplan zeigt die elektrischen Verbindungen zwischen den Zellen. © Max-Planck-Institut für Neurobiologie

Fliegen sind wahre Flugkünstler. Doch wie deutsche Forscher jetzt zeigen konnten, ermöglicht ihnen erst die elektrische Kopplung bestimmter Nervenzellen, die Drehachse einer Rotationsbewegung sicher zu bestimmen. Das Erstaunliche: Können einzelne Zellen keine Bewegungsinformation ableiten, so kann der fehlende Wert berechnet werden. Wie die Forscher in der Fachzeitschrift PNAS berichten, könnte diese Fähigkeit auch für den Einsatz in künstlichen Systemen interessant sein.

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Für viele Menschen sind Fliegen eher lästig. Doch schaut man einmal etwas genauer hin, so wird schnell klar, dass es sich bei ihnen um faszinierende Flugkünstler handelt. So schießt die Stubenfliege auf ihrem rasanten Flug mit zwei Metern pro Sekunde durch den Raum, um am Ende mit einer halben Rolle rückwärts an der Zimmerdecke zu landen. Anders als beim Menschen sind die Augen der Fliege starr, sodass sie ihren Kopf oder den gesamten Körper drehen muss, um ihre Umgebung im Blick zu behalten. Das fehlerfreie Erfassen und Unterscheiden der optischen Eindrücke – wie und wohin bewegt sich die Fliege, oder kommt ein Hindernis auf sie zu – und das rechtzeitige Einleiten von Kurskorrekturen während des Fluges, scheint eine recht komplexe Aufgabe für das vergleichsweise kleine Fliegenhirn. Erstaunlicherweise benötigt das zentrale Flugkontrollzentrum im Gehirn der Fliege hierfür gerade einmal 60 Nervenzellen.

Rotationsbewegungen der Fliege

Wie diese Zellen ihre komplexe Aufgabe meistern, untersuchen Alexander Borst und seine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried. Zusammen mit ihren Kollegen aus London und Jerusalem haben sich die Forscher speziell jene Zellen angesehen, die Rotationsbewegungen der Fliege erkennen und verarbeiten. Dreht sich die Fliege um ihre eigene Achse, so bewegt sich die Umgebung in entgegengesetzter Richtung an ihren Augen vorbei. Zur Erfassung dieser Bewegung und zur Ermittlung der Achse, um die sie sich dreht, gibt es im Flugkontrollzentrum des Fliegenhirns zehn sogenannte VS-Zellen. Jede dieser Zellen erhält ihre optischen Informationen nur aus einem schmalen vertikalen Streifen des Gesichtsfelds. Da die Zellen aber parallel zueinander angeordnet sind, decken diese vertikalen Streifen das gesamte Sehfeld der Fliege ab. So erfasst VS1 einen Streifen vor der Fliege, VS5 seitlich davon und VS10 einen Streifen im hinteren Bereich des Auges.

Was die Forscher jedoch zunächst verblüffte war, dass die VS-Zellen auch auf Informationen aus benachbarten Streifen ansprachen, zu denen sie eigentlich gar keinen Zugang haben sollten. Um dieses Phänomen zu untersuchen, nutzten die Neurobiologen zwei verschiedene Methoden: Zum einen injizierten sie Strom in eine VS-Zelle und maßen, ob sich die elektrische Spannung auch in benachbarten VS-Zellen änderte. Zum anderen bauten sie ein naturgetreues Modell der VS-Zellen am Computer nach und simulierten die Veränderungen der elektrischen Spannung im Zellverbund bei Stimulation einzelner Zellen.

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Reihenschaltung bei der Signalweitergabe

Beide Methoden kamen zu dem gleichen Ergebnis: VS-Zellen sind elektrisch mit ihren Nachbarzellen verbunden. Durch die besondere Anordnung der Zellen kommt es zu einer Art Reihenschaltung in dem Bereich, in dem das Signal an nachfolgende Zellen weitergegeben wird. So verblüffend dieses Erkenntnis auch war, denn die meisten Nervenzellen sind über chemische Synapsen verbunden und nicht direkt elektrisch gekoppelt, so warf sie doch gleich eine neue Frage auf: Wenn die VS-Zellen extra so angelegt sind, dass sie Bewegungsinformationen nur aus einem schmalen Streifen des Gesichtsfelds erhalten, welchen Sinn macht es dann, diese Information etwas weiter unten in der Zelle mit denen aus benachbarten Zellen zu vermischen?

Die Antwort fanden die Wissenschaftler, als sie die Reaktionen der Zellen auf künstliche und natürliche Umgebungsbilder verglichen. In künstlichen Bildern wird jedem Punkt per Zufall eine Helligkeitsstufe zugeordnet. Das resultierende Bild ist meist eine gleichmäßige Mischung aus hellen und dunklen Punkten. Wird solch ein Bild gedreht, so ersetzt die Bewegung einen Punkt durch einen anderen mit einer anderen Helligkeit. Diese zeitliche Änderung im Kontrast erkennen die VS-Zellen als Bewegung. Im Vergleich mit den anderen VS-Zellen kann zuverlässig die Achse, um die sich das Bild beziehungsweise die Fliege dreht, berechnet werden – auch ohne elektrische Kopplung der Zellen.

Sehen durch elektrische Kopplung

Natürliche Umgebungsbilder sind jedoch nicht so gleichmäßig in ihrer Struktur. Hier kann es große Bereiche mit ähnlicher Helligkeit geben, wie zum Beispiel der Himmel. Bei einer Drehbewegung wird in diesem Fall ein heller Punkt von einem ähnlich hellen abgelöst. Die fehlende Kontrastveränderung liefert keine Information, aus der die VS-Zellen eine Bewegungsinformation ableiten könnten – außer sie sind elektrisch gekoppelt. Denn durch die elektrische Kopplung erhalten die Zellen Informationen über Kontraständerungen, die ihre Nachbarzellen wahrnehmen. Fehlt bei einer Zelle die Information über eine Drehbewegung, während ihre Nachbarzellen solch eine Bewegung wahrnehmen, so kann der fehlende Wert aus den Informationen der Nachbarzellen berechnet werden. Diese in ihrer Einfachheit bestechende Lösung erlaubt es dem Verbund der VS-Zellen, die Drehachse der Fliege zu erfassen.

„Wir hätten den Sinn der elektrischen Verschaltung der VS-Zellen nie verstanden, wenn wir nur künstliche Umgebungsbilder für die Versuche verwendet hätten“ sagt Alexander Borst. Obwohl das zufällig ausgewählte Muster dieser Bilder gleichmäßige Versuchsbedingungen gewährleisten soll, haben sich biologische Systeme, wie die optische Wahrnehmung der Fliege, im Zusammenspiel mit der natürlichen Umwelt entwickelt, und sind oft auch nur in diesem Zusammenhang richtig zu verstehen. „Das Verständnis dieses robusten Mechanismus zum Ermitteln der Rotationsachse hat uns einen großen Schritt im Verständnis des gesamten Systems weitergebracht“ betont der Max-Planck-Direktor, der bereits über Einsatzmöglichkeiten in Robotersystemen nachdenkt.

(Max-Planck-Institut für Neurobiologie, 27.06.2007 – AHE)

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