Anzeige
Evolution

Gewalt: Biologisches Erbe oder Kultur?

Forscher folgen den Wurzeln innerartlicher Aggression bis in den Säugetier-Stammbaum

Aggression unter Artgenossen gibt es bei Schimpansen und anderen Primaten häufiger als bei den meisten anderen Säugetieren. © USO/iStock.com

Gewalttätiges Erbe: Sind Mord und Totschlag bei uns kulturell bedingt – oder doch ein biologisches Erbe? Eine „Rasterfahndung“ im Säugetierstammbaum liefert dazu nun neue Fakten. Demnach nimmt die innerartliche Aggression auf dem Weg zu den Primaten deutlich zu, gleichzeitig fördert eine soziale und territoriale Lebensweise die Gewalt, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten. Wir Menschen haben daher gleich in doppelter Hinsicht eine hohe Gewaltneigung geerbt.

Mord und Totschlag gibt es schon seit den Anfängen der Menschheit: Schon unter Neandertalern gab es tödliche Fehden, Massaker und sogar Kannibalismus, aber auch der Homo sapiens metzelte Gegner nieder, wie 10.000 Jahre alte Skelettfunde belegen.

Kultur oder Natur?

Doch woher stammt dieser menschliche Hang zu Aggression und Gewalt – und ist er überhaupt rein menschlich? Über diese Frage diskutieren Soziologen, Verhaltensforscher und Philosophen schon seit Jahrhunderten. Während die einen in der Gewalt ein vorwiegend kulturelles Phänomen sehen, führen andere Beispiele für innerartliche Aggression im Tierreich als Beleg für ein stammesgeschichtliches Erbe an.

„Bei vielen Primaten sind Aggressionen zwischen Gruppen und auch Kindesmord häufig“, erklären José Maria Gómez von der Universität von Granada und seine Kollegen. „Selbst scheinbar friedfertige Säugetiere wie Hamster und Pferde töten manchmal Individuen ihrer eigenen Art.“ Und von Löwen und anderen in Rudeln lebenden Raubtieren weiß man, dass neue Alphatiere häufig den Nachwuchs ihrer Vorgänger töten.

Mord und Totschlag unter Säugetieren

Ist unsere eigene Neigung zur Gewalt demnach nur eine Folge des Säugetiers in uns? Um diese Frage zu klären, haben Gómez und seine Kollegen erstmals systematisch vier Millionen Fälle tödlicher innerartlicher Gewalt bei 1.024 Säugetierarten aus 137 verschiedenen Familien und 50.000 Jahren Stammesgeschichte ausgewertet. Ergänzend untersuchten sie Fällen von Mord und Totschlag bei 600 verschiedenen menschlichen Populationen – von der Steinzeit bis in die Gegenwart.

Anzeige

Das Ergebnis: Belege für innerartliche Gewalt finden sich in der gesamten Gruppe der Säugetiere. Insgesamt liegt der Durchschnitt der Todesfälle durch tödliche Aggression bei rund 0,3 Prozent, wie die Forscher ermittelten. „Dies spricht dafür, dass tödliche Gewalt unter den Säugetieren zwar insgesamt selten, aber weit verbreitet ist“, sagen Gómez und seine Kollegen.

Häufung auf dem Weg zu den Primaten

Doch es gibt klare Unterschiede: „Während tödliche Aggression in Gruppen wie den Walen, Fledermäusen und Hasenartigen selten ist, kommt es in anderen häufiger vor, wie beispielsweise den Primaten“, berichten die Forscher. Das bestätigt anekdotische Berichte von Aggression unter Schimpansen oder – wie erst kürzlich beobachtet – unter Orang-Utans.

Anteil der Todesfälle durch innerartliche Gewalt bei den Primaten und ihren Vorfahren. © Stammbaum nach Wikipedia

Bei diesen Häufungen gibt es jedoch einen klaren evolutionären Trend: Je näher die Stammesgeschichte den Primaten kommt, desto höher liegt die Rate der innerartlichen Aggression. Beim gemeinsamen Vorfahren von Nagetieren, Hasen und Primaten lag die Aggressionsrate schon bei 1,1 Prozent, bei den Vorfahren von Primaten und Spitzhörnchen bei 2,3 Prozent und bei den Primaten bei 2,4 Prozent, wie die Wissenschaftler ermittelten. Bei den Menschenaffen sinkt die Gewaltrate dann wieder leicht auf 1,8 Prozent.

„Besonders gewaltbereiter Ast des Stammbaums“

Allerdings: Selbst bei dieser stammesgeschichtlichen Gewaltneigung spielen Lebensweise und Umwelt eine prägende Rolle, wie die Forscher betonen. So stellten sie fest, dass die Tierarten, die sozial und territorial leben, von Natur aus ein höheres Aggressionspotenzial besitzen als Einzelgänger und nichtterritoriale Arten. Im Laufe der Evolution haben demnach Gene und Lebensweise gemeinsam dafür gesorgt, dass einige Säugetiere gewaltbereiter gegenüber ihren Artgenossen sind als andere.

Wie aber sieht es mit dem Menschen aus? Am Ursprung der Menschheit lag das Ausmaß der innerartlichen Gewalt bei zwei Prozent, wie die Forscher ermittelten. Demnach waren unsere steinzeitlichen Vorfahren noch kaum aggressiver als andere Primaten. „Der Mensch hat seine Neigung zur Gewalt stammesgeschichtlich geerbt“, konstatieren Gómez und seine Kollegen. „Er verdankt dies seiner Position in einem besonders gewaltbereiten Ast des Säugetier-Stammbaums.“

Unser aggressives Erbe ist jedoch sowohl genetisch als auch sozial bedingt: „Das Sozialverhalten und die Territorialität, die wir mit unseren nächsten Verwandten teilen, haben ebenfalls dazu beigetragen“, betonen die Forscher.

Gewaltsprung vor 5.000 Jahren

Im Laufe unserer Kulturgeschichte hat sich dann die Gewaltrate weiter verändert. In der Zeit vor 5.000 bis 3.000 Jahren stieg sie steil auf 15 bis 30 Prozent an, wie Gómez und seine Kollegen berichten. Sie führen dies auf das Aufkommen von Stammesfürsten und größeren Gruppenverbänden zurück. Mit ihnen häuften sich auch Fehden und Kriege.

Erst in der Neuzeit, vor rund 100 Jahren, sind Mord und Totschlag wieder seltener geworden: Heute liegt die Rate tödlicher Gewalt nur noch bei 0,1 Prozent, wie Studien zeigen. Damit liegen wir heute um das rund 200-Fache niedriger als unsere Vorfahren in der Steinzeit. Das belegt eindrücklich, dass auch wir Menschen kein reines Produkt unserer Biologie sind – aggressives Erbe hin oder her. (Nature, 2016; doi: 10.1038/nature19758)

(Nature, 29.09.2016 – NPO)

Teilen:
Anzeige

In den Schlagzeilen

News des Tages

Bändereisenerz

Ur-Magnetfeld ohne festen Erdkern?

Krebs kann auch ohne DNA-Mutation entstehen

Waffentruhe eines mittelalterlichen Flaggschiffs geöffnet

Neues fossiles Riesenkänguru entdeckt

Diaschauen zum Thema

Dossiers zum Thema

Oxytocin - Ein Kuschelhormon mit vielen (Neben-) Wirkungen

Bücher zum Thema

Im Fokus: Neurowissen - Träumen, Denken, Fühlen - Rätsel Gehirn von Nadja Podbregar und Dieter Lohmann

Der Luzifer-Effekt - Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen von Philip G. Zimbardo

50 Schlüsselideen Psychologie - von Adrian Furnham

Top-Clicks der Woche