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Neurowissenschaften

Können wir die Stille hören?

Akustische Illusionen werfen neues Licht auf unsere akustische Wahrnehmung

Hören
Nehmen unsere Ohren Stille auf aktive Weise wahr? © SIphotography/ Getty images

Stille ist möglicherweise mehr als nur die Abwesenheit von Geräuschen: Akustische Experimente legen nahe, dass unser Hörsystem auch Perioden der Stille aktiv verarbeitet – ganz ähnlich wie klangerfüllte Zeitabschnitte. Indiz dafür sind mehrere akustische Illusionen, die mit Stille genauso gut funktionieren wie mit Geräuschen. Dies legt nahe, dass unser Ohr und Hörsystem bei Stille nicht einfach nur Pause machen, sondern auch die Stille aktiv „hören“, wie Forscher berichten.

Unser Gehör beruht auf einer komplexen Abfolge von Prozessen. Am Anfang steht das Ohr als primärer „Sensor“: In ihm wandeln die Schwingungen der Innenohr-Haarzellen die Schallwellen in elektrische Nervensignale um. Diese gelangen über den Hörnerv ins Gehirn und passieren dort mehrere Verarbeitungsstationen – darunter den Hirnstamm und den Thalamus im Mittelhirn – bevor sie an die Hörrinde im Schläfenlappen weitergeleitet werden.

Schallwellen
Unser Hörsystem ist darauf ausgelegt, Schall zu detektieren. Doch wie reagiert es auf Stille? © loops7/ iStock

Schon lange vor unserer bewussten Wahrnehmung eines Tons entscheiden diese Zwischenstationen, ob wir überhaupt etwas hören und wie. Umgekehrt kann dieser mehrstufige Prozess dazu führen, dass wir manchmal Geräusche hören, die gar nicht da sind, beispielsweise bei Tinnitus oder akustischen Halluzinationen.

Nehmen wir Stille aktiv oder passiv wahr?

Doch wie es bei Stille? Bisher ist diese Frage strittig. „Prominente Theorien gehen davon aus, dass unsere akustische Wahrnehmung nur auf Geräusche reagiert“, erklären Rui Zhe Goh und seine Kollegen von der Johns Hopkins University in Baltimore. „Nach dieser Auffassung ist die Erfahrung von Stille nur die kognitive Entsprechung einer Abwesenheit und keine eigentliche Form des Hörens.“

Anders ausgedrückt: Wenn unser Gehör keine Schallreize detektieren kann, bleibt die gesamte Hörbahn-Prozesskette einfach inaktiv. Das Ohr schickt kein Signal. „Eine andere Möglichkeit wäre jedoch, dass wir auch Stille aktiv wahrnehmen“, so Goh und seine Kollegen. In diesem Fall müsste das Ohr aktiv rückmelden, dass es gerade nichts hört, und diese Meldung wird dann von der Hörbahn auf ähnliche Weise weiterverarbeitet wie Schallsignale. Stille wäre dann ebenso eine Wahrnehmung wie ein Geräusch.

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Akustische Täuschungen als Test

Aber welche Theorie stimmt? Um das herauszufinden, haben nun Goh und sein Team eine Reihe von Experimenten zu akustischen Täuschungen durchgeführt. „Unsere Überlegung war: Wenn das Hörsystem Stille als echte auditorische Objekte behandelt und sie entsprechend weiterverarbeitet, dann müssten Perioden der Stille ähnliche Täuschungen hervorrufen wie solche mit Schall.“ So ist beispielsweise bekannt, dass ein langer Ton von Testpersonen als länger eingeschätzt wird als zwei aufeinanderfolgende kürzere, die zusammen genauso lang sind.

akustische Täuschungen
Die drei akustischen Täuschungen in ihrer Originalform (oben) und in den Varianten zum Testen der Stille. © Name /CC-by-nc-nd 4.0

Um das zu testen, ließen die Forscher 1.000 Testpersonen sieben Experimente zu drei verschiedenen akustischen Illusionen durchführen. Im ersten Block sollten sie die Zeitdauer von einer längeren oder zwei kurzen Phasen der Stille abschätzen – mal durch direkten Vergleich, mal beim einzelnen Hören. Das Ergebnis: Die akustische Illusion funktionierte wie bei ihrem Gegenpart mit Tönen. Die einzelne lange Stille erschien den Testpersonen länger.

Auch Stille erzeugt zeitliche Verzerrungen

Ähnliches zeigte sich bei der zweiten akustischen Illusion. Im klassischen Test erscheinen dabei zwei kurze Pieps, die während einer eingeschobenen Geräuschphase ertönen, zeitlich weiter auseinander als die gleichen Pieptöne bei Stille. Goh und sein Team veränderten die erste Bedingung nun so, dass die beiden Pieptöne während einer Unterbrechung des Hintergrundgeräuschs ertönten. Es zeigte sich: „Die Testpersonen schätzten die Töne in den eingebetteten Stillephasen als weiter auseinander ein als die Töne in der reinen Stille“, berichten die Forscher.

Die dritte akustische Täuschung wird als „Oddball“-Illusion bezeichnet. Hören wir mehrere tiefe Töne gleicher Dauer hintereinander und dann überraschend einen hohen Ton, verzerrt diese unerwartete Abweichung unsere Zeiteinschätzung. Der hohe Ton erscheint uns länger als ein weiterer tiefer Ton gleicher Länge. Mit dieser Illusion testeten Goh und sein Team den Effekt von Teil-Stillen: Die Testpersonen hörten ein Geräuschgemisch aus einem höheren Orgelton und tiefem Motorengrollen, mehrfach hörte dabei das Motorengeräusch auf. Als „Oddball“ blieb dann beim fünften Mal plötzlich die Orgel still und nur die Motoren liefen weiter.

Auch bei diesem Experiment gab es eine analoge Reaktion zum klassischen Oddball-Test: Die Testpersonen schätzten die abweichenden Teil-Stillen länger ein als eine den vorhergehenden Geräuschpausen entsprechende Pause, wie das Team berichtet.

„Wie eine leere Datei“

Nach Ansicht der Wissenschaftler legt dies nahe, dass unser Gehirn Stille ähnlich aktiv verarbeitet wie Geräusche. „Unsere Resultate sprechen dafür, dass die Testpersonen nicht einfach nur die Dauer stiller Intervalle registrierten, sondern dass ihr Gehirn reizähnliche Repräsentationen der Stille konstruierte“, erklären Goh und sein Team. Deshalb erzeugten die Stilleperioden ähnliche Effekte wie Töne in den klassischen akustischen Täuschungen.

„Man kann sich die Verarbeitung von Stille so vorstellen, dass dabei eine Art leerer Ereignisdatei übergeben wird oder aber eine Datei, die nur nichtakustische zeitliche Information enthält“, erklärt das Team. Wäre Stille nur die passive Abwesenheit von Schall, dann dürfte das Ohr dagegen gar keine Datei abschicken. Doch nach Meinung von Goh und seinen Kollegen ist genau das der Fall. Allerdings räumen auch sie ein, dass noch viele weitere Untersuchungen nötig sind, um dies eindeutig zu belegen. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2023; doi: 10.1073/pnas.2301463120)

Quelle: Johns Hopkins University

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