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Physik

Physiker entdecken neue Bindungsform bei Neutronen

Erster Nachweis "neutronischer Moleküle" aus Neutronen und Nanokristallen

Neutron
Physiker haben entdeckt, dass Neutronen eine neuartige Form der schwachen Bindung eingehen können – Nanokristallen aus zehntausenden Atomen mit gleichgerichtetem Spin. © Arpad Horvath/ CC-by-sa 2.5

Überraschende Entdeckung: Anders als gedacht können Neutronen auch schwache, molekülartige Bindungen eingehen, wie Physiker entdeckt haben. In solchen „neutronischen Molekülen“ lagern sich einzelne Neutronen an Nanokristalle aus zehntausenden Atomen an – und nehmen dabei einen neuartigen Bindungszustand ein. Eine solche niederenergetische Bindung wurde nie zuvor bei Neutronen nachgewiesen, wie das Team berichtet.

Die meisten chemischen oder atomaren Bindungen beruhen auf elektromagnetischen Kräften – beispielsweise der Anziehung unterschiedlicher Ladungen oder der Interaktion von magnetischen Spins. Deswegen galten Neutronen – die nicht geladenen Bausteine des Atomkerns – als eher bindungsscheu. Im Atomkern werden sie zwar von der starken Kernkraft und der Interaktion mit den Protonen zusammengehalten, doch außerhalb des Kerns überdauern Neutronen nur knapp 15 Minuten lang, bevor sie zerfallen.

Entweder stark oder gar nicht

Wenn Neutronen freiwerden, können sie jedoch mit Atomkernen zu neuen Isotopen verschmelzen und sind dann wieder über die starke Kernkraft gebunden. „Solche gebundenen Zustände haben hohe Bindungsenergien im Megaelektronenvolt-Bereich“, erklären Hao Tang und seine Kollegen vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). „Doch ob es auch Wechselwirkungen und gebundene Neutronenzustände mit niedriger Bindungsenergie gibt, war unbekannt.“

Der Grund: Die starke Kernkraft hat eine extrem geringe Reichweite. Schon bei einem Abstand, der dem zehntausendstel Radius eines Atoms entspricht, sinkt sie auf vernachlässigbare Werte ab. Diese auf Neutronen wirkende Grundkraft reicht daher nicht aus, um sie beispielsweise bloß außen an einen Atomkern anzulagern. Auch die Existenz sogenannter Tetraneutronen – Gebilden aus vier miteinander verbundenen Neutronen – ist bisher strittig.

neutronisches Molekül
Wenn ein Neutron auf einen Quantenpunkt aus zehntausenden Atomen mit gleichgerichtetem Spin trifft, entsteht eine „Senke“ der starken Kernkraft. Diese wirkt anziehend auf das Neutron und lässt eine schwache Bindung zum Nanokristall entstehen. © Ju Li et al.

Quantenpunkte als Bindungspartner

Doch wie sich nun zeigt, kann das Neutron seine „Bindungsscheu“ doch überwinden und auch lose, energiearme Bindungen ausbilden. „Wir waren überrascht, dass solche Bindungen überhaupt existieren“, sagt Seniorautor Ju Li. Entdeckt haben die Physiker diesen neuen Zustand der Neutronen, als sie mithilfe von theoretischen Berechnungen und Modellsimulationen untersuchten, wie sich Neutronen verhalten, wenn sie mit Quantenpunkten in Kontakt kommen.

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Solche Quantenpunkte sind Nanokristalle aus zehntausenden Atomen mit gleich ausgerichteten Elektronenspins. Für ihre Studie hatten Tang und seine Kollegen die Interaktion einzelner Neutronen mit rund 30 Nanometer kleinen Nanokristallen aus Lithiumhydrid (LiH) analysiert. „Sowohl Lithium als auch Wasserstoff haben eine potenziell anziehende nukleare Wirkung auf Neutronen, indem sie ein negatives Potenzial der starken Kernkraft erzeugen“, erklären die Physiker.

Neutronischer Bindungszustand ist ein Novum

Tatsächlich ergaben die Analysen, dass Neutronen von den Quantenpunkten angezogen werden und sich anlagern. „Die Bindungsenergien liegen nur auf dem Niveau von Mikroelektronenvolt“, berichtet das Team. „Damit demonstrieren wir die Existenz eines neutronischen Bindungszustands mit einer solchen geringen Bindungsenergie.“ Voraussetzung sind allerdings ultrakalte Temperaturen von wenigen Millikelvin und ein Mindestradius der Lithiumhydrid-Nanokristalle von 13 Nanometern. Zudem bleibt der Bindungszustand nur für wenige Millisekunden stabil.

Die Physiker haben diese neu entdeckte Bindungsform des Neutrons „neutronisches Molekül“ getauft. Wie sie erklären, kommt es zustande, weil die vereinten Wellenfunktionen der zehntausenden Atome im Quantenpunkt die Reichweite der starken Kernkraft quasi ausweiten. „In diesen nukleonischen Quantenpunkten kann dadurch ein Neutron selbst in Abständen außerhalb der normalen Reichweite der starken Kernkraft gefangen werden“, sagt Koautorin Paola Cappellaro vom MIT.

Wozu ist das gut?

Noch basiert diese Entdeckung der neuartigen Neutronenbindung auf theoretischen Berechnungen und Computersimulationen. Doch Tang und seine Kollegen sind davon überzeugt, dass sich dieser Bindungszustand auch im Labor erzeugen lässt. Möglich ist dies beispielsweise in speziellen ultrakalten Neutronenquellen, bei denen die Temperatur stabil bei wenigen Millikelvin gehalten werden kann, wie sie erklären.

Nach Ansicht der Physiker könnte der neutronische Bindungszustand ganz neue Möglichkeiten für die Materialforschung und die Quantentechnologie eröffnen. „Eine der möglichen Anwendungen ist die präzisere Kontrolle des Neutronenzustands“, erklärt Li. „Indem wir kontrollieren, wie der Quantenpunkt oszilliert, könnten wir das Neutron gezielt in eine bestimmte Richtung wegschleudern.“

Eine weitere denkbare Anwendung wären neuartige Quantencomputer. „Die meisten bisherigen Quantenbits – egal ob supraleitende Qubits, gefangenen Ionen oder Stickstoff-Fehlstellen – beruhen auf elektromagnetischen Interaktionen“, so Li. Bei den neutronischen Molekülen sind dagegen Spins und die starke Kernkraft ausschlaggebend. „Der Spin der Atomkerne entspräche dabei einem stationären Qubit und das Neutron einem mobilen Qubit“, so der Physiker. „Wir beginnen erst zu erforschen, was man alles damit machen könnte.“ (ACS Nano, 2024; doi: 10.1021/acsnano.3c12929)

Quelle: Massachusetts Institute of Technology

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