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Medizin

Erster Einzelzell-Atlas unserer Lunge

Kartierung zeigt erstmals Funktion, Typ und Aktivität aller rund 2,4 Millionen Lungenzellen

Lungenzellen
Ein neuer Atlas kartiert jede einzelne der rund 2,4 Millionen Zellen in der menschlichen Lunge. © Nathan-Richoz/ University-of-Cambridge

Medizinischer Meilenstein: Ein neuer Atlas zeigt erstmals jede der rund 2,4 Millionen Zellen unserer Lunge – es ist die erste Kartierung eines ganzen Organs bis auf die Einzelzellebene hinunter. Der Lungenzellatlas enthüllt die zelluläre Vielfalt und individuellen Unterschiede in der gesunden menschlichen Lunge. Er liefert aber auch Einblick darin, welche krankhaften Veränderungen Rauchen, Lungenkrebs oder Infektionskrankheiten bei den Lungenzellen verursachen. Dies bietet wertvolle Anhaltspunkte für Forschung und Therapie, wie die Wissenschaftler in „Nature Medicine“ berichten.

Viele Funktionen unserer Organe, aber auch ihre Krankheiten und Fehlfunktionen haben ihren Ursprung auf der zellulären Ebene. Die Präsenz bestimmter Zellen, ihre Wechselwirkungen und ihre Veränderungen können daher viel darüber verraten, wie und warum unsere Gewebe und Organe funktionieren. Aber erst in jüngster Zeit haben neue molekularbiologische und genetische Methoden es ermöglicht, die dafür nötigen Einzelzellanalysen durchzuführen – unter anderem bei unseren Zähnen oder bei Organoiden der menschlichen Netzhaut.

2,4 Millionen Zellen in einem Organ

Jetzt ist der nächste Schritt gelungen: Ein internationales Team um Lisa Sikkema vom Helmholtz Zentrum München hat den ersten Einzelzellatlas für ein ganzes menschliches Organ erstellt. Dafür nutzten die Forschenden Daten der RNA-Einzelzellanalyse für mehr als 500.000 verschiedenen Lungenzelltypen von insgesamt 107 Personen. Mithilfe einer KI-gestützten Auswertemethode vereinheitlichten und kombinierten sie diese aus 49 Datensätzen stammenden Informationen zu einem Gesamtbild.

„Die Zelltyp-Annotation war das größte Problem bei der Erstellung des ‚Human Lung Cell Atlas‘“, erklärt Sikkema. Denn die verschiedenen Datensätze verwendeten teilweise unterschiedliche Namen für dieselben Zelltypen. In anderen Fällen wurde auch der gleiche Name für unterschiedliche Zellen verwendet. „Wir mussten daher als Team an einer Standardisierung der Daten für den Atlas arbeiten“, erklärt die Forscherin. „Der Atlas ist ein erster Schritt auf dem Weg zu einer einheitlichen Annotation der menschlichen Lunge.“

Individuelle Unterschiede und krankhafte Veränderungen

Das Ergebnis der aufwendigen Arbeiten ist nun der erste integrierte Einzelzell-Atlas der menschlichen Lunge – und der erste Einzelzell-Atlas für ein ganzes menschliches Organ. Er zeigt für jede der rund 2,4 Millionen Zellen des Atmungsorgans, welchem Zelltyp sie angehört, welche Gene in ihr aktiv sind und welche Funktionen sie übernimmt. Gleichzeitig zeigt der Lungenzell-Atlas erstmals genau auf, welche individuellen Unterschiede es auf Zellebene zwischen den Lungen gesunder Menschen gibt.

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„Die Anzahl der berücksichtigten Zellen und Personen ermöglicht es uns nun, seltene Zelltypen zu erkennen und neue, noch nicht beschriebene Zellzustände zu identifizieren“, erklärt Koautor Fabian Theis von der der Technischen Universität München. Weil unter den Testpersonen auch Menschen mit Krankheiten wie Lungenkrebs, Raucherlunge, Covid-19 und Lungenfibrose waren, zeigt der neue Atlas auch krankhafte Veränderungen der Lunge auf Zellebene und liefert Hinweise auf potenzielle therapeutische Ziele.

Gemeinsamer Nenner bei Vernarbungen aufgedeckt

Erste Vergleichsanalysen enthüllten beispielsweise, dass es zwischen Krebs, Covid-19 und Lungenfibrose auf Zellebene einige Gemeinsamkeiten gibt. So zeigen die zum Immunsystem gehörenden Makrophagen bei allen drei Krankheiten eine sehr ähnliche Genaktivität. Das Team vermutet, dass dies eng mit der für diese Erkrankungen typischen Narbenbildung in der Lunge zusammenhängt.

Das könnte bedeuten, dass bestimmte Therapien breiter wirksam sind als bisher angenommen. „So können neue Behandlungsziele entstehen und es können neue Biomarker festgelegt werden, an denen man die Wirksamkeit dieser Behandlungen ablesen kann“, erklärt Koautor Martijn Nawijn von der Universität Groningen. „Unsere Ergebnisse deuten zudem darauf hin, dass Therapien, die bei einer Krankheit wirken, auch bei anderen Krankheiten eingesetzt werden können.“

Erster Schritt zum Human Cell Atlas

Der neue Lungenzellatlas kann nun als zentrale Referenz für die Forschung und Medizin dienen. Das Team hat ihn dafür vollständig öffentlich zugänglich gemacht. „Der ‚Human Lung Cell Atlas‘ bietet eine wichtige Ressource für die wissenschaftliche und medizinische Gemeinschaft“, konstatiert Alexander Misharin von der Northwestern University in den USA. „Neue Krankheitsdaten können nun für Forschende frei zugänglich auf diesen Atlas projiziert werden, was die Forschung im Bereich der Lungenbiologie und -krankheiten verändert.“

Zudem stelle dieser erste Referenzatlas der Lunge einen Meilenstein auf dem Weg zu einem vollständigen menschlichen Zellatlas dar, konstatieren die Wissenschaftler. Denn ihr Team ist Teil der weltweiten „Human Cell Atlas“-Initiative, deren Zieil es ist, jede Zelle im menschlichen Körper zu typisieren und zu kartieren. „Dies wird unser Verständnis von Biologie und Krankheiten verändern und den Grundstein für eine neue Ära der Gesundheitsversorgung legen“, sagt Misharin. (Nature Medicine, 2023; doi: 10.1038/s41591-023-02327-2)

Quelle: Helmholtz Zentrum München – Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt (GmbH), Wellcome Trust Sanger Institute

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