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Archäologie

Mathematik der Minoer enträtselt?

Forscher entziffern Bruchzahlen der minoischen Linear-A-Schrift

Minoische Tontafeln
Fragmente einer Tontafel der Minoer – die von ihnen genutzte Linearschrift A ist bis heute nur zum kleinen Teil entschlüsselt. © Portum/Securiger, CC-by-sa 3.0

Geheimnis gelüftet? Schon vor 3.500 Jahren rechneten die Minoer mit Brüchen und notierten diese in ihrer Linear-A-Schrift. Doch welche Zeichen für welche Brüche stehen, blieb bislang rätselhaft. Jetzt haben Forscher die Bruchzahlen der Minoer entziffert. Demnach besaß diese Kultur eigene Zeichen für Brüche wie 1/2, 1/8 oder 1/10 und kennzeichnete Vielfache dieses Nenners mit speziellen Notationen.

Die Minoer waren die erste Hochkultur Europas: Schon vor rund 5.000 Jahren errichteten sie große Palastanlagen auf Kreta, bauten Straßen und dominierten mit ihrer Flotte das gesamte östliche Mittelmeer. Zudem entwickelten die Minoer gleich zwei verschiedenen Schriftsysteme, eine Hieroglyphenschrift und die der Keilschrift ähnliche Linearschrift A. Doch keine der beiden Schriften ist vollständig entziffert – Archäologen können bislang nur bei wenigen Zeichen die Bedeutung herleiten.

BRuchzahlen
Eine der für die Analysen genutzten Tontafeln (rechts) und die 17 Linear-A-Symbole, die wahrscheinlich für Bruchzahlen stehen. © Elsevier

Das Geheimnis der minoischen Bruchzahlen

Zu den ungelösten Rätseln der Minoer-Schriften gehören ihre mathematischen Berechnungen und Zahlenzeichen. Archäologen gehen davon aus, dass die Minoer zum Rechnen ein Dezimalsystem nutzten. In der Linear-A-Schrift scheinen dabei Zehnerwerte mit waagerechten Strichen oder Punkten gekennzeichnet zu sein, Hunderter mit Kreisen und Tausender mit von Strichen umgebenen Kreisen. Diese Symbole tauchen häufig auf Tontafeln auf, die im Zusammenhang mit Warenabrechnungen und anderen Verwaltungsakten stehen.

Doch das ist nicht alles: Offenbar nutzten die Minoer auch schon Dezimalbrüche zum Rechnen und für Mengenangaben. „Linear A umfasst 17 Zeichen, die für Bruchzahlen zu stehen scheinen“, erklären Michele Corazza und seine Kollegen von der Universität Bologna. Sie bestehen aus dreieckigen oder halbkreisförmigen Grundzeichen, die durch einen oder mehrere Punkte ergänzt sind. Doch für welche Bruchzahlen diese Symbole stehen, war bislang unbekannt.

„Die genauen mathematischen Werte dieses Systems der Bruchzahlen sind eines der größten Rätsel der minoischen Linear-A-Schrift“, so die Forscher. Einer der Gründe dafür: Viele der Tontafeln mit den Bruchzahlen sind unvollständig und die Passagen mit den Zahlen kaum lesbar. Das macht es schwer, Rechnungen oder Zahlenwerte nachzuvollziehen. Zudem deuten widersprüchliche Verwendungen der Zeichen darauf hin, dass die Minoer ihre Notation im Laufe der Geschichte abgewandelt und verändert haben.

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1/2 ist der häufigste Bruch

Um dieses Rätsel zu lösen, haben Corazza und sein Team nun verschiedene archäologische, linguistische und computertechnische Herangehensweisen miteinander kombiniert. Als Gegenstand ihrer Analyse wählten sie Tontafeln aus der Zeit von 1600 bis 1450 vor Christus, weil sich die Linear-A-Schrift und die Notation der Zahlen in dieser Periode kaum verändert hat. Dann ordneten sie bestimmten Symbolen auf Basis ihres Kontexts und ihrer Ähnlichkeit mit Zahlensymbolen in ägyptischen und mesopotamischen Schriften mögliche Bruchwerte zu.

Auch die Häufigkeit des Symbols spielte für diese Zuordnung eine Rolle. Denn gängiger Annahme nach müssten die Bruchzahlen mit dem kleinsten Nenner – beispielsweise 1/2 – am häufigsten vorkommen. „Denn jeder Bruch höher als 1/2 kann als 1/2+n ausgedrückt werden“, erklären Corazza und seine Kollegen. „Schreiben lässt sich dies als das Symbol für 1/2 plus ein oder mehr zusätzliche Symbole.“ Mithilfe eines Computerprogramms berechneten sie dann die verschiedenen Kombinationen und typischen Häufigkeiten der verschiedenen Notationen.

Symbole für Brüche bis 1/60

Das Ergebnis ist eine Tabelle, die jedem der potenziellen Bruchsymbole in der Linear-A-Schrift einen Zahlenwert zuordnet. Demnach steht das einem < ähnliche J-Zeichen für 1/2. Das passt zu einer Schriftpassage, nach der 72 Personen einen Anteil von J an 36 Getreideeinheiten bekommen, wie die Forscher darlegen. Auch in anderen Zuordnungen kommt J häufig in einem Kontext vor, der für die Bedeutung „einhalb“ spricht. Andere Symbole lassen sich Bruchzahlen wie 1/4, 1/5 oder 1/8 zuordnen. Der Wert 1/10 wurde durch ein T-ähnliches Symbol angegeben.

Für die Brüche 1/20, 1/30, 1/40 etc. nutzten die Minoer dagegen eine Notation, in der einem Halbkreissymbol nach und nach immer mehr waagerechte Striche hinzugefügt wurden. Dieser Entzifferung nach kannten und nutzten die Minoer Brüche bis mindestens 1/60. In ihren Mengenangaben zu Getreide oder anderen Waren sind die Bruchzahlen-Symbole durch Ligaturen direkt mit den Mengensymbolen verknüpft.

„Diese Ergebnisse beleuchten das System, mit dem die Minoer diesen Linear-A-Zeichen mathematische Werte zuordneten“, konstatieren Corazza und sein Team. Ihrer Ansicht nach könnte ihre Methodenkombination dabei helfen, auch andere noch ungelöste Fragen zu Linear A und anderen Schriften zu klären. (Journal of Archaeological Science, 2020; doi: 10.1016/j.jas.2020.105214)

Quelle: Elsevier

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