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Antarktis: Schelfeis-Riss bricht Temporekord

Bruch im Schelfeis des Pine-Island-Gletschers wuchs mit 126 Stundenkilometern

Riss im Schelfeis
Im Schelfeis des antarktischen Pine-Island-Gletschers bilden sich immer wieder riesige Risse, wie hier im Jahr 2011. Doch einige dieser Eisrisse können sich weit schneller ausbreieen als bisher angenommen.© Operation IceBridge, NASA/DMS

Eisiger Rekord: Im antarktischen Schelfeis können sich Risse schneller ausbreiten als gedacht, wie Messdaten vom Pine-Island-Gletscher enthüllen. In seiner gut 300 Meter dicken Eiszunge bildete sich innerhalb weniger Minuten ein mehr als zehn Kilometer langer Riss – dies entspricht einem Tempo von 35 Metern pro Sekunde oder 126 Stundenkilometern. Ohne die bremsende Wirkung des Meerwassers wäre das Tempo der Rissausbreitung sogar noch höher, wie Forschende ermittelt haben.

Die schwimmenden Schelfeise der Antarktis sind wichtige Puffer zwischen Meer und Gletschern – und Geburtssort einiger der größten Eisberge der Welt. Denn immer wieder entstehen Risse in den hunderte Meter dicken Eisflächen, oft begünstigt durch riesige Kavernen an der Eisunterseite. Als Folge kommt es zu Abbrüchen großer Tafeleisberge, wie zuletzt 2023 am Brunt-Schelfeis. Auch die Zunge des Pine-Island-Gletschers, eines der größten Eisströme der Antarktis, bildet alle zwei bis sechs Jahre einen eisbergbildenden Riss.

Riss im Pine-island-Schelfeis
Diese Aufnahmen zeigen das Wachstum des Schelfeis-Risses R2012 im Abstand von drei Tagen. © Olinger et al./AGU Advances

Schelfeis-Risse im Visier

Doch wie genau sich die Schelfeis-Risse bilden und welche physikalischen Mechanismen zu ihrer Ausbreitung beitragen, ist bisher erst in Teilen bekannt. „Angesichts der enormen Ausmaße der Tafeleisberge ist es jedoch wichtig, die Rissausbreitung besser zu verstehen – auch, um mögliche Anomalien durch das sich erwärmende Klima erkennen zu können“, erklären Stephanie Olinger von der Harvard University in Cambridge und ihre Kollegen.

Um mehr Klarheit zu schaffen, nahmen die Forschenden die Rissbildung im Schelfeis des Pine-Island-Gletschers näher ins Visier. Dafür analysierten sie Daten mehrerer hochsensibler Seismometer, die auf dem Schelfeis deponiert worden waren. Zusätzlich werteten sie Daten des TerraSAR-Radarsatelliten aus, der die Rissbildung in den Eisflächen von oben verfolgt hat. Als konkreten Fall wählte das Team einen Riss, der sich am 9. Mai 2012 ungewöhnlich schnell ausgebreitet hatte.

Rissausbreitung mit 126 Stundenkilometern

Die Analysen enthüllten: Der R2012 getaufte Riss im Schelfeis des Pine-Island-Gletschers breitete sich ungewöhnlich schnell aus. Während andere Risse im selben Schelfeis nur sehr langsam vorrücken, nahm R2012 innerhalb von nur fünf Minuten um 10,5 Kilometer an Länge zu, wie die Radardaten enthüllten. „Dies entspricht einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 35,1 Metern pro Sekunde“, berichten Olinger und ihre Kollegen. Umgerechnet sind dies 126 Kilometer pro Stunde.

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Damit hat dieser Eisriss einen neuen Temporekord aufgestellt: „Unseres Wissens nach ist dies die schnellste Rissausbreitung in einem Schelfeis, die je beobachtet wurde“, sagt Olinger. Das Schelfeis könne demnach unter bestimmten Bedingungen weit dynamischer reagieren als zuvor angenommen. Dies bestätigten auch die starken, aber kurzen seismischen Erschütterungen des gesamten Schelfeises.

Schelfeis-Kaverne
Riesige, vom warmen Meerwasser erzeugte Hohlräume in der Unterseite der Schelfeises könnten schnelle Risse begünstigen. © Rob Soto

Sind solche Raser-Risse nur Ausnahmen?

Noch ist unklar, wie häufig solche schnellen Brüche in Schelfeisen auftreten: „Wir wissen noch nicht, ob dies eine seltene Klasse des Rissverhaltens darstellt oder ob es nur bisher unentdeckt blieb“, erklärt das Team. Allerdings enthüllten die Radardaten, dass die Lage des schnellen Risses wahrscheinlich kein Zufall war: Er bildete sich genau dort, wo das Schelfeis durch eine große Kaverne an der Eisunterseite ausgedünnt war.

Die Beobachtungen klären jedoch eine grundlegende Frage zum Verhalten der antarktischen Eisflächen. Denn zuvor war unklar, ob die hunderte Meter dicken Schelfeise eher wie sprödes Glas zerbrechen oder doch wie weicher Kitt langsam zerreißen. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Schelfeise unter bestimmten Bedingungen spröde wie Glas bersten können“, sagt Olinger. Erst das macht das hohe Tempo der Rissausbreitung möglich.

Vom Meerwasser gebremst

Doch wie schnell kann ein solcher Eisriss werden? Modellsimulationen ergaben, dass diese Art der spröden Rissbildung sogar noch weit höhere Geschwindigkeiten von 1.500 bis 2.000 Meter pro Sekunde erreichen kann. „Das wirft die Frage auf, warum R2012 zwei bis drei Größenordnungen unter dieser Geschwindigkeit blieb“, schreiben die Forschenden. Sie vermuten, dass das in den Riss eindringende Meerwasser für einen Bremseffekt sorgte.

„Wir haben festgestellt, dass das Schelfeis beim Brechen mit dem Meerwasser interagiert und diese Wechselwirkung bestimmt, wie schnell der Riss wachsen kann“, erklären Olinger und ihre Kollegen. Der Grund: Das Wasser dringt mit leichter Verzögerung in den freiwerdenden Raum zwischen den Eiskanten ein. Dadurch fällt der Druck auf das Eis vorübergehend ab. „Der geringere Wasserdruck reduziert die Spannung, die das Aufreißen antreibt und limitiert damit die Rate der Rissausbreitung“, so das Team.

Was bedeutet dies für die Zukunft?

Die neuen Erkenntnisse tragen dazu bei, das Verhalten der Schelfeise und ihres Aufbrechens besser zu verstehen. Das könnte auch helfen, einzuschätzen, ob und in welchem Maße der Klimawandel das Zerbrechen dieser Eisflächen und Kalben der Tafeleisberge beschleunigt hat. Wichtig ist dies auch deshalb, weil die Schelfeise wie Barrieren wirken, die das Abgleiten der großen Gletscher ins Meer bremsen. Wenn sie wegfallen, könnte sich die Eisschmelze daher deutlich beschleunigen.

„Wenn wir die Modelle der Eisschilde und die Vorhersagen für den zukünftigen Meeresspiegelanstieg verbessern wollen, brauchen wir zuerst ein gutes physikalisches Verständnis der vielen verschiedenen Prozesse, die die Schelfeis-Stabilität beeinflussen“, sagt Olinger. Ihre Studie sei dazu ein erster Schritt. (AGU Advances, 2024; doi: 10.1029/2023AV001023)

Quelle: University of Washington

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