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Botanik

Pflanzen: Geheimnis der flachen Blätter gelüftet

Wie sich Pflanzenzellen zur flächigen Blattober- und -unterseite organisieren

Unterseite eines Pflanzenblatts
Wie entwickeln sich aus Zellklumpen flache Blätter? © Atmosphius / iStock

Formgebend: Blätter von Pflanzen brauchen eine möglichst große Fläche, um Sonnenlicht einzufangen. Aber wie kommen sie zu ihrer flachen Form? Welche genetischen Mechanismen das flächige Wachstum der Blätter steuern, haben nun Biologen entschlüsselt. Demnach informiert eine Art eingebautes GPS jede Blattzelle über ihre relative Position im wachsenden Blatt. Das daraus resultierende Muster aus Ober- und Unterseite entspricht einem schon vom Mathematiker Alan Turing vorgesagten biologischen Konzept der Selbstorganisation.

Pflanzen erzeugen Energie per Photosynthese. Um das Licht einzufangen, enthalten ihre Blätter spezielle Lichtsammelapparate und den grünen Pflanzenfarbstoff Chlorophyll. Für eine optimale Lichtausbeute und effizienten Stoffaustausch sind die Blätter zudem möglichst flach und dünn. Aber in diese Form müssen sie erst hineinwachsen: „Wenn sich Zellen teilen und vermehren, entsteht in der Regel ein Zellklumpen“, erklärt Emanuele Scacchi von der Universität Tübingen. „Wir wollten wissen, wie im Fall eines Blatts daraus eine große Fläche werden kann.“

Um das herauszufinden, untersuchte das Team um Scacchi die Entwicklung der Modellpflanze Arabidopsis thaliana. Dabei analysierten die Forschenden die genetischen Prozesse während des Pflanzenwachstums sowie ihre sichtbare Entwicklung unter hochauflösenden Mikroskopen. Die Biologen kooperierten zudem mit Mathematikern, die die experimentellen Beobachtungen in Computermodellen nachvollzogen.

RNAs als molekulares GPS und Genschalter

Die Auswertungen enthüllten, dass kleine RNA-Moleküle das Wachstum der Blätter steuern. Mit ihrer Hilfe kommunizieren die einzelnen Blattzellen miteinander und erfahren so ihre relative Position zueinander im Gefüge. Die RNAs dienen in den Blättern somit als eine Art molekulare GPS-Signale, wie die Biologen berichten. „Die kleinen RNA-Moleküle in den Zellen des wachsenden Blatts setzen einen genetischen Prozess in Gang, der es den Zellen ermöglicht, ihre Umgebung wahrzunehmen und zu interpretieren“, sagt Scacchi.

Außerdem koordinieren diese RNAs, welche Gene jeweils in Zellen an der Ober- und Unterseite des Blatts aktiviert oder gehemmt werden müssen, damit es die richtige Form und Funktion erhält. Die Genaktivitäten werden dadurch so abgestimmt, dass die Ober- und Unterseite scharf voneinander getrennt sind und die Blattoberflächen eine perfekte flache Leinwand für die Photosynthese bilden, wie die Forschenden berichten.

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Bilder von verschiedenen Blattformen
Schnitte durch Pflanzenblätter zeigen, wie kleine Variationen in der Genregulation durch RNAs zu unterschiedlichen räumlichen Mustern der Genaktivität führen. Diese Unterschiede zwischen den oberen (rot) und unteren (blau) Schichten bestimmen die endgültige Blattform. Links: Ein typisches flaches Blatt, in dem ein stabiles bipolares Genaktivitätsmuster erhalten bleibt. Mitte: Blatt mit einer verschobenen Polarität, was zu einer Struktur führt, wie sie in der spezialisierten Ausformung fleischfressender Pflanzen zu finden ist. Rechts: Verlust der Polarität, wodurch ein radiales Genaktivitätsmuster zur Ausbildung von Rankenstrukturen führt, wie sie häufig in Kletterpflanzen vorkommen. © Fotos: Friedhelm Albrecht/Universität Tübingen. Abbildung: Emanuele Scacchi

Blattzellen organisieren sich selbst

Überraschend zeigte sich zudem: „Dieser Regelmechanismus arbeitet autonom im wachsenden Blatt, dafür gibt es keine zentrale Steuerung in der Pflanze“, sagt Seniorautorin Marja Timmermans von der Universität Tübingen. Dadurch könne die Genaktivität schnell an interne und externe Störungen bei der Blattentwicklung angepasst werden. Selbst bei drastischen Änderungen der Wachstumsbedingungen können die Blätter somit noch die korrekte Form erhalten.

„Außerdem bietet dieses genetische System viele Möglichkeiten zur Feinjustierung“, so Timmermans. Je nachdem, wie stark die RNAs eingreifen, ändert sich die Blattform. „So lässt sich die Vielfalt der in der Natur beobachteten Blattformen erklären – von der einfachen Ranke der Kletterpflanzen bis hin zur komplexen Kannenfalle fleischfressender Pflanzen.“ Mit dem RNA-Mechanismus lassen sich demnach unterschiedliche Blattformen zwischen verschiedenen Arten generieren, aber auch unterschiedliche Formen zwischen mehreren Exemplaren derselben Art.

Pflanzen entwickeln sich nach Turing-Modell

Beim Transfer dieser Beobachtungen in Computermodelle stellten die Mathematiker fest, dass das biologische Muster in Pflanzenblättern nicht neu ist. „Uns fiel auf, dass unsere Ergebnisse einer Theorie entsprechen, die Alan Turing vor mehr als sieben Jahrzehnten aufgestellt hat“, sagt Timmermans. Der britische Mathematiker ist heute zwar vor allem als Computerpionier bekannt, hat sich aber auch mit den Rätseln der Natur befasst.

Turing schlug vor, dass einfache Wechselwirkungen bestimmter Moleküle in den Zellen von Lebewesen zur Entstehung komplexer Muster führen können, wie beispielsweise die Flecken auf dem Leopardenfell oder die Streifen eines Zebras. Dies beschrieb er in seiner Theorie der Gestaltbildung. „Wir haben einen von kleinen RNAs gesteuerten Mechanismus entdeckt, der Turings Konzept von der Musterbildung durch Selbstorganisation entspricht“, sagt Timmermans.

Im Fall der Blätter bezieht sich die Selbstorganisation auf das genetisch gesteuerte Verhalten der Zellen, die ein Kollektiv bilden, um ein zusammenhängendes organisiertes Muster und die flache Struktur eines Blatts zu erzeugen. „Grundlage einer solchen Musterbildung ist eine Polarität, also die Möglichkeit in diesem Fall, zwischen oben und unten zu unterscheiden. Sie entsteht in der Regel durch einen Konzentrationsgradienten eines Stoffs, der an der einen Seite gering, an der anderen höher ist“, erklärt Scacchi.

Anwendung in der Pflanzenzucht denkbar

„Unsere Entdeckung ist aber nicht nur wichtig, um Turings Erbe ein neues Kapitel hinzuzufügen“, sagt Timmermans. Mit dem Wissen um die grundlegenden Mechanismen, durch die kleine RNAs selbstorganisierende genetische Prozesse ermöglichen, kann nun erforscht werden, wie wir uns diese zunutze machen können. Mit den Erkenntnissen könnten zum Beispiel resistentere Pflanzensorten entwickelt werden. „Bei einem weltweit steigenden Lebensmittelbedarf brauchen wir optimierte Nutzpflanzen mit hohen Erträgen, die robust gegen Stressfaktoren wie die Klimaerwärmung sind“, erklärt Timmermans. (Nature Plants, 2024, doi: 10.1038/s41477-024-01634-

Quelle: Eberhard Karls Universität Tübingen

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