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Biologie

Neue Supergruppe am Baum des Lebens

Uralte Gruppe räuberischer Einzeller unterscheidet sich von allen anderen Lebewesen

Provora
Diese unscheinbaren Einzeller mit zwei Geißeln sind Vertreter einer eigenen Supergruppe des Lebens.© Tikhonenkov, Mikhailov, Gawryluk, Belyaev, Mathur, Karpov, Zagumyonnyi, Borodina, Prokina, Mylnikov, Aleoshin und Keeling/ Nature

Irdische „Aliens“: Biologen haben einen zuvor unbekannten Ast am Baum des Lebens identifiziert – die Supergruppe der Provora. Diese einzelligen, begeißelten Eukaryoten unterscheiden sich in ihrer Morphologie und Genetik von allen anderen Lebewesen auf unserem Planeten. Sie bilden eine eigene Gruppe, die noch umfassender ist als das Tierreich und die Pilze zusammen, wie das Team berichtet. Die Provora kommen – wenn auch nur vereinzelt – in allen Meeren vor und ernähren sich räuberisch von anderen Einzellern.

Der Stammbaum des Lebens spiegelt die Einteilung der Organismen in Verwandtschaftsgruppen wider. Er umfasst dabei mit Bakterien, Archaeen und Eukaryoten drei große Domänen, diese teilen sich in mehrer Reiche – darunter beispielsweise das Tierreich, die Pilze oder die Pflanzen sowie in Supergruppen. Doch in vielen Teilen weist der Organismenstammbaum große Lücken auf, vor allem bei den mikrobiellen Einzellern.

Supergruppen
Neben den klassischen Reichen lassen sich die Eukaryoten auch in Supergruppen ordnen. Wie viele es gibt, ist allerdings noch strittig. © Alastair Simpson /CC-by-sa 4.0

Anders als alle anderen Lebewesen

Eine dieser Lücken im Stammbaum haben nun Denis Tikhonenkov von der Russischen Akademie der Wissenschaften und seine Kollegen geschlossen. Denn sie haben eine neue Supergruppe des Lebens identifiziert – einen Hauptast des Stammbaums, der in der Taxonomie zwischen Domäne und Reich angesiedelt ist. Die „Provora“ getaufte Supergruppe umfasst einzellige, begeißelte Eukaryoten, die sich genetisch, morphologisch und im Verhalten von allen anderen zellkerntragenden Organismen unterscheiden, wie das Team berichtet.

„In der Taxonomie verwenden wir oft die 18S-rRNA, um genetische Unterschiede zu beschreiben“, erklärt Tikhonenkov. Der Mensch unterscheidet sich beispielsweise vom Schwein durch nur sechs Nukleotide dieses Gens. „Doch zu unserer Überraschung stellten wir fest, dass sich diese Mikroben an 170 bis 180 der 185 Nukleotiden von jedem anderen lebenden Wesen auf Erden unterscheiden“, so der Forscher. „Damit war klar, dass wir hier etwas komplett Neues und Erstaunliches entdeckt hatten.“

Die neu identifizierten Provora bilden demnach eine sehr ursprüngliche Supergruppe der Eukaryoten, die im Stammbaum ähnlich weit zurückreicht und umfassend ist wie die Reiche der Tiere, Pflanzen oder Pilze, wie das Team erklärt.

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In allen Meeren vorkommend

Entdeckt haben die Forschenden diese einzigartigen Wesen bei der Untersuchung von Proben aus verschiedenen Meeresgebieten und marinen Lebensräumen weltweit – von den Korallenriffen der Tropen über Meeressedimente des Schwarzen Meeres bis zum offenen Wasser des Pazifiks und des Arktischen Ozeans. „Ich bemerkte in den Proben einige winzige Organismen mit zwei Flagellen, die auf der Stelle rotierten oder schnell umherschwammen“, berichtet Tikhonenkov.

Nähere Analysen enthüllten, dass diese begeißelten Einzeller sich auch morphologisch von den bisher bekannten Flagellaten unterscheiden. Gemeinsam sind diesen merkwürdigen Wesen Merkmale wie eine bauchseitige Mundkerbe, eine komplexe Zellmembran und zwei Geißeln. Gleichzeitig sind die untereinander durchaus verschieden: „Offenbar besetzen diese Organismen in ihren mikrobiellen Lebensgemeinschaften jeweils unterschiedliche Nischen“, so die Forschenden.

Provora beim Fressen
Ein Vertreter der Provora vor und nach dem Verzehr einer Einzeller-Beute. np, mp und fp kennzeichnen Kern, Mitchondrien und Flagellen der verschlungenen Beute. © Tikhonenkov, Mikhailov, Gawryluk, Belyaev, Mathur, Karpov, Zagumyonnyi, Borodina, Prokina, Mylnikov, Aleoshin und Keeling/ Nature

„Die Löwen der Mikrobenwelt“

Allen Provora gemeinsam ist ihre räuberische Lebensweise: Sie ernähren sich von anderen Einzellern – tun dies aber auf zwei verschiedene Arten: Die „Nibbleriden“ getaufte Untergruppe knabbert an ihrer Beute und frisst sie nach und nach auf. Die „Nebuliden“ verschlingen ihre einzelligen Opfer hingegen im Ganzen, wie die Wissenschaftler beobachteten. Wie für Räuber typisch, sind die Angehörigen der neuen Provora-Supergruppe in ihren Habitaten zahlenmäßig seltener vertreten als andere, nichträuberische Einzeller.

„Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Außerirdischer und würden die Serengeti untersuchen: Sie würden dort eine Menge Pflanzen und vielleicht nur einen oder sogar gar keine Löwen finden“, sagt Koautor Patrick Keeling von der University of British Columbia in Vancouver. Dennoch seien Löwen ein wichtiger Teil des Serengeti-Ökosystems. „Und die Provora sind gewissermaßen die Löwen der Mikrobenwelt.“

Weitere „dunkle Zonen“ im Stammbaum

Nach Ansicht der Forschenden unterstreicht die Entdeckung der neuen Supergruppe, wie unvollständig unser Wissen über den Stammbaum des Lebens noch ist – insbesondere in Bezug auf die einzellige Lebenswelt. „Dies ist ein uralter Ast am Baum des Lebens, der genauso vielfältig ist wie das Tierreich und die Pilze zusammen – und trotzdem wusste niemand, dass es ihn gibt“, sagt Keeling.

Er und seine Kollegen planen als nächstes, das Genom der Provora vollständig zu sequenzieren und auch nach weiteren Vertretern dieser Organismen zu suchen. (Nature, 2022; doi: 10.1038/s41586-022-05511-5)

Quelle: Nature, University of British Columbia

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