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Evolution

Ist die Evolution ein Zufall?

Einigung im Dauerstreit der Evolutionsbiologie in Sicht

Massai-Giraffen in Kenia
Beruhen die geringfügigen Unterschiede im Fellmuster von Giraffen, hier Massai-Giraffen in Kenia, auf Anpassung, oder bieten sie keine Überlebensvorteile? Eine neue Literaturübersicht will zu einer konstruktiven evolutionsbiologischen Debatte beitragen. © Peter Prokosch

Ungeklärte Fragen: Welche Prozesse die Evolution vorantreiben, beschäftigt die Wissenschaft schon seit Jahrzehnten. Bis heute spaltet dabei die Evolutionsbiologie die Frage, ob bestimmte Unterschiede zwischen den Arten durch gerichtete natürliche Auslese oder durch Zufälle verursacht werden. Ein internationales Forscherteam ist nun der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um diese zwei Varianten der Evolutionstheorie in einer Übersichtsstudie nachgegangen. Demnach erschweren verschiedene Interpretationen die Einigung, die Positionen sind aber nicht gänzlich unvereinbar.

Der britische Naturforscher Charles Darwin (1809–1882) gilt als einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler weltweit und Begründer der modernen Evolutionsbiologie. In seinem 1859 erschienenes Werk „On the Origin of Species“ untersuchte er die Vielfalt des Lebens und kam zu dem Schluss, dass sich die Arten durch natürliche Auslese entwickeln: Gut an ihre Umgebung angepasste Organismen überleben, andere nicht.

Gut 100 Jahre später schlug der japanische Genetiker Motoo Kimura (1924–1994) eine andere Entstehung der Artenvielfalt vor: den Zufall. Demnach bieten die meisten genetischen Veränderungen dem Individuum keine direkten Vor- oder Nachteile, sondern sind neutral. Laut seiner 1968 veröffentlichten „Neutrale[n] Theorie der molekularen Evolution“ entsteht der größte Teil der genetischen Variation innerhalb und zwischen den Arten durch zufällige Fluktuationen neutraler Mutationen.

Sind die Theorien vereinbar?

Über diese beiden Sichtweisen ist in der Evolutionsbiologie eine jahrzehntelange kontroverse Debatte zwischen „Selektionisten“ und „Neutralisten“ entbrannt. Aber widersprechen sich die beiden Theorien überhaupt? Und wenn ja, in welchen Punkten? Oder sind sie miteinander vereinbar?

Dieser Frage ist jetzt ein Forschungsteam um Menno de Jong vom Frankfurter Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum nachgegangen. Die Forschenden haben die umfangreiche Literatur zur Debatte analysiert und eine Übersicht der Kerninhalte und Hauptstreitpunkte veröffentlicht.

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Unterschiedliche Interpretationen möglich

Demnach enthält die Neutrale Theorie mehrere Aspekte, die unterschiedlich interpretiert werden können. Die schwerwiegendste dieser Unklarheiten betrifft die Entwicklung der sichtbaren Merkmale eines Organismus, des sogenannten Phänotyps. Bedeuten zahlreiche neutrale Mutationen auf genomischer Ebene, dass phänotypische Unterschiede innerhalb und zwischen Arten ebenfalls neutral sind? Oder sind sie, wie von Darwin angenommen, das Ergebnis natürlicher Selektion?

Selbst innerhalb der „Neutralisten“ gehen die Meinungen dazu auseinander, wie de Jong und seine Kollegen betonen. Einige vertreten die Auffassung, dass neutrale Mutationen nur im nicht-kodierenden Teil des Genoms auftreten – zum Beispiel in der sogenannten „Junk-DNA“, die keine Auswirkungen auf das Aussehen eines Lebewesens hat. Andere denken, dass neutrale Mutationen auch im funktionellen Teil des Genoms, zum Beispiel in den Genen, vorkommen und daher Unterschiede im Phänotyp verursachen können.

Widersprechen sich Kimura und Darwin?

Aber was heißt das im Kontext von Darwins Evolutionstheorie? „Die erste Position ist vollkommen mit Darwins Konzept der Artbildung durch natürliche Selektion vereinbar, während die zweite eine alternative Erklärung bietet“, sagt de Jong. Er und sein Team bezeichnen diese unterschiedlichen Interpretationen als die „enge“ und die „erweiterte“ Version der Neutralen Theorie, weil sie im zweiten Fall auf den Phänotyp ausgedehnt wird.

„Kimura vertrat ursprünglich die enge Version, akzeptierte aber schließlich die erweiterte Version“, beschreibt de Jong. Und auch Darwins Theorie war nicht so eng gefasst, wie manche meinen. Er schloss nicht aus, dass sich Variationen, die weder nützlich noch schädlich sind, im Laufe der Zeit als sichtbare Unterschiede innerhalb und zwischen den Arten manifestieren könnten, stellten die Forschenden fest.

„Neutralisten“ sind nicht radikal neutral

De Jong und seine Kollegen betonen in ihrer Studie zudem, dass auch Kimura-Anhänger Darwins Idee der Evolution durch Selektion nicht gänzlich ablehnen. Im Grunde gebe es also keine Darwin-Gegner in der Evolutionsbiologie. „Neutralisten stellen zum Beispiel nicht in Frage, dass Giraffen ihre Flecken im Fell durch natürliche Auslese erhalten haben. Sie plädieren lediglich für Neutralität, wenn es um feinere Unterschiede geht, wie etwa die Form und Größe der Flecken, die die verschiedenen Giraffenarten und -unterarten kennzeichnen“, sagt De Jong.

Befürworter von Darwins Selektionstheorie und der engen Version von Kimuras Neutraler Theorie gehen demnach davon aus, dass sich jedes Fellmuster der Giraffen so entwickelt hat, dass es in die jeweilige regionale Umgebung passt, weil es dort einen Vorteil darstellte. Neutralisten, die der erweiterten Version von Kimuras Theorie folgen, argumentieren hingegen, dass dies nur für die Flecken an sich gilt, die Details der Fellfärbungen aber keine wesentlichen Überlebensvor- oder nachteile bieten. Sie seien vielmehr durch zufällige Genveränderungen entstanden.

Streit um Details könnte bald beigelegt werden

Diese Unklarheiten und Feinheiten haben nach Ansicht der Autoren die wissenschaftliche Debatte getrübt und zu vermeintlichen Fronten geführt, im Wesentlichen seien sich die Evolutionsbiologen jedoch einig: Manche Genveränderungen haben für ihre Träger einen Vorteil, bleiben daher erhalten und treiben die Evolution voran, andere nicht. „Mit unserer Literaturübersicht wollen wir zu einer konstruktiveren Debatte zwischen den Befürwortern und Gegnern der Neutralen Theorie beitragen“, sagt Mitautor Axel Janke vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum.

Endgültige Klarheit über die Details der Evolution könnten künftige Studien mit neuen Methoden bringen: „Als die ‚Neutrale Theorie‘ in den späten 1960er Jahren begründet wurde, gab es nur wenige Daten zu Proteinen. Inzwischen sind wir in der Ära der Genomik angekommen, die uns völlig neue Einblicke in die Evolution der Proteine ermöglicht“, erklärt Janke. Zahlreiche Initiativen weltweit trügen dazu bei, immer mehr Genome zu sequenzieren und dadurch die Geheimnisse der Evolution schrittweise zu entschlüsseln. Dadurch könne die Forschung immer besser verstehen, über welche Prozesse sich neue Arten bildeten.

Durch moderne Techniken haben Forschende zum Beispiel im Jahr 2022 herausgefunden, dass vermeintlich neutrale Genveränderungen im kodierenden Teil des Genoms unter Umständen doch nicht so neutral sind: Auch wenn die Genmutationen den Bauplan des von dem Gen kodierten Proteins nicht verändern, können sie dennoch schädlich sein und die Funktion oder das Aussehen des Lebewesens verändern. Neue Erkenntnisse wie diese müssen die Evolutionsbiologen künftig stets auf Neue mit ihren Theorien abgleichen und dabei gegebenenfalls den Begriff „neutral“ klarer definieren. (Biological Reviews, 2023; doi: 10.1111/brv.13010)

Quelle: Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung

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