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Archäologie

Älteste Menschenfossilien Mitteleuropas entdeckt

Schon vor 45.000 Jahren lebte der Homo sapiens nördlich der Alpen

Fossiler Menschenknochen
Dieses in der Thüringer Ilsenhöhle entdeckte Knochenstück ist 45.000 Jahre alt und stammt vom Homo sapiens. © Tim Schüler TLDA / CC-by-nd 4.0

Früher als gedacht: Schon vor 45.000 Jahren trotzten unsere Vorfahren der eiszeitlichen Kälte und drangen bis nach Mitteleuropa vor. Das belegen nun Knochenfunde aus der Ilsenhöhle in Thüringen. Sie sind die ältesten Zeugnisse des Homo sapiens nördlich der Alpen und belegen, dass dieser zeitgleich mit dem Neandertaler dort lebte. Die Analysen enthüllen zudem, dass eine spezielle Form von Steinwerkzeugen nicht wie bisher gedacht vom Neandertaler stammt, sondern vom Homo sapiens.

Vor rund 45.000 Jahren erreichten die ersten Vertreter des Homo sapiens Europa – unsere Vorfahren. Davon zeugen unter anderem rund 45.000 Jahre alte Knochen aus der Bacho-Kiro-Höhle in Bulgarien und ein 45.000 Jahre alter Frauenschädel aus Zlaty kun in Tschechien sowie ein knapp 41.000 Jahre alter Kieferknochen aus der Pestera cu Oase in Rumänien. Doch wann unsere Vorfahren auch in das kältere Mittel- und Nordeuropa vordrangen, blieb mangels Fossilien ungeklärt. DNA-Analysen legten zudem nahe, dass sich diese ersten in Südosteuropa siedelnden Menschen noch nicht dauerhaft hielten.

Unklar ist auch, wer die in dieser Umbruchszeit geschaffenen Steinwerkzeuge des Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician-Technokomplexes (LRJ) hergestellt hat. Diese schmalen, meist beidseitig bearbeiteten Steinklingen wurden in Mittel- und Osteuropa gefunden und könnten sowohl vom Neandertaler, als auch vom Homo sapiens stammen.

Ilsenhöhle und Steinklingen
Die Ilsenhöhle unter der Burg Ranis war schon früher als Fundstätte für Steinklingen und fossile Knochen bekannt. © Tim Schüler TLDA / CC-by-nd 4.0

Spurensuche in der Ilsenhöhle

Neue Antworten liefern nun Funde aus der Ilsenhöhle in Thüringen. Diese Kalksteinhöhle nahe des Orts Ranis im Orla-Tal ist schon seit den 1930er Jahren als Fundort für LRJ-Steinwerkzeuge, Tierknochen und auch menschliche Fossilien bekannt. Jetzt hat ein Team unter Leitung von Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie im Leipzig und Tim Schüler vom Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie die Bodenschichten der Höhle erneut untersucht.

Ziel war es, nach weiteren Menschenfossilien zu suchen und die früheren Funde zeitlich genauer einzuordnen. „Die Herausforderung der Grabung bestand darin, eine komplette, acht Meter mächtige Sedimentsequenz zu untersuchen und dabei die Schichten des LRJ zu identifizieren“, erklärt Co-Seniorautor Marcel Weiss von der Universität Erlangen-Nürnberg. Unklar war auch, ob nach den früheren Ausgrabungen noch unberührte Schichten übrig waren.

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45.000 Jahre alte Knochenfragmente

Das Team hatte Glück: „Wir trafen auf einen 1,70 Meter mächtigen Felsblock, unter dem damals nicht gegraben wurde“, berichtet Weiss. „Nachdem wir diesen Versturzblock des ehemaligen Höhlendaches in Handarbeit zerkleinert und abtransportiert hatten, konnten wir die wichtigen Schichten des LRJ erreichen, die auch menschliche Knochenfragmente enthielten. Das war eine große Überraschung.“ Die winzige Knochenstückchen stammten wie die LRJ-Werkzeuge aus der Zeit vor 43.360 bis 47.500 Jahren, wie Radiokarbondatierungen ergaben.

Doch von wem stammten diese Knochen? Um das herauszufinden, nutzten die Forschenden eine Kombination aus Proteom-Analysen, DNA-Vergleichen und Isotopenanalysen. Das Ergebnis: Die neuentdeckten Knochenstückchen stammten von vier verschiedenen Individuen – allesamt Vertretern des Homo sapiens. Und auch die in der früheren Ausgrabung geborgenen Knochenfragmente stammten nicht vom Neandertaler, sondern vom Homo sapiens.

Ausgrabung
Das Forschungsteam musste sich acht Meter tief in den Boden der Höhle graben, um an die ältesten Fundschichten zu gelangen.© Marcel Weiss / CC-by-nd 4.0

Älteste Relikte des Homo sapiens in Mitteleuropa

Damit gehören die Knochenfunde aus der Ilsenhöhle zu den ältesten bekannten Relikten des Homo sapiens in Europa – und es sind die frühesten Zeugnisse für die Präsenz unserer Vorfahren nördlich der Alpen. „Die Fundstelle in Ranis erbrachte den Beweis für die erste Ausbreitung von Homo sapiens in die nördlichen Breiten von Europa“, sagt Hublin. Als die ersten Vertreter des Homo sapiens Mitteleuropa erreichten, könnten sie demnach noch Gruppen des Neandertalers begegnet sein.

„Das verändert unser Wissen über die Übergangsperiode fundamental, da nun klar ist, dass anatomisch moderne Menschen das nordwestliche Europa erreichten, lange bevor die Neandertaler in Südwesteuropa verschwanden“, sagt Hublin. Die beiden Menschenarten begegneten sich demnach nicht nur im Nahen Osten und auf dem Balkan, sondern lebten auch in Mitteleuropa wahrscheinlich tausende Jahre gemeinsam – und zeugten vielleicht auch gemeinsame Kinder.

Die DNA-Analysen enthüllten zudem, dass die Menschen aus der Ilsenhöhle eng miteinander verwandt waren und auch mit der ebenfalls 45.000 Jahre alten „Frau aus Zlaty kun“ in Tschechien. Die ersten Gruppen dieser Ur-Europäer waren demnach untereinander vernetzt und wahrscheinlich insgesamt nicht sehr zahlreich, wie die Forschenden erklären.

Überraschend früh an die Kälte angepasst

Die neuen Funde werfen auch ein neues Licht darauf, wie gut unsere Vorfahren mit dem rauen Klima ihrer neuen Heimat zurechtkamen. Bisher nahm man an, dass unsere an die Wärme südlicher Gefilde gewöhnten Vorfahren erst dann in Europa Fuß fassten, als das Klima milder wurde. Doch die Knochen aus der Ilsenhöhle widerlegen dies. Denn wie begleitende Analysen von Tierknochen und Isotopen belegen, herrschte dort vor 48.000 bis 43.000 Jahren ein kaltes Kontinentalklima, es war im Schnitt fünf bis 15 Grad kälter als heute.

„Die Menschen waren mit subarktischen und Tundra-artigen Bedingungen konfrontiert“, berichten Sarah Pederzani vom MPI für evolutionäre Anthropologie und ihr Team. Die Landschaft ähnelte einer kargen, spärlich bewachsen Kältesteppe, wie sie heute in Sibirien oder Nordskandinavien vorherrscht. Dennoch hielten sich diese ersten Einwanderer offenbarlängere Zeit dort auf. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass selbst diese frühen Homo sapiens-Gruppen schon in der Lage waren, sich an solch raue klimatische Bedingungen anzupassen, als sie sich über Eurasien ausbreiteten“, sagt Pederzani.

Doch auch wenn der Homo sapiens damals in einer kargen Landschaft überleben musste, ganz ohne Ressourcen war er nicht: Die Tierknochen aus der Ilsenhöhle legen nahe, dass dort damals Rentiere, Wollnashörner und Pferde und andere potenzielle Beutetiere vorkamen. „Vielleicht waren kalte Steppen mit größeren Herden von Beutetieren für diese Menschengruppen attraktiver als bisher vermutet“, so Pederzani.

Erschaffer der LRJ-Steinklingen

Und noch eine Frage klären die neuen Funde: Sie verraten endlich, wer die Steinklingen des Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician-Technokomplexes hergestellt hat. Denn die Homo-sapiens Knochenstückchen wurden in genau den Fundschichten entdeckt, in denen auch die Steinwerkzeuge lagen. „Es ist jetzt sicher, dass Steingeräte, von denen man dachte, dass sie von Neandertalern hergestellt wurden, nun definitiv von modernen Menschen stammen“, sagt Hublin.

Zusammengenommen sind diese Ergebnisse ein wichtiger Schritt, um die Besiedlung Europas durch unsere Vorfahren zu rekonstruieren. „Die Resultate aus der Ilsenhöhle in Ranis haben unsere Vorstellungen über die Chronologie und Besiedlungsgeschichte vom Europa nördlich der Alpen fundamental verändert“, sagt Seniorautor Schüler. Dies sei ein Meilenstein bei der Erforschung der frühesten Vorstöße von Homo sapiens nach Mittel- und Nordeuropa. (Nature, 2024; doi: 10.1038/s41586-023-06923-7; doi: 10.1038/s41559-023-02318-z)

Quelle: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, University of California – Berkeley

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