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Neurowissenschaften

Ich und die anderen

Wieso wir uns oft überschätzen

Intelligent, hübsch, witzig: Diese Eigenschaften gelten in unserer Gesellschaft als überaus erstrebenswert. Natürlich besitzt sie nicht jeder im selben Maß, doch das hält unser Gehirn nicht davon ab, uns zumindest vorzugaukeln, auf uns selbst träfen sie mehr zu als auf den Durchschnitt. Tatsächlich ist es wissenschaftlich erwiesen, dass viele Menschen dazu neigen, ein deutlich positiveres Bild von sich zu haben, als es die Realität hergibt. Männer betrifft dieses Phänomen stärker als Frauen.

Narzissmus
Wir empfinden uns häufig als deutlich schöner und klüger als wir es tatsächlich sind. © LUNAMARINA/Getty Images

Wer ist die schönste im ganzen Land?

Die verzerrte Selbsteinschätzung beginnt beim Äußeren, wie Elanor Williams von der University of Florida und Thomas Gilovich von der Cornell University in einem Experiment herausgefunden haben. Dafür luden sie Studierende zu einem Fotoshooting ein, bei dem pro Person zwölf Porträts in unterschiedlichen Posen aufgenommen wurden. Aus diesen Porträts sollten die Versuchsteilnehmer nun jenes auswählen, das sie am realistischsten zeigte.

Interessanterweise entschied sich mehr als die Hälfte der Studierenden für jenes Porträt, in dem sie sich selbst am attraktivsten fanden. Sie nahmen ihre „Top-Leistung“ also als Repräsentanten der Realität wahr, obwohl die restlichen Bilder ihren tatsächlichen Durchschnitt abgebildet hätten. Williams und Gilovich haben dieses Phänomen daher „better-than-my-average effect“ (Besser-als-mein-Durchschnitt-Effekt) getauft.

Zweierlei Maß

Das Forschungsteam konnte den „better-than-my-average effect“ auch im akademischen Bereich beobachten. Auch dort orientierten sich viele Studierende bei ihrer Selbsteinschätzung nicht an ihren durchschnittlichen Noten, sondern an den besten. Das führte erneut dazu, dass sie sich selbst als deutlich bessere Leistungsbringer wahrnahmen, als sie es wirklich waren. Der Glaube an ihr vermeintliches Potenzial war durch die vereinzelten positiven Ausreißer in den Noten regelrecht befeuert worden.

Emotionen Maske
Andere bewerten uns nach dem, was sie sehen, wir selbst uns nach dem, was wir fühlen und denken. © TatyanaGl/ iStock

Beim Potenzial ihrer Kommilitonen waren die Versuchsteilnehmer jedoch nicht so großzügig. Im Gegenteil: Um deren Leistung einzuschätzen, ignorierten sie die Top-Noten weitestgehend und zogen stattdessen vor allem die durchschnittlichen Noten heran. Zwar war diese Einschätzung wahrscheinlich realistischer als die der eigenen Leistungen, doch gleichzeitig auch deutlich pessimistischer. Auf diese Weise war es den Studierenden nicht nur gelungen, sich selbst besser darzustellen, als sie in Wirklichkeit waren, sondern auch besser als die Konkurrenz.

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Außen und innen

Was auf den ersten Blick überheblich klingt, könnte in Wirklichkeit mit der menschlichen Wahrnehmung zu tun haben, wie Emily Pronin von der Princeton University erklärt: „Wir neigen dazu, uns selbst durch ‚Introspektion‘ (den Blick nach innen auf Gedanken, Gefühle und Absichten) und andere durch ‚Extrospektion‘ (den Blick nach außen auf beobachtbares Verhalten) wahrzunehmen. Kurz gesagt, wir beurteilen andere auf der Grundlage dessen, was wir sehen, und uns selbst auf der Grundlage dessen, was wir denken und fühlen.“

So hält uns zum Beispiel ein Personaler für verantwortungslos, wenn wir zu spät zum Vorstellungsgespräch kommen, weil die mangelnde Pünktlichkeit alles ist, was er von außen sehen kann. Wir selbst wissen allerdings, dass nicht Verantwortungslosigkeit, sondern ein Stau auf der A3 zu unserer Verspätung geführt hat. Wir wissen auch, dass wir den Job trotz schlechtem ersten Eindruck unbedingt haben wollen und für die neue Firma brennen, doch auch das sieht der Personaler nicht. Er beurteilt uns daher mit anderen Maßstäben als wir uns selbst.

schlaues Kind
Durch den Dunning-Kruger-Effekt nehmen Inkompetente sich selbst als überlegen wahr. © mimic51/ iStock

Ahnungslos, aber selbstbewusst

Dass wir uns selbst nach anderen Maßstäben bewerten als unsere Mitmenschen, kann unser Selbstbild zunehmend verzerren. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte Dunning-Kruger-Effekt. Er besagt, dass inkompetente Menschen sich und ihre Fähigkeiten häufig stark überschätzen und dabei kompetentere Menschen unterschätzen. Wir alle kennen schließlich die 83 Millionen Fußballexperten, die sich stets pünktlich zur WM zu Wort melden. Oder die vielen selbsternannten Impfexperten, die während der Corona-Pandemie auf Social Media unterwegs waren.

„Die Inkompetenten sind oft mit einem unangemessenen Selbstvertrauen gesegnet“, schreibt David Dunning von der University of Michigan, nach dessen Forschung der Effekt benannt ist. Wie fernab von jedweder Realität ihr Selbstbild liegt, ist den Inkompetenten dabei nicht einmal bewusst. Wie auch? „Um ihre Unfähigkeit zu erkennen, müssten sie genau das Wissen besitzen, das ihnen fehlt“, so Dunning. Der Dunning-Kruger-Effekt gilt in der Forschung allerdings nicht als unumstritten. Er könnte auch darin begründet liegen, dass höher gebildete Menschen im Laufe ihrer Ausbildung eher eine gesunde Selbsteinschätzung beigebracht bekommen als Menschen mit geringerer Bildung.

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Wie anfällig wir für Selbstüberschätzung sind, beeinflusst unter anderem unser Charakter. © SIphotography/ iStock

Nicht jeder ist gleich anfällig

Studien zufolge neigen jedoch vor allem Menschen mit extrovertierten und offenen Persönlichkeitszügen zur Überschätzung ihrer eigenen Kompetenzen. Auch narzisstische Persönlichkeitstypen tendieren eher dazu, sich über andere zu stellen und besonders empfindlich auf Kritik zu reagieren. Als prominentes Beispiel wird in dieser Hinsicht gerne Ex-US-Präsident Donald Trump angeführt.

Neben dem Charakter hat aber offenbar auch die Nationalität einen Einfluss. In der Forschung zeigt sich zum Beispiel die Tendenz, dass Menschen aus westlichen, eher individualistisch geprägten Ländern wie den USA ihre Intelligenz im Schnitt deutlich höher einschätzen als Menschen aus kollektivistischen Kulturen wie Japan und China. Diese sind hinsichtlich ihres Selbstbildes häufig eher bescheiden.

Von Papierfliegern und Konditoren

Auch das Gebiet, um das es bei der Selbsteinschätzung geht, spielt eine wichtige Rolle. Je konkreter und simpler eine Aufgabe ist, desto leichter fällt es uns abzuschätzen, wie gut wir darin sind. Das ist vor allem dann der Fall, wenn wir etwas schon sehr häufig gemacht haben. So ist es zum Beispiel deutlich leichter, realistische Auskunft über das eigene Talent im Basteln von Papierfliegern zu geben als darüber, wie sehr man insgesamt künstlerisch begabt ist.

Trotzdem neigen wir dazu, uns vor allem bei jenen Aktivitäten und Themengebieten fälschlicherweise für Experten zu halten, für die wir uns besonders interessieren. Doch weder macht uns der Spaß am Backen zwangläufig zum gelernten Konditor noch qualifiziert uns das Bundesliga-Schauen zum Fußballtrainer.

Glaube versetzt Berge

Nicht immer muss Selbstüberschätzung allerdings auch etwas Schlechtes sein. In gesundem Maß hilft sie uns dabei, uns wohl in unserer Haut zu fühlen und selbstbewusst aufzutreten. Das steigert wiederum nachweislich unsere Chancen, beim Vorstellungsgespräch oder bei potenziellen Partnern zu überzeugen.

Zudem besteht die Möglichkeit, dass wir durch ein positiv verzerrtes Selbstbild im Laufe der Zeit tatsächlich an Kompetenz gewinnen. Zum Beispiel dann, wenn der Glaube an die eigenen Fähigkeiten zu mehr Ehrgeiz oder Ausdauer anspornt oder dazu, sich an schwierigere Aufgaben heranzuwagen.

Feedback und Selbstreflexion als Schlüssel

Wer dennoch an einem realistischen Selbstbild feilen möchte, dem hilft es bereits, sich den oben genannten Effekten und Mechanismen bewusst zu werden. Das macht es leichter, sich selbst und seine Leistungen möglichst objektiv zu reflektieren. Es kann auch helfen, stärker auf die Rückmeldungen nahestehender Menschen zu hören und eigene Fehler anzuerkennen, um so schließlich ein möglichst realistisches Bild von sich selbst zu gewinnen.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Das verzerrte Ich
Wenn unser Selbstbild von der Realität abweicht

Der Realität auf der Spur
Unsere eigene Wahrnehmung als Zerrlinse

Ich und die anderen
Wieso wir uns oft überschätzen

„Ich bin nicht gut genug“
Folgen eines negativen Selbstbilds

Mein entstelltes Ich
Wenn der Spiegel lügt

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