Douglass hatte mit seiner kontinuierlichen Chronologie erstmals eine Referenz geschaffen, die es ermöglichte, jeden Holzfund, der aus der Zeit zwischen 700 und 1929 stammte, genau in die Jahrringreihe einzuordnen und damit sein Alter abzuleiten. Dieses Verfahren, die Einzelstücke zu einer Gesamtchronologie zusammenzufügen und Holz unbekannten Alters durch den einfachen Vergleich zu datieren, wird als Crossdating bezeichnet und ist noch heute die Basis der Dendrochronologie.
Standardchronologie nur aus einer Art
Der erste spektakuläre Coup dieser Methode gelang jedoch nur deshalb, weil das Holz der Anasazi-Pueblos ausschließlich von Ponderosa-Kiefern aus dem Gebiet zwischen Colorado Plateau und Rocky Mountains stammte. Denn so genannte Referenz- oder Standardchronologien können nur aus Bäumen derselben Art eines klimatisch einheitlichen Wuchsgebietes aufgebaut werden. Jede Baumart hat ihren eigenen „Code“, Umwelteinflüsse zu registrieren und in ein bestimmtes Ringmuster umzusetzen. Darüber hinaus können aber auch gleichartige Bäume, die nur 200 Kilometer voneinander entfernt wachsen, unterschiedliche Baumringe entwickeln. Standardchronologien sind deshalb nur für bestimmte Regionen verwendbar, in denen die Bäume einer ähnlichen Menge Niederschlag, und den gleichen Hitze- oder Kälteperioden ausgesetzt waren.
Bäume liefern „Fingerabdruck“
Obwohl die Bäume auf regionale Klimaeinflüsse ähnlich reagieren, ist jeder Baum auch ein Individuum. Eine Eiche am flachen Südufer eines Sees hat mehr Wasser zur Verfügung als eine auf dem steilen Nordufer gegenüber, wo das Wasser durch die Sonne schneller verdunstet. Eine Kiefer im Windschatten eines Berges muss weniger Stürme aushalten als die Bäume auf der Bergkuppe, und eine Buche auf kalkhaltigem Untergrund gedeiht besser als eine auf nährstoffarmem Sandboden.
Jeder Baum entwickelt deshalb ein ganz eigenes Jahrringmuster, das von seiner Art und seinem Standort abhängt. darüber hinaus jedoch von regionalen Einflüssen bestimmt wird – wie der genetische Fingerabdruck eines Menschen, der immer die Art Homo sapiens ausweist, bestimmte Familienmerkmale zeigt, aber trotzdem stets individuell ausgeprägt ist.
Synchronisation führt zu „Fieberkurve“
Um die Daten einzelner Bäume für eine Referenzchronologie so zusammenzufassen, dass sie einen langen Zeitraum und ein möglichst großes Gebiet abdecken, müssen die Baumringsequenzen verschiedener Holzstücke miteinander synchronisiert werden. Sind die Baumringe des Jahres 1879 in drei Holzstücken jeweils fünf, sechs und drei Millimeter breit, ergibt sich dadurch ein Mittelwert von 4,6 Millimetern. Aus allen synchronisierten Jahrringen entsteht dann eine Art Fieberkurve, die die gesamte „Krankheitsgeschichte“ aller Bäume derselben Art aus der gleichen Gegend exakt nachzeichnet, auch wenn die Fieberschübe einzelner Bäume stärker oder schwächer ausfallen. Das charakteristische Ringmuster der Jahre bleibt erhalten, und die Kurve kann als Referenz für alle Holzfunde einer Art aus dieser Gegend dienen.
Ewige Suche nach dem Missing Link
Ein ewiges Problem der Dendrochronologie ist das Fehlen einzelner Puzzleteile. So wie Douglass einst nach seinem Missing Link suchte, sind heute Hunderte von Wissenschaftlern in der ganzen Welt permanent dabei, ihre Jahrringreihen zu vervollständigen. Häufig gelingt es zunächst, große Einzelstücke einer Chronologie zu erstellen, die in sich zeitlich korrekt geordnet sind. Sie erlauben eine relative Datierung, das heißt, ein Holzstück vom Anfang der Chronologie muss älter sein als eines am Ende. Eine sichere Angabe von Jahreszahlen, die so genannte absolute Datierung, ist jedoch nicht möglich. Diese losgelösten Sequenzen nennt man deshalb auch schwebende oder schwimmende Chronologien. Im Gegensatz dazu sind die absoluten Chronologien lückenlos an die Gegenwart angeschlossen und lassen deshalb genaue Aussagen über das Alter von Holzfunden zu.
Weiserjahre erlauben Vergleich
Egal, ob die Lücke einer Standardchronologie geschlossen werden soll oder ein Holzfund zu datieren ist, als sichere Referenzzeichen beim Vergleich von Jahrringsequenzen dienen markante Besonderheiten in den Baumringen. So genannte Weiser- oder Ereignisjahrringe können zum Beispiel durch ein Hochwasser entstanden sein, das in einem Jahr alle Bäume in der Nähe eines Flusses betroffen hat. Auch auffällige Ringmustersequenzen eignen sich. Tritt zum Beispiel ein Ringmuster von zehn extrem engen Ringen gefolgt von zwei sehr breiten und wieder sechs schmalen Ringen wiederholt bei mehreren Holzstücken auf, weist dies nicht nur darauf hin, dass das Holz zu einem Bestand – und damit zu einer Chronologie – gehört, sondern auch, dass alle diese Bäume zehn Jahre unter schlechten Wachstumsbedingungen durch Kälte oder Trockenheit gelitten haben, danach zwei sehr gute und wieder sechs schlechte Jahre hatten.
Stand: 05.11.2004