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Geowissen

„Sauerstofflawine“ versorgt Tiefenwasser

Neuen Mechanismus der Sauerstoffaufnahme im Genfer See entdeckt

Wasseruntersuchungen am Genfer See © Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Damit die Wasserqualität eines Sees erhalten bleibt, muss auch das Tiefenwasser wenigstens manchmal mit Sauerstoff versorgt werden. Jetzt haben Forschende der ETH Lausanne mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds im Rahmen einer mehrjährigen Studie im Genfer See neben der normalen Konvektion einen weiteren, bisher unbekannten „Atmungsmechanismus“ entdeckt. Gleichzeitig registrierten sie auch die möglichen Veränderungen durch die Klimaerwärmung.

Im Winter 2004-2005 konnte der Genfersee seine untersten Schichten in einer Tiefe von fast 300 Metern so stark mit Sauerstoff versorgen, wie es Professor Ulrich Lemmin und sein Forschungsteam vom Labor für Umwelthydraulik der ETH Lausanne seit Langem nicht mehr beobachtet hatten. Dieses erfreuliche Zwischenspiel kann jedoch einen beunruhigenden Trend nicht kaschieren: Die Klimaerwärmung hat wegen den erheblich höheren Durchschnittstemperaturen im Winter die Sauerstoffaufnahme des Sees in den letzten Jahren gebremst.

Mit technischen Hilfsmitteln verfolgten die Wissenschaftler die Wasserbewegungen im Genfersee, die für diesen Vorgang verantwortlich sind. Um den Transport der Wassermassen zu verfolgen, mussten sie die Messgeräte an mehrere Stellen in unterschiedlichen Tiefen platzieren. Nachdem die gesammelten Daten vereint und im Computer ausgewertet waren, zeigten sich die Seebewegungen am Bildschirm in ihrer ganzen Komplexität. Am deutlichsten war eine Bewegung auszumachen, die „Konvektionsschleife“ getauft wurde, doch auch einen neuen, bisher unbekannten Mechanismus des Sauerstofftransports entdeckten die Wissenschaftler.

300 Meter dicke Cremeschnitte

Man kann sich den See als eine Art Cremeschnitte vorstellen, die aus Wasserschichten mit unterschiedlicher Temperatur und entsprechender Dichte besteht. An der Oberfläche sind die Temperaturschwankungen im Jahresverlauf am größten: Die Temperaturen reichen von über 20°C im Sommer bis hin zum Gefrierpunkt in einem strengen Winter. Nun macht sich gerade im Winter die Konvektionsschleife bemerkbar, wenn nämlich die Temperatur des Oberflächenwassers unter den Temperaturwert der tiefen Wasserschichten sinkt, der immer um 5,5°C beträgt.

“In der Physik der Flüssigkeiten ist eine tiefere Temperatur im Allgemeinen mit einer größeren Dichte gleichzusetzen“, erklärt Ulrich Lemmin. „Folglich tauchen die obersten Schichten in die Tiefe ab, sobald sie genügend kalt sind.“ Der Sauerstoff, den diese Schichten reichlich enthalten, erweist sich nun als Segen für die Wasserqualität des Sees. Wenn totes pflanzliches und tierisches Material auf den Seegrund sinkt, werden für den Abbau dieses organischen Materials durch aerobe Bakterien erhebliche Mengen von Sauerstoff benötigt. Wenn nicht genügend Sauerstoff zur Verfügung steht, können die Bakterien ihren Reinigungsdienst nicht mehr versehen. Dann sammeln sich organische Stoffe und auch Schadstoffe wie Phosphor in den Sedimenten an, was den See aus dem Gleichgewicht bringen kann.

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Sauerstoffkaskade in seichter Uferzone

Um den Prozess der Sauerstoffaufnahme ganz zu verstehen, müssen aber noch weitere Mechanismen in Betracht gezogen werden. Sind die Konvektionsschleifen vielleicht nicht allein für die Durchmischung der Schichten verantwortlich? Und falls weitere Mechanismen beteiligt sind: Reagieren diese ebenfalls sensibel auf Temperaturschwankungen der Atmosphäre?

Ulrich Lemmin und sein Team ließen sich von Beobachtungen im Labor inspirieren und stellten weitere Nachforschungen an. Dabei entdeckten sie tatsächlich weitere Prozesse, die eine Durchmischung des Sees bewirken. Sie interessierten sich insbesondere für die Uferzonen des Genfersees, wo die Tiefe über einen mehrere Dutzend Meter breiten Gürtel kaum mehr als fünf Meter erreicht. Diese Zone ist zum Beispiel stark ausgeprägt zwischen Genf und Lausanne, auch „Kleiner See“ genannt. Aufgrund der geringen Tiefe kühlt das Wasser dort schnell ab, erhält dadurch eine größere Dichte, strömt seewärts und stürzt wie eine Lawine über die Abhänge des Seegrunds und sammelt sich in der Tiefe des Kleinen Sees.

Dritten „Atmungsmechanismus“ entdeckt

Schließlich konnten die Forschenden einen weiteren Mechanismus nachweisen, der zur Sauerstoffversorgung der tieferen Seeschichten beiträgt. „Bestimmte Messungen machten uns hellhörig. Die Daten reichten aber noch nicht aus. Durch Versuche im Labor konnten wir den Vorgang aber rechnerisch modellieren. Wir sind inzwischen überzeugt, dass ein dritter Mechanismus zur Durchmischung des Sees beiträgt, der eng mit dem zweiten zusammenhängt, mit jener Kaskade also, die den Untiefen der Uferzone entspringt.“

Tatsächlich haben die ursprünglich aus der Uferzone stammenden kalten Wassermassen erst einen Teil ihrer Reise hinter sich, wenn sie im Winter am Grund des Kleinen Sees angelangt sind. Ihr Ziel ist ein noch tieferer Punkt, weiter im Osten des Sees: ein Becken, das bis zu 300 Meter tief ist. Die sauerstoffreichen Wassermassen verlassen den Kleinen See langsam und gleiten noch tiefer in den Abgrund.

Damit ist nun bekannt, dass der Genfersee auf verschiedene Arten „atmet“. Diese Entdeckung hilft nicht nur, den größten See der Schweiz und Westeuropas besser zu schützen, sondern auch andere Süßwasserflächen, die durch menschliche Aktivitäten und die Klimaerwärmung hart auf die Probe gestellt werden.

(Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, 11.01.2006 – NPO)

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