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Gesellschaft

Woher stammen unsere Sprachen?

Neue Studie klärt Streit um Herkunft und Alter der indoeuropäischen Sprachfamilie

Sprachen
Die meisten europäischen Sprachen, aber auch Indisch, Iranisch oder Paschtu gehren zu einer Sprachfamilie. Aber wo und wann entstand sie? © ivosar/ Getty images

Woher stammt unsere indoeuropäische Sprachfamilie – aus der Steppe oder aus Anatolien? Und wann entstand sie? Beide Fragen haben Forschende nun geklärt. Das überraschende Ergebnis: Beide bisher konkurrierenden Hypothesen lagen richtig – aber nur zum Teil. Demnach entstand das Indoeuropäische zwar schon vor mehr als 8.000 Jahren in Anatolien, aber das Deutsche und die meisten europäischen Sprachen entwickelten sich aus einem Steppen-Abzweig dieser Ursprache. Dieser wurde erst vor rund 5.000 Jahren von Steppennomaden nach Europa gebracht.

Ob Deutsch, Italienisch, Griechisch oder Urdu und Sanskrit – all diese Sprachen haben eine Gemeinsamkeit: Trotz ihrer Verbindung mit ganz unterschiedlichen Kulturen gehören sie alle zur indoeuropäischen Sprachfamilie. Fast die Hälfte der Menschheit spricht heute eine zu dieser Gruppe gehörende Sprache.

Zwei konkurrierende Szenarien

Doch wo lag der Ursprung dieser Sprachen? Und wann entstand die indoeuropäische Ursprache? Bisher gab es dazu zwei konkurrierende Szenarien. Der Steppen-Hypothese zufolge entstand das Indoeuropäische vor rund 5.500 bis 6.500 Jahren bei Reiternomaden in der eurasischen Steppe. Als diese Steppenvölker dann in der Bronzezeit bis nach Mitteleuropa vordrangen, brachten sie nicht nur ihren genetischen Einfluss und viele neue Kulturtechniken mit, sondern hinterließen auch ihre Sprache.

Demgegenüber steht die Ackerbauer-Hypothese. Nach dieser entwickelte sich die Urform des Indoeuropäischen schon vor mehr als 9.000 Jahren zusammen mit der Landwirtschaft in Anatolien. Als dann von dort die ersten neolithischen Bauern nordwärts nach Europa zogen, hatten sie auch ihre Sprache im Gepäck. Für beide Hypothesen gibt es Indizien, die sich unter anderem aus DNA-Analysen und dem Vergleich typischer Silben und Lautfolgen der Sprachen ergeben. Aber welches Szenario stimmt? Bisher blieb dies strittig.

Stammbaum des Indoeuropäischen rekonstruiert

Jetzt hat ein Team von mehr als 80 Linguisten um Paul Heggarty vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig diese Frage neu aufgerollt und die bisher umfassendste Vergleichsanalyse indoeuropäischer Sprachen unternommen. Dafür verglichen die Forschenden einen Kernwortschatz aus 161 indoeuropäischen germanischen Sprachen, darunter auch den von 52 alten, teilweise schon ausgestorbenen Sprachen.

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Für den Vergleich nutzten Heggarty und sein Team eine neue, sogenannte Bayes’sche Analyse, um zu prüfen, ob alte geschriebene Sprachen, wie das klassische Latein und das vedische Sanskrit direkte Vorfahren der modernen gesprochenen romanischen und indischen Sprachen sind. Dies ermöglichte eine genauere Rekonstruktion der Sprachstammbäume und ihrer Wurzeln. Unsere Chronologie ist über eine Vielzahl von alternativen phylogenetischen Modellen und Sensitivitätsanalysen hinweg robust“, sagt Heggartys Kollege Russell Gray.

Neues Szenario zum Indoeuropäischen
Ausbreitung der indoeuropäischen Sprachen: Vom Ursprung südlich des Kaukasus vor rund 8.100 Jahren breiteten sich einige Sprachstämme schon in der Jungsteinzeit mit der Landwirtschaft aus. Ein Sprachast gelangte damals in die Steppe und wurde dann in der frühen Bronzezeit zum Ursprung der meisten europäischen Sprachen. © P. Heggarty et al./ Science (2023)

Ursprache entstand schon vor 8.100 Jahren

Die Analysen ergaben: Beide Hypothesen haben zum Teil Recht, aber keine beschreibt die gesamte Entwicklung der indoeuropäischen Sprachfamilie. „Alte DNA und Sprachphylogenetik legen nahe, dass die Lösung des 200 Jahre alten indogermanischen Rätsels in einer Mischung aus der Ackerbau- und der Steppenhypothese liegt“, sagt Gray. So ist das Indoeuropäische deutlich älter als es die Steppen-Hypothese postuliert. Den neuen Rekonstruktionen zufolge entstand das Proto-Indoeuropäische schon vor rund 8.100 Jahren.

Aber wo lag die Wiege unserer Sprachfamilie? Auch dazu gibt es neue Informationen. Das Team um Heggarty verortet den Ursprung des Indoeuropäischen in der Region südlich des Kaukasus. „Jüngste DNA-Daten weisen darauf hin, dass der anatolische Zweig des Indogermanischen nicht aus der Steppe stammt, sondern von weiter südlich, im oder nahe dem nördlichen Bogen des Fruchtbaren Halbmonds“, berichtet Heggarty. In dieser Hinsicht hat die Anatolien-Hypothese demnach Recht.

Ein Ast nahm den Umweg über die Steppe

Doch die Urform der indoeuropäischen Sprache spaltete sich den Daten zufolge schon vor rund 7.000 Jahren in fünf Hauptäste auf, von denen sich nur einige schon mit den neolithischen Bauern über Eurasien ausbreiteten. Zu diesen alten Stämmen des Indoeuropäischen gehören demnach das Indo-Iranische, Albanisch, Armenisch und Altgriechisch sowie Anatolisch. Ein Zweig dieses Ur-Indoeuropäischen gelangte zu dieser Zeit auch nordwärts in das Gebiet der eurasischen Steppe.

Dieser Steppenzweig des Indoeuropäischen war es dann, der in der frühen Bronzezeit mit den Steppenreitern westwärts nach Europa kam und aus dem die meisten heutigen Sprache Europas hervorgingen – auch das Deutsche. Sie haben demnach ihren – sekundären – Ursprung tatsächlich in der Steppe. „Unsere Ergebnisse zeigen volle Bestätigung dafür, dass einige der Hauptzweige der Indoeuropäischen Sprachen bis vor etwa 4.500 bis 5.000 Jahren eine gemeinsame Wurzel besaßen“, berichten die Forschenden.

Gesamtbild jetzt komplett

Nach Ansicht der Wissenschaftler vereint dieser neue Stammbaum des Indoeuropäischen nun die zuvor konkurrierenden Hypothesen und zeichnet damit ein vollständigeres Bild der Entwicklung unserer Sprachfamilie. „Dies ist ein großer Schritt weg von den sich gegenseitig ausschließenden, früheren Szenarien hin zu einem plausibleren Modell, das archäologische, anthropologische und genetische Erkenntnisse integriert“, erklärt Koautor Wolfgang Haak vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. (Science, 2023; doi: 10.1126/science.abg0818)

Quelle: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Universität Bamberg

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