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Verhaltensforschung

Maschinelles Lernen trifft auf Verhalten und Neurowissenschaften

Max-Planck-Institut für Psychiatrie

Ein neues Computerprogramm ermöglicht es Wissenschaftlern, das Verhalten mehrerer Tiere gleichzeitig und über einen längeren Zeitraum hinweg zu beobachten, indem es ihre Bewegungen analysiert. Was sich liest wie eine Selbstverständlichkeit, dürfte einen Meilenstein markieren. Denn bisher war es nicht möglich, solche komplexen Beobachtungen wissenschaftlich standardisiert auszuwerten.

Man stelle sich einen Forscher im 19. Jahrhundert vor, mit Tropenhelm, wie er Tiere in natürlicher Umgebung beobachtet. Oder den Max-Planck-Veteran Konrad Lorenz in den 70er Jahren, wie er nahe am Starnberger See seine Graugänse verfolgt – der Anfang der Verhaltensforschung: beobachten und aufschreiben, was man sieht. Im nächsten Schritt ging es ins Labor, standardisierte Umgebungen wurden geschaffen, Vergleichbarkeit hergestellt. ForscherInnen gewannen unschätzbare Erkenntnisse, doch sie waren immer begrenzt: Die Umgebung und der Testaufbau, die Anzahl der Tiere und die Dauer der Beobachtung, all das entsprach nicht der Komplexität von individuellem oder sozialem Verhalten. Tierisches Verhalten zu beobachten, hilft ForscherInnen, zu verstehen, wie die Tiere auf gesetzte Reize reagieren. Darüber hinaus benötigen sie dies, um psychische Störungen beim Menschen besser verstehen zu können, um dann wiederum bessere und individuellere Therapien zu entwickeln.

Vor einigen Jahren gelang WissenschaftlerInnen mit der Open-Source-Toolbox DeepLabCut ein Durchbruch: Sie versetzte sie nicht nur in die Lage, den Körpermittelpunkt einzelner Tiere in einfachen Umgebungen zu verfolgen, sondern die komplexe Körperhaltung mehrerer Tiere anhand verschiedener Punkte in realen Umgebungen automatisch zu erkennen. Dies machte den Weg frei für die Entwicklung neuer Programme, die Informationen aus diesen Daten extrahieren können. Denn die bloße Erfassung der Körperhaltung ist noch nicht dasselbe wie die Analyse der zugrunde liegenden Verhaltensweisen.

Bewegung in Zusammenhang mit Verhalten setzen

An diese Aufgabe machten sich zwei Forschungsgruppen am Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Die Teams um Mathias Schmidt und Bertram Müller-Myhsok entwickelten das Python-Programm DeepOF, das die individuellen Körperpunkte über einen längeren Zeitraum in Verbindung mit „Verhalten“ bringt. So können sie das Verhalten der Tiere, in ihrem Fall Mäuse, in einer semi-natürlichen Umgebung über einen beliebigen Zeitraum analysieren. Dabei verfolgten sie zwei verschiedene Ansätze.

In einer vordefinierten Analysepipeline werden Verhaltensweisen auf der Grundlage von Körperhaltungen im Zeitverlauf festgelegt; die gewonnenen Daten können direkt ausgelesen und analysiert werden. „Noch spannender ist die nicht vordefinierte Analysepipeline“, schwärmt Statistiker Müller-Myhsok. „Unser Programm sucht Verhaltensepisoden, die einander ähneln und qualifiziert sie.“ Biologe Mathias Schmidt fügt hinzu: „Dieser Ansatz eröffnet völlig neue Dimensionen – wir können ohne Hypothese in solch einen Test gehen, um komplexes Sozialverhalten automatisiert zu untersuchen und erhalten hochinteressante Ergebnisse.“

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Ein solches Programm eröffnet ganz neue Möglichkeiten und bringt die Verhaltensbiologie was ihre Komplexität angeht, auf Augenhöhe mit molekularen oder funktionalen biologischen Analysemethoden. „Wir können unsere Ergebnisse in Zukunft besser mit anderen Messwerten wie EEG-Ableitungen, Daten zur neuronalen Aktivität oder Biosensordaten kombinieren“, berichtet Biologe Joeri Bordes. Lucas Miranda hat das Programm DeepOF geschrieben. Er ist begeistert von „open science“, denn „so steht unser Programm ForscherInnen auf der ganzen Welt kostenfrei zur Verfügung, unser Code ist natürlich offen und jeder ist willkommen, zum Projekt beizutragen.“

Die Fachzeitschrift Nature Communications hat dem Programm nun durch die Veröffentlichung der Studie der Teams sozusagen ein unabhängiges Gütesiegel verliehen. Darüber hinaus wurden gründliche Code- und Funktionsprüfungen durch das Journal of Open Source Software (JOSS) durchgeführt. Auch für das Tierwohl bedeutet das Programm eine Verbesserung: Tiere müssen weniger Versuchen ausgesetzt werden. Letztendlich stellt die detaillierte Analyse von Verhalten in dieser Form einen wichtigen Schritt zur besseren Übersetzung der Daten hinsichtlich der Erforschung menschlicher Erkrankungen und ihrer Behandlung dar. (Nature Communications, 2023; doi: 10.1038/s41467-023-40040-3)

Quelle: Max-Planck-Institut für Psychiatrie

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