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Gesellschaft

(Fremd-)Sprache verändert Moral

In einer fremden Sprache sind wir eher bereit, einen Menschen für das Wohl anderer zu opfern

Würde man einen Menschen opfern, um fünf vor vor einem heranrasenden Zug zu retten? © freeimages

Kurioser Spracheffekt: Wenn wir ein moralisches Dilemma in einer Fremdsprache präsentiert bekommen, entscheiden wir anders als in unserer Muttersprache. Das belegt jetzt ein Experiment. In einer Fremdsprache gefragt, sind wir eher bereit, aktiv einen Menschen zu opfern, um fünf andere zu retten. Wird uns die gleiche Entscheidung in unserer Muttersprache abverlangt, scheuen wir uns vor diesem „Mord für einen guten Zweck“.

Es ist ein klassisches Szenario, um moralische Entscheidungen abzufragen: Stellen Sie sich vor, sie stehen auf einer Fußgängerbrücke über einem Bahngleis und in der Ferne kommt ein Zug. Auf dem Gleis sind fünf Menschen, die ihrem sicheren Tod entgegensehen. Sie allein können sie retten – wenn Sie einen neben sich stehenden korpulenten Mann in den Weg des Zuges werfen. Wird er geopfert, hält dies den Zug auf und rettet die fünf. Würden Sie das tun?

In der Fremdsprache zum Mord bereit

Genau diese Frage stellten Albert Costa von der Pompeu Fabra Universität in Barcelona und seine Kollegen 725 Versuchspersonen aus den USA, Spanien, Korea, Frankreich und Israel. Das Besondere daran: Einem Teil der Probanden wurde das Szenario in ihrer Muttersprache präsentiert, den anderen aber in der jeweils anderen Sprache – die sie zwar beherrschten, die aber nicht ihre Muttersprache war.

Das Ergebnis war erstaunlich: In ihrer Muttersprache gefragt, taten sich die meisten schwer, einen Menschen aktiv zu opfern, um die fünf auf dem Gleis zu retten. Ein Grund dafür: Dieses Handeln widerspricht dem tief verwurzelten moralischen Gebot: Du sollst nicht töten. Anders in der Fremdsprache: „Diejenigen, die eine fremde Sprache benutzten, waren doppelt so häufig bereit, rational für das Wohl der Mehrheit zu entscheiden“, berichtet Costa.

Die Ergebnisse der beiden Szenarien im Vergleich: Bei der Weiche (links) gibt es kaum Unterschiede zwischen Mutter- und Fremdsprache. Bei dem Herunterstoßen eines Mannes von der Brücke aber schon. © Costa et al. / PLOS ONE

Emotionen beeinflussen Entscheidung

Nach Ansicht der Forscher liegt der Grund für diese Diskrepanz in den Emotionen: „Menschen haben weniger Angst vor Verlusten, sind risikobereiter und weniger emotional verbunden, wenn sie in einer fremden Sprache denken“, erklärt Koautor Boaz Keysar von der University of Chicago. Der Grund: Die Muttersprache wird als Kind in der Familie gelernt und ist von Anfang an eng mit Gefühlen und der Kultur, in der wir leben verbunden. Eine Fremdsprache wird in einem Klassenraum unter meist sehr sachlichen Bedingungen gelernt. Dadurch ist sie weniger stark mit Emotionen verknüpft.

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Um diese Hypothese zu prüfen, führten die Forscher einen zweiten Test durch. Die Probanden bekamen ein sehr ähnliches Szenario, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Um die fünf Menschen im Gleis zu retten, mussten sie nicht selbst jemanden über das Geländer werfen. Diesmal gab es eine Weiche, legten sie diese um, fuhr der Zug auf ein Gleis, in dem nur ein Mensch stand. Die fünf Menschen auf dem anderen Gleis wurden so gerettet.

Wirkung auch auf Politik und Rechtsprechung

Dieses Szenario ist weniger emotional befrachtet, wie die Forscher erklären. Der innere Abstand zu demjenigen, den man zum Wohle der fünf opfern muss, ist größer. Tatsächlich fiel den Probanden die Entscheidung zugunsten der Mehrheit diesmal leichter: 80 Prozent entschieden sich, die Weiche umzulegen und den Einzelnen damit zu opfern. Und diese Entscheidung fiel in Muttersprache und Fremdsprache gleich häufig: Die große Mehrheit entschied sich für die rationale Option, fünf zu retten statt nur einen.

„Diese Studie zeigt uns, dass moralische Entscheidungen davon beeinflusst werden können, in welcher Sprache wir sie treffen“, erklärt Costa. Dieser Tatsache müsse man sich bewusst sein. Wichtig könnte dieses Wissen vor allem dann sein, wenn es um Entscheidungen beispielsweise bei Gericht oder in der Politik geht. So werden bei den Vereinten Nationen, in der EU und in internationalen Unternehmen viele Verhandlungen und Entscheidungen in Englisch gefällt – und damit für viele Teilnehmende in einer Fremdsprache. „Bei Gericht geht ein Jurymitglied mit einem Migrationshintergrund möglicherweise anders an eine Entscheidung heran als ein Muttersprachler“, so der Forscher. Das Wissen darum könnte eine wertvolle Hilfe sein, um Entscheidungen einordnen zu können. (PLSO ONE, 2014; doi: 10.1371/journal.pone.0094842)

(University of Chicago, 29.04.2014 – NPO)

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