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Neurobiologie

Neandertaler-Gehirn wuchs anders

Unterschiedliche Gehirnentwicklung im ersten Lebensjahr bei Neandertalern und modernen Menschen

Bei der Geburt sind die Gehirne von Neandertalern und modernen Menschen noch sehr ähnlich. Die Rekonstruktion des Schädels eines Neandertalerkindes neben dem eines modernen Menschenkindes. Abgüsse der inneren Schädelkapsel (Neandertaler: rot; moderner Mensch: blau) geben Aufschluss über Größe und Gestalt der Gehirne. © MPI für evolutionäre Anthropologie

Neandertaler und moderner Mensch hatten als Erwachsene sehr ähnliche Gehirne – nicht aber als Säugling. Das enthüllt eine jetzt in „Current Biology“ erschienene Studie. Innenabdrücke fossiler Schädel zeigen, dass die Gehirnentwicklung in dem für die kognitiven Fähigkeiten entscheidenden ersten Lebensjahr bei beiden Menschenformen unterschiedlich verlief. Dies könnte erklären, warum die Neandertaler trotz aller Ähnlichkeiten so anders waren als wir.

Ob es zwischen Neandertalern und modernen Menschen Unterschiede in geistigen und sozialen Fähigkeiten gab, ist eines der großen Streitthemen in der Anthropologie und Archäologie. Da Neandertaler und moderne Menschen ähnlich große Gehirne hatten, waren Forscher bisher davon ausgegangen, dass auch die kognitiven Fähigkeiten dieser Spezies ähnlich waren. „Die Interpretation der archäologischen Funde bleibt umstritten, und die Schädelkapazitäten der Neandertaler und der modernen Menschen waren sehr ähnlich“, erklärt Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA) in Leipzig. „Viele archäologische Befunde deuten auf Unterschiede im Verhalten zwischen modernen Menschen und Neandertalern hin.“

„Endocasts“ zeigen Gehirnstruktur

Bei lebenden Menschen ist jedoch nicht die Schädelgröße, sondern die innere Struktur des Gehirns wichtiger für Intelligenz als dessen Größe. Dieses Muster der Vernetzung im Gehirn wird in den ersten Lebensjahren angelegt. Da Gehirne nicht versteinern, kann man bei Fossilien nur den Innenabdruck des Gehirns und seiner umgebenden Strukturen im Schädel untersuchen. Anhand solcher so genannter Endocasts haben jetzt Forscher am Max-Planck-Institut die Gestaltveränderung des Gehirns von der Geburt bis ins Erwachsenenalter untersucht – beim Neandertaler und dem modernen Menschen.

Zuerst nahmen die Forscher mittels Computertomographie (CT) hochauflösende dreidimensionale Röntgenbilder der Schädel auf. Dann erstellten sie am Computer einen virtuellen Abdruck des Gehirnschädels und nutzten modernste Mess- und Analysemethoden um die Gestaltveränderungen dieser Endocasts im Laufe der Entwicklung zu vergleichen.

Säuglingsschädel als wichtigste Vergleichsobjekte

Das wichtigste Indiz: die Gestalt eines Neandertalerschädels bei der Geburt. Bereits 1914 hatte ein Team französischer Archäologen in der Dordogne das Skelett eines Neandertalerbabys entdeckt. Die fossilen Kinderknochen wurden aber kaum beachtet und schließlich vergessen. Erst 90 Jahre später entdeckte Bruno Maureille die verschollenen Knochen im Lager des Museum von Les Eyzies-de-Tayac-Sireuil in Frankreich wieder. Die zerbrechlichen Fragmente wurden mit zuerst einem hochauflösenden µCT Gerät gescannt und dann im „Virtual Reality“-Labor des Max Planck Institutes in Leipzig rekonstruiert.

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„Zur Zeit der Geburt ist das Gesicht eines Neandertalers bereits größer als das eines modernen Menschen“, erklärt Philipp Gunz. „Die Unterschiede im Gehirn entwickeln sich aber erst nach der Geburt.“ Neandertaler und Homo sapiens haben bei der Geburt längliche Schädel, mit etwa gleich großen Gehirnen. Im Laufe des ersten Lebensjahres entwickelt sich bei modernen Menschen die charakteristisch runde Schädelform.

Nachgeburtliche Entwicklung verläuft unterschiedlich

„Wir konnten zeigen, dass diese frühe Phase der Gehirnentwicklung beim Neandertaler fehlt“, erklärt Gunz. Neandertaler und moderne Menschen erreichen daher ähnliche Gehirnvolumina, aber entlang unterschiedlicher Entwicklungsmuster. In einer früheren Studie hatten die Max-Planck-Forscher die Gehirnentwicklung von modernen Menschen und Schimpansen verglichen. Nachdem die Milchzähne durchgebrochen sind, wachsen deren Gehirne erstaunlich ähnlich. Jedoch direkt nach der Geburt sind die Wachstumsmuster des Gehirns völlig unterschiedlich zwischen modernen Menschen und Schimpansen.

„Entwicklungsmuster, die bei Schimpansen, modernen Menschen und Neandertalern gleich sind, gehen vermutlich auf den gemeinsamen Vorfahren vor vielen Millionen Jahren zurück“, erklärt Simon Neubauer. Im ersten Lebensjahr weichen moderne Menschen von diesem ursprünglichen Entwicklungsmuster ab.

Erste Lebensmonate entscheidend

Den Zeitrahmen des Entwicklungsunterschieds zwischen Neandertalern und modernen Menschen einzugrenzen war entscheidend für die Frage, ob diese Unterschiede im Wachstum kognitiven Unterschieden zu Grunde liegen. Die neue Studie zeigt deutliche Entwicklungsunterschiede direkt nach der Geburt, die vermutlich Auswirkungen auf die neuronale und synaptische Organisation des Gehirns haben. Die Entfaltung kognitiver Fähigkeiten bei Kindern beruht auf der Entwicklung der Gehirnorganisation. Zum Zeitpunkt der Geburt sind die Nervenzellen zwar angelegt, aber noch kaum miteinander verknüpft.

Klinische Studien haben gezeigt, dass in den ersten Lebensjahren selbst geringfügige Abweichungen im Muster der Gehirnentwicklung die Struktur des Gehirns und damit Kognition und Verhalten beeinflussen. Die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Gehirnregionen, die in dieser Zeit bei modernen Menschen geknüpft werden, sind wichtig für soziale, emotionale und kommunikative Fähigkeiten. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Neandertaler die Welt so wahrgenommen haben wie wir.

Gene für Gehirnentwicklung verschieden

Die neue Studie zeigt, dass moderne Menschen sich durch eine frühe Phase der Gehirnentwicklung von Neandertalern unterscheiden. Erst kürzlich ergab ein genetischer Vergleich von modernen Menschen und Neandertalern: Der moderne Mensch unterscheidet sich vom Neandertaler durch einige Gene, die wichtig für die Gehirnentwicklung sind.

„Wir haben Unterschiede im Wachstumsmuster des Gehirns entdeckt, die kognitiven Unterschieden zwischen modernen Menschen und Neandertalern zu Grunde liegen könnten“, so Gunz. „Vermutlich können wir daraus aber mehr über unsere eigene Spezies lernen als über Neandertaler: Wir hoffen, dass unsere Ergebnisse dazu beitragen werden, die Funktion der Gene zu verstehen, die uns vom Neandertaler unterscheiden.“

(Max-Planck-Gesellschaft, 10.11.2010 – NPO)

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