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Medizin

Unser Gehirn ist heißer als gedacht

Temperatur im Hirninneren kann bei Gesunden 40 Grad überschreiten

Hirntemperaturen
Unser Gehirn ist wärmer als der Rest unseres Körpers. Im Hirninneren können die Temperaturen sogar 40 Grad überschreiten. © N. Rzechorzek/ MRC LMB/Brain

Dauerfieber im Denkorgan: Unser Gehirn ist deutlich wärmer als der Rest unseres Körpers, wie Messungen erstmals enthüllen. Im Schnitt ist das Denkorgan 38,5 Grad warm, das Hirninnere kann sogar Temperaturen von mehr als 40 Grad erreichen. Doch was im Rest des Körpers Fieber wäre, ist für das Gehirn offenbar die normale Arbeitstemperatur. Nur nachts kühlt es um rund ein Grad ab. Bei Frauen ist das Gehirn in einigen Teilen des Menstruationszyklus zudem 0,4 Grad wärmer als das der Männer.

Unser Gehirn ist das sensibelste und energiehungrigste Organ im Körper: Fehlt es ihm an Sauerstoff, Nährstoffen oder Ruhezeiten, gerät die Hirnfunktion durcheinander, im schlimmsten Fall droht das Absterben ganzer Hirnareale. Auch Überhitzung gilt als fatal, weshalb hohes Fieber oft ein Delirium oder sogar Krampfanfälle hervorrufen kann.

Hirntemperatur
Die Temperaturen des Gehirns liegen deutlich über denen des Körpers, hier gemessen bei einer Frau am Nachmittag. © N. Rzechorzek/ MRC LMB/Brain

Spezielle Hirnscans enthüllen Hirntemperatur

Doch wo liegt die normale Arbeitstemperatur unseres Gehirns? „Die Hirntemperatur wird nur selten direkt gemessen, weil dafür invasive Methoden nötig sind“, erklären Nina Rzechorzek vom MRC Laboratory of Molecular Biology in Cambridge und ihre Kollegen. Zwar gibt es einige Messwerte von schwerkranken Patienten auf Intensivstationen oder bei Hirn-OPs, für gesunde Menschen fehlten solche Messungen jedoch. „In der Praxis wird daher angenommen, dass die Temperatur des Gehirns der des Körperkerns entspricht“, so Rzechorzek.

Aber stimmt das auch? Um das zu überprüfen, haben die Forschenden je 20 gesunde Männer und Frauen im Alter von 20 bis 40 Jahren speziellen Hirnscans in Form der Magnetresonanzspektroskopie (MRS) unterzogen. Mit dieser Methode können normalerweise bestimmte Stoffwechselprodukte in Geweben nachgewiesen werden, sie eignet sich aber auch zur Temperaturbestimmung. Alle Testpersonen wurden jeweils morgens, nachmittags und am späten Abend gescannt.

Um den persönlichen Biorhythmus und den Chronotyp der Teilnehmenden zu bestimmen und die Messzeiten darauf abzustimmen, hatten zuvor alle Testpersonen einige Tage lang ein Sensorarmband getragen, dass ihre Aktivitäten aufzeichnete.

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Gehirn im „Dauerfieber“

Das Resultat ist die erste 4D-Karte der menschlichen Hirntemperaturen – und diese ergab Überraschendes: Anders als bisher angenommen war das Gehirn der Testpersonen deutlich wärmer als der Rest ihres Körpers. Im Schnitt lagen die Hirntemperaturen tagsüber bei 38,5 Grad. Einige Areale im Inneren des Denkorgans waren aber sogar noch heißer: Im Hypothalamus und anderen zentralen Hirnregionen registrierten die Forschenden Werte von bis zu 40,6 Grad.

„Das erstaunlichste Ergebnis war für mich, dass das gesunde menschliche Gehirn Temperaturen erreichen kann, die überall woanders im Körper als Fieber diagnostiziert werden würden“, sagt Rzechorzeks Kollege John O’Neill. „Solche hohen Hirntemperaturen wurden zuvor zwar schon bei Patienten mit Hirnverletzungen gemessen, aber man dachte, dass dies auf die Verletzungen zurückgeht.“ In den aktuellen Scans traten diese hohen Temperaturen jedoch bei jungen gesunden Menschen auf – und dies auch dann, wenn ihr Gehirn in Ruhe war und die Testpersonen sogar im Scanner einschliefen.

Tagesverlauf
Temperatur verschiedener Hirnregionen im Tagesverlauf bei Frauen in der zweiten Zyklushälfte (oben) und bei Männern. © N. Rzechorzek/ MRC LMB/Brain

Tageszeitliche Schwankungen

Die Hirnscans enthüllten zudem einen deutlichen Tagesrhythmus der Hirntemperaturen: „Wir haben festgestellt, dass die Hirntemperatur nachts kurz vor dem Schlafengehen absinkt und dann tagsüber wieder ansteigt“, berichtet O’Neill. Im Schnitt ist das Gehirn demnach in der zweiten Nachthälfte am kühlsten und am Nachmittag am wärmsten. Am größten sind die Tag-Nacht-Unterschiede dabei im Hirninneren: Im Hypothalamus liegt die Schwankungsbreite bei 1,21 Grad, wie das Team ermittelte.

Auch das Alter beeinflusst die Temperatur unseres Gehirns: Bei 40-jährigen Testpersonen war das Gehirn im Schnitt rund 0,6 Grad wärmer als bei den 20-jährigen Teilnehmenden. Diese Unterschiede zeigten sich besonders deutlich im Hirninneren. Mit dem Alter nahmen zudem die tageszeitlichen Schwankungen ab. „Das spricht dafür, dass die nächtliche Kühlung bei älteren Menschen weniger effizient ist und der Tagesrhythmus dadurch gedämpft wird“, erklären die Wissenschaftler.

Bei Frauen ist das Gehirn zeitweise wärmer

Das Geschlecht und im Speziellen der Menstruationszyklus der Frauen spielt ebenfalls eine Rolle für die Temperatur des Denkorgans: In der zweiten Hälfte ihres Zyklus haben Frauen ein im Schnitt um 0,4 Grad wärmeres Gehirn als Männer, das Hirninnere ist sogar 0,86 Grad heißer, wie die Scans enthüllten. Außerdem sind auch die tageszeitlichen Schwankungen bei Frauen nach dem Eisprung etwas geringer als bei den Männern.

Dies führen Rzechorzek und ihre Kollegen zum Teil auf die Wirkung der Hormone zurück, die den Menstruationszyklus regeln. „Vom Progesteron ist bekannt, dass es einen thermogenischen Effekt hat“, erklären sie. Das ab dem Eisprung ausgeschüttete Hormon bewirkt eine Erhöhung der Körpertemperatur um rund 0,4 bis 0,6 Grad. Die aktuellen Messungen belegen, dass dies auch für das Gehirn gilt.

Erste Wärmekarte für das gesunde Gehirn

Insgesamt enthüllen diese Daten damit, dass unser Denkorgan keineswegs nur passiv der Körpertemperatur folgt. „Die menschliche Hirntemperatur ist höher und variabler als zuvor angenommen“, konstatieren Rzechorzek und ihr Team. Wie warm unser Gehirn ist, hängt demnach von der Tageszeit, dem Geschlecht, dem Alter, der Hirnregion und dem Menstruationszyklus ab.

Dieses Wissen könnte nun dazu beitragen, Abweichungen vom normalen Wärmehaushalt des Gehirns besser zu erkennen – beispielsweise bei Hirnverletzungen, aber möglicherweise auch bei neurodegenerativen Erkrankungen. „Die neue Wärmekarte könnte unsere Verständnis über die Arbeitsweise des Gehirns transformieren und sie liefert uns eine dringend benötigte Referenz, um Patientendaten damit abzugleichen“, sagt Rzechorzek. (Brain, 2022; doi: 10.1093/brain/awab466)

Quelle: UK Research and Innovation

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