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Biologie

Fadenwurm überlebt 46.000 Jahre im Eis

Forschungsteam entschlüsselt Überlebenstricks der eiszeitlichen Permafrost-Nematoden

Fadenwurm
Dieser Fadenwurm, Panagrolaimus kolymaensis, ist Nachkomme von zwei Tieren, die 46.000 Jahre lang im Permafrost eingefroren waren und wieder zum Leben erwacht sind. © Shatilovich et al./ PLoS Genetics, CC-by 4.0

Eisiger Überlebenskünstler: Im Permafrost Sibiriens haben Forschende einen Fadenwurm entdeckt, der 46.000 Jahre eingefroren war – und wieder zum Leben erwacht ist. Es ist das längste Überdauern, das je bei Nematoden nachgewiesen wurde. Experimente und Genanalysen enthüllen nun, wie die Eiszeit-Fadenwürmer so lange eingefroren überdauern können und womit sie sich vor Kälte und Austrocknung schützen. Der Fund wirft aber auch die Frage auf, wo die Obergrenze für solche Kryptobiosen liegt.

Ob Tardigraden, Rädertierchen oder Fadenwürmer: Im Tierreich gibt es einige Arten, die selbst extreme Kälte, Trockenheit oder Sauerstoffmangel überdauern können. Dafür treten diese Tiere in eine spezielle Ruhephase ein, die Kryptobiose. In diesem Überdauerungszustand ruht der Stoffwechsel weitgehend, gleichzeitig schützen spezielle Moleküle die Zellen und Gewebe davor, Schäden durch Frost oder Austrocknung zu erleiden.

Wie lange Organismen selbst in gefrorenem Zustand überleben können, demonstrieren Funde aus dem Permafrost. Wissenschaftler haben dort schon 1.500 Jahre lang eingefrorene Moose, 700 Jahre alte Viren und 24.000 Jahre alte Rädertierchen gefunden und wiedererweckt.

Fundort
Fundort der Eiszeit-Fadenwürmer: Abbruchkante (B) am sibirischen Kolyma-Fluss, Schema der Schichtfolge (C) und Nahaufnahme des mit fossilen Blättern und organischem Material gefüllten Tierbaus (D).© Shatilovich et al./ PLoS Genetics, CC-by 4.0

46.000 Jahre eingefroren

Jetzt ist ein weiterer Überlebenskünstler hinzugekommen. Ein Team um Anastasia Shatilovich vom Zoologischen Institut in Sankt Petersburg hatte bereits 2018 mehrere eingefrorene Fadenwürmer aus dem Permafrost in der Nähe des sibirischen Kolyma-Flusses geborgen. An einer mehrere Dutzend Meter hohen Abbruchkante treten dort Schichten aus der Eiszeitära zutage, die zehntausende Jahre lang gefroren waren.

In einer 40 Meter tiefen Schicht stießen die Forschenden auf die Reste eines eiszeitlichen Tierbaus, aus dem sie mehrere Proben nahmen. In diesem gefrorenen Material entdeckten sie neben Pflanzenresten und anderem organischen Material auch zwei scheinbar leblose Nematoden. Radiokarbon-Datierungen des Pflanzenmaterials ergaben, dass die Probe mitsamt den Fadenwürmern zwischen 45.839 und 47.769 Jahre alt ist. Die Tiere wurden demnach schon vor dem Höhepunkt der letzten Kaltzeit eingefroren.

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Wiedererweckter Eiszeit-Fadenwurm ist eine neue Art

Das Überraschende jedoch: Als Shatilovich und ihre Kollegen die Fadenwürmer im Labor vorsichtig auftauten, zeigte sich: Die Nematoden lebten noch. Sie begannen wieder, sich zu bewegen und zu fressen, als wäre nichts geschehen. „Damit erweitern diese Tiere die längste jemals bei Nematoden beobachtete Kryptobiose um mehrere zehntausend Jahre“, sagt Seniorautor Teymuras Kurzchalia vom Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden.

Um herauszufinden, wie die Fadenwürmer so lange eingefroren überdauern konnten, hat das Team die beiden Nematoden seither über 100 Generationen hinweg weitergezüchtet und sie umfangreichen physiologischen und genetischen Tests unterzogen. Bei Vergleichen des Genoms dieser Tiere mit dem von bekannten Nematodenarten stellte sich heraus, dass es sich um eine bisher unbekannte Art aus der Gattung Panagrolaimus handelt. Die Panagrolaimus kolymaensis getauften Eiszeit-Fadenwürmer gehören damit zu einer Gruppe von bodenlebenden, parthenogenetischen Nematoden, die schon für ihre Fähigkeit zur Kryptobiose bekannt sind.

Überdauern bei minus 80 Grad

Als nächstes untersuchten die Forschenden, wie die Eiszeit-Fadenwürmer in ihren Überdauerungszustand fallen und unter welchen Bedingungen. Dafür setzen sie Kulturen von Nematoden verschiedener Entwicklungsstadien entweder abrupt oder mit einem kurzen Vorlauf extremen Bedingungen aus: Die Tiere wurden bis auf minus 80 Grad abgekühlt und zusätzlich trockenen und sauerstoffarmen Bedingungen ausgesetzt.

„Ein kleiner Teil der Fadenwürmer überlebte dieses harsche Austrocknen und Gefrieren sogar ohne Präkonditionierung“, berichten Shatilovich und ihre Kollegen. Deutlich höher waren die Überlebensraten jedoch, wenn die Nematoden vor dem Schockfrosten zunächst eine kurze Zeit lang ungünstigen, aber weniger extremen Bedingungen ausgesetzt waren, beispielsweise einem Nahrungsmangel und einer verringerten Luftfeuchtigkeit. Mit einer solchen „Vorwarnphase“ können auch Larven des beliebten Labor-Nematoden Caenorhabditis elegans in eine Kryptobiose verfallen.

Trehalose
Der aus zwei verbundenen Glucosemolekülen bestehende Zucker Trehalose stabilisiert Zellen und Gewebe gegen Austrocknung und Frostschäden. © gemeinfrei

Süßer Schutz gegen Austrocknung und Frostschäden

Nähere Untersuchungen enthüllten: Ähnlich wie die Dauerlarven des Labor-Nematoden stellt auch der Eiszeit-Fadenwurm während der „Vorwarnzeit“ seine Genaktivität und seinen Stoffwechsel um. Dies befähigt ihn dazu, nun große Mengen des Zuckers Trehalose zu erzeugen – die Produktion steigt in dieser Phase um das 20-Fache, wie die Forschenden beobachteten. Die aus zwei verknüpften Glucosemolekülen bestehende Trehalose wird auch von einigen Insekten und den Bärtierchen als Schutz gegen Frostschäden und Austrocknung verwendet.

Die Trehalose stabilisiert die Zellen und Zellwände und verhindert die Bildung zu großer und scharfer Eiskristalle in den Geweben. Dadurch können die Fadenwürmer komplett einfrieren, ohne dass ihre Zellen zerrreißen und die Gewebe „Gefrierbrand“ erleiden. Anders als beim Labor-Nematoden Caenorhabditis elegans können bei der neu entdeckten Eiszeitart Panagrolaimus kolymaensis jedoch alle Lebensstadien den schützenden Zucker produzieren und so selbst lange Phasen von Frost und Trockenheit überdauern.

Gibt es eine Obergrenze für das Überdauern?

„Unsere Forschung demonstriert, dass Nematoden Mechanismen entwickelt haben, die es ihnen erlauben, selbst über geologische Zeitperioden hinweg zu überleben“, schreiben Shatilovich und ihre Kollegen. Das bedeutet auch, dass diese und andere Tiere durch solche Langzeit-Überdauerungen ihre Evolution beeinflussen können: Die Kryptobiose-Pause verlängert ihre Generationszeiten auf Jahrtausende und kann auch vermeintlich ausgestorbene Linien wiederauferstehen lassen.

Der Eiszeit-Fadenwurm wirft aber auch die Frage auf, ob es eine Obergrenze für diese Überdauerung gibt. Die Forschenden vermuten, dass das Überleben solcher Dauerstadien auch davon abhängt, wie stabil die Umweltbedingungen nach dem Einfrieren oder Austrocknen bleiben. „Möglicherweise ist die Dauer der Kryptobiose nur durch drastische Veränderungen der Umwelt limitiert, wie starken Schwankungen der Umgebungstemperatur, der Radioaktivität oder anderen abiotischen Faktoren“, mutmaßen Shatilovich und ihr Team. (PLoS Genetics, 2023; doi: 10.1371/journal.pgen.1010798)

Quelle: PLOS

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