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Physik

Rätselhafte Diskrepanzen

Das Proton stellt sich quer

Die Eigenschaften von Proton und Neutron prägen den Atomkern und sind für viele physikalische Grundprinzipien und Konstanten entscheidend. Umso wichtiger ist es, ihre Merkmale und ihr Verhalten genau zu kennen. Doch das ist weniger leicht, als man denkt – und sorgt noch immer für Probleme.

Von besonderer Bedeutung sind Masse und Radius des Protons, denn sie bestimmen, wie die Elektronen um den Kern kreisen. Daraus ergibt sich wiederum die Rydberg-Konstante, eine Naturkonstante, die den Elementen ihre charakteristischen Ionisierungsenergien und Spektrallinien verleiht. Die Massendifferenz zwischen Proton und Neutron spielt zudem eine entscheidende Rolle für die Stabilität der Atomkerne.

Protonradius
Messungen des Protonradius kamen mehrfach auf Werte, die vom Referenzwert abweichen. © Dr. Yong-Hui Lin/Universität Bonn

Der Protonradius schrumpft

Doch ausgerechnet diese beiden wichtigen Merkmale des Protons werfen Fragen auf. Denn seit Jahren ergeben verschiedene Messmethoden und Experimente abweichende Werte vor allem für den Protonenradius. Der offizielle CODATA-Referenzwert dafür lag seit den 1990er Jahren bei rund 0,8768 Femtometern. Doch im Jahr 2010 detektierte ein deutsches Physikerteam eine Diskrepanz: Bei ihrer Messung des Protonenradius mithilfe der Laserspektroskopie kamen sie auf nur 0,84184 Femtometer – und damit eine eklatante Abweichung von der Referenz.

Dieses Messergebnis sorgte für Aufsehen und heftige Diskussionen. „Nachdem 2010 unsere erste Studie herausgekommen war, fürchtete ich, dass sich ein altgedienter Physiker melden und uns auf einen groben Schnitzer hinweisen würde“, berichtet Randolf Pohl von der Universität Mainz. Sowohl sein Team als auch andere Physikerteams weltweit begannen nun, den Protonenradius mit anderen Messverfahren und Testanlagen nachzumessen – unter anderem 2016 mithilfe einer Laserspektroskopie des Deuteriumkerns, 2017 durch Spektralmessung gleich zweier Energieübergänge am unveränderten Wasserstoff.

Aber die Diskrepanz blieb: Immer wieder kamen Messungen auf einen Protonenradius, der deutlich unter dem Referenzwert lag. Im Jahr 2018 korrigierte daraufhin das CODATA-Gremium den offiziellen Standardwert für den Protonradius nach unten – auf 0,8414 Femtometer. Aber auch dieser Wert blieb zunächst nicht unumstritten. Denn einige Messungen kamen auf noch niedrigere Werte als der neue Referenzwert, andere dagegen auf Werte, die mit dem neuen CODATA-Wert übereinstimmten. Inwieweit diese verbleibenden Diskrepanzen an den Messmethoden liegen oder ob das Proton vielleicht doch noch eine Überraschung parat hält, bleibt vorerst offen.

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Proton
Das bei der Kollision mit dem Elektron erzeugte Lichtteilchen liefert Informationen über die Reaktion des Protons auf elektromagnetische Störungen.© Nikos Sparveris/ Temple University

Rätselhafte Zacken in der Kurve

Das Proton hat aber noch weitere Überraschungen parat. Im Oktober 2022 detektierten Physiker bei diesem Kernbaustein eine unerwartete Reaktion beim Elektronenbeschuss. Gängiger Theorie zufolge müsste das Proton auf Einfluss der geladenen Teilchen und ihres elektrischen Felds mit einer Veränderung seiner internen Ladungsverteilung reagieren: „Die Quarks im Protoneninneren haben negative oder positive Ladungen und bewegen sich daher unter Einfluss eines elektrischen Felds in entgegengesetzte Richtungen“, erklärt Ruonan Li von der Temple University in Philadelphia.

Je stärker der Elektronenbeschuss, desto stärker müsste das Proton polarisierbar sein – so die Annahme. Doch die Messdaten zeigten etwas anders: In der ansonsten gleichmäßigen Kurve trat an einer Stelle ein auffallender Zacken auf. Die Polarisierbarkeit des Protons stieg kurzzeitig an, bevor sie wieder absank. Auch andere, weniger präzise Experimente hatten zuvor schon Ähnliches beobachtet. „Die Messungen sprechen für die Präsenz eines neuen, noch nicht verstandenen dynamischen Mechanismus im Proton – und stellen eine echte Herausforderung für die Kerntheorie dar“, konstatieren Li und seine Kollegen.

Oszillationen im Formfaktor

Als wäre dies nicht genug, zeigen die Kernbausteine noch ein weiteres bisher nicht erklärtes Verhalten. Sowohl beim Neutron als auch beim Proton haben Physiker Oszillationen im sogenannten Formfaktor festgestellt. Er beschreibt, auf welche Weise Teilchen bei elastischen Kollisionen mit Proton oder Neutron abprallen. Weil dies von der Verteilung der elektrischen Ladung und Magnetisierung innerhalb der Nukleonen abhängt, liefert der Formfaktor Hinweise auf ihre innere Struktur. Dies gilt vor allem dann, wenn man den Formfaktor verschieden energiereichen Kollisionen misst.

Der Theorie zufolge müsste sich der Formfaktor relativ gleichmäßig verändern – doch das ist nicht der Fall. Sowohl beim Proton als auch beim Neutron haben Physiker in einem bestimmten Energiebereich statt der erwarteten glatten Linie ein oszillierendes Muster entdeckt. Mit zunehmender Energie wurden die Ausschläge dieser Oszillationen immer kleiner. „Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass es noch nicht verstandene intrinsische Dynamiken in den Nukleonen gibt, die für diese fast orthogonalen Oszillationen verantwortlich sind“, konstatierten die Physiker der BESIII-Kollaboration im Jahr 2021.

Mit anderen Worten: Im Inneren der Kernbausteine geht so einiges vor sich, das die gängigen Modelle bisher nicht erfassen.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Im Atomkern
Reise ins Innere der fundamentalen Bausteine unserer Welt

Magische Zahlenspiele
Wie ist der Atomkern aufgebaut?

Klumpen, Paare und Raser
Im dynamischen Reich der Nukleonen

Der Kleber
Die starke Wechselwirkung und ihre Eigenheiten

Rätselhafte Diskrepanzen
Das Proton stellt sich quer

Das Geheimnis der Seequarks
Teilchengewimmel im Inneren der Kernbausteine

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