Perfekt getarnt: Viele Insekten imitieren Einzelheiten ihrer Umwelt, um den Augen gefräßiger Jäger zu entgehen. Diese als Mimese bezeichnete Strategie ist offenbar viel älter als gedacht. Das offenbart nun ein neu entdecktes Heuschrecken-Fossil aus Frankreich: Die 270 Millionen Jahre alten Überreste des Insekts legen nahe, dass sich das Tier zu Lebzeiten als Blatt tarnte, wie Forscher im Fachmagazin „Nature Communications“ berichten.
Raupen, die Zweige imitieren, Vögel, die ihre Eier an den Untergrund anpassen oder Schnecken, die ihr Haus mit Erdreich tarnen: Beispiele für raffinierte Tarnstrategien gibt es im Tierreich außerordentlich viele. Gerade Insekten, die auf der Blattoberseite von Pflanzen leben, zeichnen sich dabei durch besonderen Einfallsreichtum aus – allen voran die Heuschrecken. Exemplare wie die Wandelnden Blätter oder die Stabschrecken verdanken ihrer meisterhaften Tarntracht sogar ihren Namen.
Der Sinn dieses auch als Mimese bezeichneten Phänomens ist einfach: Indem die Tiere Pflanzen oder den Untergrund nachahmen, schützen sie sich vor Fressfeinden. Fossile Funde belegen, dass frühe Vorfahren heute lebender Heuschrecken diese Strategie bereits vor rund 150 Millionen Jahren anwandten, um den Augen gefräßiger Jäger zu entgehen. Womöglich aber ist das Konzept der Tarntracht noch viel älter. Das legt nun zumindest eine neue Entdeckung nahe.
Fossil bringt zweifache Überraschung
Bei dem Fund handelt es sich um das rund 270 Millionen Jahre alte Fossil des Vorderflügels einer Heuschrecke, das im Südosten Frankreichs entdeckt wurde. Bereits die Überreste des Insekts an sich sind erstaunlich. Denn es ist das älteste bekannte Heuschrecken-Fossil überhaupt und gehört zu einer neuen Art innerhalb der Familie der Laubheuschrecken (Tettigonioidea), wie Wissenschaftler um Romain Garrouste von der Sorbonne Universität in Paris berichten. Bisher waren Experten davon ausgegangen, dass sich diese Insekten erst vor 200 bis 145 Millionen Jahren entwickelten.
Noch interessanter ist jedoch Folgendes: Als die Forscher die Gestalt und Struktur des Flügels untersuchten, stellten sie auffällige Besonderheiten fest. Sowohl die Form als auch die Aderung des Flügels zeigten Modifikationen wie sie auch für Mimese-betreibende Heuschrecken der heutigen Zeit charakteristisch sind. Das Insekt, das war nach der Analyse klar, tarnte sich zu Lebzeiten als Blatt.
Neue Feinde als treibende Kraft
Zwar können die Forscher nicht genau rekonstruieren, welche Pflanze die Heuschrecke imitierte, Eines ist aber trotzdem sicher: Das blattähnliche Flügelfossil rückt den Startpunkt der Evolution der Mimese-Strategie um mindestens 100 Millionen Jahre weiter in die Vergangenheit – vom Zeitalter des Mesozoikums ins Zeitalter des mittleren Perms.
Schon damals müssen die Insekten demnach ähnlichen Bedrohungen ausgesetzt gewesen sein wie ihre modernen Verwandten. „Im mittleren Perm entwickelten sich allmählich immer mehr kleine, insektenfressende Wirbeltiere. Diese Diversifikation übte wahrscheinlich einen nicht unerheblichen Selektionsdruck auf potenzielle Beutetiere aus – und offenbar war dieser groß genug, um die ersten Beispiele für Pflanzen-imitierende Tarntrachten hervorzubringen“, schließt das Team. (Nature Communications, 2016; doi: 10.1038/ncomms13735)
(Nature, 22.12.2016 – DAL)