Technik

Erstes KI-gesteuertes Chemielabor

KI-System ermöglicht Planung und Durchführung chemischer Synthesen ohne Zutun des Menschen

ROboterchemie
Ein neues, KI-basiertes System kann nicht nur chemische Experimente eigenständig planen, es steuert auch die Durchführung in einem robotischen Labor.© Artystarty/ Getty images

Chemie ohne Mensch: Forscher haben erstmals ein KI-System entwickelt, das nicht nur chemische Experimente planen kann – es führt sie auch selbst durch. Die künstliche Intelligenz „Coscientist“ steuert dafür ein robotisches Labor, das die chemischen Arbeitsschritte absolviert, wie das Team in „Nature“ berichtet. In ersten Tests recherchierte und plante die KI eigenständig die Herstellung von Arzneimitteln wie Ibuprofen und entwickelte und realisierte eine komplexe Abfolge von Katalyse-Reaktionen – komplett ohne menschliche Eingriffe.

Lange galt künstliche Intelligenz vor allem als Analysehelfer für große Datenmengen. Doch inzwischen belegen zahlreiche Tests, dass KI-Systeme wie GPT, BARD, CLAUDE und Co mehr können: Sie entwickeln physikalische Gleichungen und mathematische Lösungsalgorithmen, planen Experimente und können sogar Roboter entwerfen und beweisen Kreativität. Bisher übernehmen die KI-Modelle aber immer nur einzelne Schritte im Kontext des wissenschaftlichen Arbeitens.

Aufbau des Coscientist
Aufbau des KI-gesteuerten „Roboterchemikers“ Coscientist. © Boiko et al./ Nature, CC-by 4.0

Recherche, Planung und Umsetzung durch KI

Doch das hat sich nun geändert: Zum ersten Mal haben Forscher eine künstliche Intelligenz entwickelt, die als robotischer Chemiker agiert und im Prinzip komplett ohne Menschen auskommt. „Das KI-System Coscientist entwickelt, plant und realisiert komplexe chemische Experimente mithilfe von autonomer Recherche, Codeerstellung und automatisierter Durchführung“, erklären Daniil Boiko von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh und sein Team.

Nötig ist nur die Eingabe einer Aufgabe, beispielsweise: „Stelle Ibuprofen her.“ Das „Coscientist“ getaufte KI-System recherchiert darauf hin selbstständig im Internet, was Ibuprofen ist und wie es synthetisiert werden kann. Mithilfe dieser Informationen plant die KI die dafür nötigen Reaktionsschritte. Dann folgt die entscheidende Neuerung: Das KI-System initiiert und steuert auf Basis dieser Vorarbeiten auch die Umsetzung des Experiments in einem robotischen Labor.

Von der Recherche bis zum praktischen Umsetzung der chemische Analyse oder Synthese läuft damit alles autonom. „Dies demonstriert, wie zwei neuentwickelte Werkzeuge der Chemie – künstliche Intelligenz und Automatisierung – zu einem noch leistungsfähigeren System vereint werden können“, kommentiert Kathy Covert von der US-National Science Foundation.

GPT-4 als chemischer Entwickler und Planer

Der „autonome Chemiker“ funktioniert durch eine geschickte Kombination mehrerer KI-Module. „Wir haben versucht, alle wissenschaftlichen Aufgaben in einzelne Schritte zu zerlegen und dann Stück für Stück daraus das Ganze zu konstruieren“, erklärt Boiko. Die Basis bildet ein auf dem KI-System GPT-4 von OpenAI basierendes Planer-Modul. Dieses mit dem Internet verbundene Sprachmodell übernimmt die Recherche der chemischen Grundlagen und Reaktionsschritte und erstellt die Experimentplanung.

In ersten Tests gaben Boiko und sein Team der Coscientist-KI beispielsweise die Aufgabe, die chemische Synthese von Verbindungen wie Benzolsäure, Nitroanilin, Phenolphthalein sowie den Schmerzmitteln Ibuprofen, Paracetamol und Aspirin zu planen. Das Ergebnis: „Das auf GPT-4 basierende Modul erreichte Maximalwerte bei Paracetamol, Aspirin, Nitroanilin und Phenolphthalein“, berichten die Forscher. Die Beschreibungen waren demnach korrekt und detailliert genug, um diese Moleküle herzustellen. Bei Ibuprofen war die Qualität des von der KI erstellten Syntheseweg etwas geringer, erfüllte aber dennoch die Minimalanforderungen für eine Synthese.

robotisches Chemielabor
Automatisiertes Chemielabor „Cloud Lab“ an der Caregie Mellon University. © Carnegie Mellon University

Mit robotischem Labor gekoppelt

Den zweiten Schritt, die praktische Umsetzung, übernimmt ein weiteres, in den Planer integriertes Modul. Dieses fragt ab, welche Laborgeräte und Roboter für die Umsetzung der chemischen Reaktionen zur Verfügung stehen und wertet deren Dokumentationen aus. Auf dieser Basis ermittelt das KI-System, welche Geräte in welcher Reihenfolge welche Aufgaben erledigen müssen und erstellt die dafür nötigen Steuercodes und Programme. Dies sei das erste Mal, dass ein solches robotisches Labor durch den von einer KI geschriebenen Computercode gesteuert wurde, so das Team.

Allerdings muss auch der „Coscientist“ erst lernen, wie es die einzelnen Labormodule kontrolliert und welche Aktionen sinnvoll sind und welche nicht. Ist dies jedoch erfolgt, kann das KI-System sogar anfängliche Fehler selbstständig erkennen und korrigieren: In einem der Tests mit dem robotischen Labor verwendete es zunächst eine fehlerhafte Formulierung in einem Steuercode für das automatische Heiz-Rührgerät. „Daraufhin nutzte Coscientist selbstständig, ohne menschliche Eingaben, sein Dokumentationssuche-Modul, um noch einmal in der technischen Anleitung des Geräts nachzusehen, und korrigierte den Code“, berichten die Forscher.

Nobelpreis-Reaktion reproduziert

Im letzten, schwierigsten Test erhielt der Roboter-Chemiker die Aufgabe, eine komplexe organische Reaktion nachzuvollziehen, für die Chemiker im Jahr 2010 den Nobelpreis erhalten hatten. Diese sogenannten Suzuki- und Sonogashira-Reaktionen setzen Palladium-basierte Katalysatoren ein, um die Kohlenstoffbindungen in organischen Molekülen zu verändern. Sie spielen unter anderem bei der Entwicklung von Arzneiwirkstoffen eine wichtige Rolle, aber auch in organischen Elektronik-Komponenten wie OLEDs.

„Dies ist das erste Mal, dass eine künstliche Intelligenz diese komplexe, von Menschen entwickelte Reaktion reproduziert, geplant und durchgeführt hat“, sagt Seniorautor Gabe Gomes von der Carnegie Mellon University. In weniger als vier Minuten hatte das KI-System sich die nötigen chemischen Grundlagen beschafft, die Reaktionsabläufe, Mengen der Reagenzien und Arbeitsschritte beschrieben und in Computercode für Laborgeräte übersetzt.

Das Ergebnis des KI-gesteuerten Experiments waren einige Proben klarer Flüssigkeit. Als die Forscher diese analysierten, enthielten sie die gewünschten Reaktionsprodukte. „Ich dachte zuerst, meine Kollegen wollen mich auf den Arm nehmen, aber das war nicht der Fall“, erinnert sich Gomes. „Das war der Moment, an dem mir klarwurde, dass wir hier etwas ganz Neues, sehr Mächtiges haben.“

Wie eine künstliche Intelligenz zum Chemiker wird.© Carnegie Mellon University

Große Chancen, aber auch Risiken

Nach Ansicht der Wissenschaftler schafft die Einführung solcher KI-gesteuerten Chemielabore neue Möglichkeiten, chemische Ideen und Konzepte umzusetzen: „Die Verwendung von großen Sprachmodellen hilft uns dabei, eine der größten Barrieren für automatisierte Chemielabore zu überwinden: die Fähigkeit, die nötigen Codes zu schreiben“, erklärt Gomes. Wenn dagegen KI-Systeme wie Coscientist diese „Übersetzung“ in die konkreten Arbeitsschritte und Geräteanweisungen übernehmen, entfällt diese Barriere.

Allerdings bringt die direkte Kopplung von künstlicher Intelligenz mit einem Chemielabor auch Sicherheitsrisiken mit sich: Im Prinzip könnten so selbst ungelernte Personen sich so gefährliche Gifte oder chemische Kampfstoffe herstellen lassen. Hier seien entsprechende Sicherheitsmaßnahmen und Kontrollen nötig, räumen auch die Forscher ein. „Wir haben die Verantwortung, auch dafür Lösungen und Sicherheitsmaßnamen zu entwickeln“,sagt Gomes. (Nature, 2023; doi: 10.1038/s41586-023-06792-0)

Quelle: Carnegie Mellon University, National Science Foundation

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