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Zoologie

Seesterne sind „wandelnde Köpfe“

Genetisch betrachtet bestehen Seesterne praktisch nur aus Kopf

Seestern
Genanalysen zufolge könnten Seesterne krabbelnde Köpfe ohne Rumpf sein. © Laurent Formery

Ein Kopf mit Beinen: Nach Jahrhunderten des Rätselns haben Biologen nun erstmals herausgefunden, wo der Kopf eines Seesterns sitzt. Die überraschende Antwort: überall. Genomanalysen zufolge sind Seesterne im Prinzip nichts anderes als wandelnde Köpfe ohne Rumpf. Selbst in ihren Armen finden sich fast nur Gensignaturen, die mit der Entwicklung eines Kopfes in Verbindung stehen. Diese ungewöhnliche Anpassung könnte sich schon sehr früh im Stammbaum der Stachelhäuter entwickelt haben, wie die Forschenden in „Nature“ berichten.

Wenn wir einen Hund, einen Fisch oder eine Schnecke betrachten, ist direkt klar, wo vorne und wo hinten ist. Bei Stachelhäutern wie Seesternen und Seeigeln ist es hingegen praktisch unmöglich, Kopf und Rumpf äußerlich voneinander zu unterscheiden. Biologen rätseln daher schon seit Jahrhunderten, wo der Seestern seinen Kopf haben könnte, und haben sich zum Teil darauf geeinigt, dass er vielleicht sogar gar keinen besitzt.

Nervensystem Seestern
Das Nervensystem eines Fledermaus-Seesterns © Laurent Formery/Evident Image of the Year Award

Eine Genomkarte für mehr Klarheit

Bedenkt man, dass Seesterne auch sonst aus der Reihe tanzen, indem sie zum Beispiel weder Blut noch Hirn besitzen und ihren Magen zum Fressen nach außen stülpen, wäre es nicht verwunderlich, ihnen darüber hinaus auch noch Kopflosigkeit zu attestieren. Für Forschende um Laurent Formery von der Stanford University war diese Antwort jedoch nicht befriedigend. Sie wollten ein für alle Mal klären, wo beim Seestern der Kopf aufhört und wo der Körper anfängt. Und da sich das äußerlich nicht feststellen lässt, setzten sie dafür auf spezielle Genanalyse-Techniken.

Konkret konnten sie mithilfe der sogenannten RNA-Tomografie herausfinden, wo im Körper von Fledermaus-Seesternen (Patiria miniata) typische Kopf- und Rumpfgene aktiv sind. Indem sie diese Informationen zusammensetzten, gelang es Formery und seinen Kollegen schließlich, aus ihnen eine dreidimensionale Körperkarte der Genexpression zu erstellen. So konnten sie zum ersten Mal auf einen Blick erkennen, wo beim Seestern die anatomischen Äquivalente zu Kopf und Rumpf sitzen.

Karte Genexpression
Dreidimensionale Karten zur Genexpression bei Seesternen zeigen vor allem bläuliche Kopf-Gensignaturen. © Laurent Formery

Seesterne sind „krabbelnde Köpfe“

Das Ergebnis: Überraschenderweise fand das Team im gesamten Seesternkörper, darunter in der Körpermitte und in der Mitte aller fünf Arme, charakteristische Kopf-Gensignaturen. Genaktivitäts-Signaturen, die mit der Entwicklung eines Rumpfes in Verbindung stehen, fehlten hingegen weitgehend und tauchten nur an den äußersten Spitzen der Arme auf.

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„Es ist, als ob dem Seestern der Rumpf komplett fehlt und er nur noch als Kopf über den Meeresboden krabbelt“, erklärt Formery. Statt eines Rumpfs ohne Kopf sind Seesterne also offenbar ein Kopf ohne Rumpf. „Das ist ganz und gar nicht das, was Wissenschaftler bisher über diese Tiere angenommen haben“, so Formery.

Rumpflosigkeit schon sehr alt

Auch wenn wir die genauen Gründe nicht kennen, aus denen Seesterne ihren Körper im Laufe der Evolution auf einen fünfzackigen Kopf reduzierten, so hat diese Strategie die Tiergruppe offenbar weit gebracht. Schließlich besiedeln die ungewöhnlichen Stachelhäuter die Weltmeere bereits seit mindestens 480 Millionen Jahren in ihrer heutigen Erscheinungsform.

Die Forschenden gehen daher davon aus, dass sich die ungewöhnliche Anpassung bereits sehr früh im Stammbaum der Stachelhäuter entwickelt haben muss. Um diese Hypothese zu testen, wollen sie nun auch bei anderen Stachelhäutern wie Seeigeln und Seegurken nach ähnlichen Genmustern suchen. Mehr über den Körperbau der Seesterne zu lernen, gibt der Wissenschaft aber längst nicht nur neue Einblicke in die Evolution der Stachelhäuter. Formery und seine Kollegen nehmen außerdem an, dass die Seesternforschung auch uns Menschen direkten Nutzen bringen könnte.

„Wenn wir die Gelegenheit ergreifen, ungewöhnliche Tiere zu erforschen, die auf ungewöhnliche Weise funktionieren, bedeutet das, dass wir unsere Perspektive der Biologie erweitern, was uns letztendlich helfen wird, sowohl ökologische als auch biomedizinische Probleme zu lösen“, berichtet Ko-Autor Daniel Rokhsar von der University of California in Berkeley. (Nature, 2023; doi: 10.1038/s41586-023-06669-2)

Quelle: Chan Zuckerberg Biohub, University of Southampton, Stanford University

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