Wenn unser Selbstbild von der Realität abweicht

Das verzerrte Ich

verzerrtes Selbstbild
Wie realistisch ist das Bild, das wir von uns selbst haben? © People Images/ iStock

Wer bin ich? Wie sehe ich aus? Auf diese Fragen hat wahrscheinlich jeder von uns irgendeine Antwort parat, doch wie sehr diese der Realität entspricht, variiert von Person zu Person. Während manche Menschen ein realistisches Selbstbild besitzen, ist es bei anderen verzerrt: Sie nehmen sich als besonders dick oder intelligent wahr, obwohl sie es gar nicht sind. Aber warum?

Menschen mit realistischer Selbstwahrnehmung sind im Schnitt beruflich erfolgreicher, verdienen mehr Geld und leben gesünder. Umso gravierender sind die Folgen für diejenigen, deren Selbstwahrnehmung verzerrt ist, die etwa ihr Äußeres, ihren Charakter oder ihre Fähigkeiten völlig falsch einschätzen. Doch wie kommt es dazu? Und was lässt sich dagegen tun?

Unsere eigene Wahrnehmung als Zerrlinse

Der Realität auf der Spur

beruflicher Erfolg
Menschen mit realistischem Selbstbild sind im Leben in der Regel erfolgreicher. © Artem Peretiatko/ iStock

„Menschen, die ihre Fähigkeiten präziser einschätzen, sind im Schnitt beruflich erfolgreicher, haben höhere Einkommen und leben sogar gesünder“, erklärt Fabian Kosse von der Universität Würzburg. Denn wer sich selbst und seine körperliche Verfassung realistisch einschätzen kann, der trifft im Schnitt auch bessere Entscheidungen. Zum Beispiel schlägt er einen Karrierepfad ein, der zu ihm passt, oder achtet auf ein ideales Gewicht und vermeidet so die gesundheitlichen Probleme, die mit Unter- oder Übergewicht einhergehen.

Realität versus Wahrnehmung

Doch sich selbst realistisch einzuschätzen und wahrzunehmen, ist gar nicht so einfach wie es klingt. Woher soll ich zum Beispiel wissen, wie genau die Realität überhaupt aussieht? Und wie erkenne ich im nächsten Schritt, ob meine individuelle Wahrnehmung mit dieser Realität übereinstimmt? „Die Wahrnehmung ist die Linse, durch die wir die Realität betrachten. Unsere Wahrnehmungen beeinflussen, wie wir die Realität interpretieren“, erklärt der US-amerikanische Psychologe Jim Taylor in „Psychology Today“.

Bahnhof
Jeder nimmt die Realität anders wahr, zum Beispiel das rege Treiben am Bahnhof. © Bene-Images/ iStock

Wie genau unsere Wahrnehmungslinse geformt ist, hängt zum Beispiel von angeborenen Faktoren ab. So nimmt jemand Farbenblindes oder Taubes die Realität zwangsweise anders wahr als jemand ohne diese Einschränkungen. Gleichzeitig können aber auch frühere Erfahrungen, unser Wissen sowie unsere Meinungen und Interessen darüber entscheiden, wie wir die Welt und uns selbst wahrnehmen.

Lässt man zum Beispiel unterschiedliche Personen eine halbe Stunde lang das rege Treiben an einem Bahnhof beobachten, hat jeder zwar objektiv dasselbe gesehen, aber nicht dasselbe wahrgenommen. Jemand, der sich ein Kind wünscht, achtet in dieser halben Stunde vielleicht auf Paare mit Kinderwagen. Jemand, der gerade hungrig ist, konzentriert sich auf den Duft der nahegelegenen Pommesbude. Und jemand, der traurig ist, schaut vielleicht einfach nur unter sich auf das Muster der Bahnhofsfliesen.

Klausur schreiben
Unser Selbstbild formt sich durch Rückmeldungen von außen, zum Beispiel durch Testergebnisse in der Schule. © LuckyBusiness/ iStock

Per Vergleich zum Selbstbild

Auch die Wahrnehmung von unserem eigenen Ich verläuft ähnlich: Wir fokussieren uns auf manche Aspekte mehr als auf andere. Zum Beispiel auf die Nase, die wir schon immer zu groß und krumm fanden, oder die prallen Armmuskeln, auf die wir so stolz sind. Worauf wir besonderes Augenmerk legen, hängt auch von der Gesellschaft und unserem persönlichen Umfeld ab.

Denn um herauszufinden, wer wir wirklich sind, was an uns attraktiv aussieht und was wir gut können, sind wir auf den Vergleich mit anderen angewiesen. Wie intelligent wir sind, verrät uns der Notenspiegel an der Schultafel. Wie dünn oder dick wir sind, zeigen uns Werbekampagnen im Fernsehen, aber auch Mitmenschen, die uns für unser Gewicht loben oder tadeln. Diese Vergleiche dauern unser gesamtes Leben an und helfen uns dabei, unser Bild von uns selbst durchgehend zu aktualisieren.

Hand
Unsere Wahrnehmung lässt sich auch austricksen, sodass unsere Hände sich zum Beispiel auf einmal wie aus Marmor anfühlen. © Evan-Amos/CC-by-sa 3.0

Eine Hand aus Marmor

Da unsere Selbstwahrnehmung so dynamisch ist, lässt sie sich auch leicht austricksen. Ein Beispiel dafür ist die „Marmorhand-Illusion“. Wenn man jemandem vorsichtig mit einem kleinen Hammer auf die Hand klopft und ihm dabei das Geräusch eines auf Marmor prallenden Hammers vorspielt, nimmt derjenige unwillkürlich an, seine Hand bestünde ebenfalls aus Marmor. Zumindest fühlt sie sich für einige Minuten deutlich steifer, schwerer und härter an.

Eine gezielte Manipulation der eigenen Körperwahrnehmung kann auch Gutes bewirken, zum Beispiel bei Menschen mit amputierten Gliedmaßen, die an Phantomschmerzen leiden. Spiegelt man ihr gesundes Körperteil so, dass es sich an der Stelle der amputierten Gliedmaße befindet, glaubt ihr Gehirn vorübergehend, sie hätten wieder zwei gesunde Körperteile. Das lindert auch die Phantomschmerzen zeitweise.

Großer Einfluss auf das Verhalten

Ob unser Selbstbild nun durch Manipulation oder Feedback anderer entstanden ist, ändert nichts an seiner tiefgreifenden Bedeutung für unser Leben. „Alles, was wir tun oder sagen, alles, was wir hören, fühlen oder anderweitig wahrnehmen, wird davon beeinflusst, wie wir uns selbst sehen“, erklärt der Ökonom Paul Brouwer in der „Harvard Business Review“. Kurzum: Unser gesamtes Verhalten hängt davon ab, welches Bild wir von uns selbst haben.

Umso interessanter ist es, dass sich die wenigsten von uns wirklich realistisch einschätzen und wahrnehmen können. Unter psychisch gesunden Menschen sind vor allem Selbstüberschätzung und ein gewisses Maß an Überheblichkeit keine Seltenheit.

Wieso wir uns oft überschätzen

Ich und die anderen

Intelligent, hübsch, witzig: Diese Eigenschaften gelten in unserer Gesellschaft als überaus erstrebenswert. Natürlich besitzt sie nicht jeder im selben Maß, doch das hält unser Gehirn nicht davon ab, uns zumindest vorzugaukeln, auf uns selbst träfen sie mehr zu als auf den Durchschnitt. Tatsächlich ist es wissenschaftlich erwiesen, dass viele Menschen dazu neigen, ein deutlich positiveres Bild von sich zu haben, als es die Realität hergibt. Männer betrifft dieses Phänomen stärker als Frauen.

Narzissmus
Wir empfinden uns häufig als deutlich schöner und klüger als wir es tatsächlich sind. © LUNAMARINA/Getty Images

Wer ist die schönste im ganzen Land?

Die verzerrte Selbsteinschätzung beginnt beim Äußeren, wie Elanor Williams von der University of Florida und Thomas Gilovich von der Cornell University in einem Experiment herausgefunden haben. Dafür luden sie Studierende zu einem Fotoshooting ein, bei dem pro Person zwölf Porträts in unterschiedlichen Posen aufgenommen wurden. Aus diesen Porträts sollten die Versuchsteilnehmer nun jenes auswählen, das sie am realistischsten zeigte.

Interessanterweise entschied sich mehr als die Hälfte der Studierenden für jenes Porträt, in dem sie sich selbst am attraktivsten fanden. Sie nahmen ihre „Top-Leistung“ also als Repräsentanten der Realität wahr, obwohl die restlichen Bilder ihren tatsächlichen Durchschnitt abgebildet hätten. Williams und Gilovich haben dieses Phänomen daher „better-than-my-average effect“ (Besser-als-mein-Durchschnitt-Effekt) getauft.

Zweierlei Maß

Das Forschungsteam konnte den „better-than-my-average effect“ auch im akademischen Bereich beobachten. Auch dort orientierten sich viele Studierende bei ihrer Selbsteinschätzung nicht an ihren durchschnittlichen Noten, sondern an den besten. Das führte erneut dazu, dass sie sich selbst als deutlich bessere Leistungsbringer wahrnahmen, als sie es wirklich waren. Der Glaube an ihr vermeintliches Potenzial war durch die vereinzelten positiven Ausreißer in den Noten regelrecht befeuert worden.

Emotionen Maske
Andere bewerten uns nach dem, was sie sehen, wir selbst uns nach dem, was wir fühlen und denken. © TatyanaGl/ iStock

Beim Potenzial ihrer Kommilitonen waren die Versuchsteilnehmer jedoch nicht so großzügig. Im Gegenteil: Um deren Leistung einzuschätzen, ignorierten sie die Top-Noten weitestgehend und zogen stattdessen vor allem die durchschnittlichen Noten heran. Zwar war diese Einschätzung wahrscheinlich realistischer als die der eigenen Leistungen, doch gleichzeitig auch deutlich pessimistischer. Auf diese Weise war es den Studierenden nicht nur gelungen, sich selbst besser darzustellen, als sie in Wirklichkeit waren, sondern auch besser als die Konkurrenz.

Außen und innen

Was auf den ersten Blick überheblich klingt, könnte in Wirklichkeit mit der menschlichen Wahrnehmung zu tun haben, wie Emily Pronin von der Princeton University erklärt: „Wir neigen dazu, uns selbst durch ‚Introspektion‘ (den Blick nach innen auf Gedanken, Gefühle und Absichten) und andere durch ‚Extrospektion‘ (den Blick nach außen auf beobachtbares Verhalten) wahrzunehmen. Kurz gesagt, wir beurteilen andere auf der Grundlage dessen, was wir sehen, und uns selbst auf der Grundlage dessen, was wir denken und fühlen.“

So hält uns zum Beispiel ein Personaler für verantwortungslos, wenn wir zu spät zum Vorstellungsgespräch kommen, weil die mangelnde Pünktlichkeit alles ist, was er von außen sehen kann. Wir selbst wissen allerdings, dass nicht Verantwortungslosigkeit, sondern ein Stau auf der A3 zu unserer Verspätung geführt hat. Wir wissen auch, dass wir den Job trotz schlechtem ersten Eindruck unbedingt haben wollen und für die neue Firma brennen, doch auch das sieht der Personaler nicht. Er beurteilt uns daher mit anderen Maßstäben als wir uns selbst.

schlaues Kind
Durch den Dunning-Kruger-Effekt nehmen Inkompetente sich selbst als überlegen wahr. © mimic51/ iStock

Ahnungslos, aber selbstbewusst

Dass wir uns selbst nach anderen Maßstäben bewerten als unsere Mitmenschen, kann unser Selbstbild zunehmend verzerren. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte Dunning-Kruger-Effekt. Er besagt, dass inkompetente Menschen sich und ihre Fähigkeiten häufig stark überschätzen und dabei kompetentere Menschen unterschätzen. Wir alle kennen schließlich die 83 Millionen Fußballexperten, die sich stets pünktlich zur WM zu Wort melden. Oder die vielen selbsternannten Impfexperten, die während der Corona-Pandemie auf Social Media unterwegs waren.

„Die Inkompetenten sind oft mit einem unangemessenen Selbstvertrauen gesegnet“, schreibt David Dunning von der University of Michigan, nach dessen Forschung der Effekt benannt ist. Wie fernab von jedweder Realität ihr Selbstbild liegt, ist den Inkompetenten dabei nicht einmal bewusst. Wie auch? „Um ihre Unfähigkeit zu erkennen, müssten sie genau das Wissen besitzen, das ihnen fehlt“, so Dunning. Der Dunning-Kruger-Effekt gilt in der Forschung allerdings nicht als unumstritten. Er könnte auch darin begründet liegen, dass höher gebildete Menschen im Laufe ihrer Ausbildung eher eine gesunde Selbsteinschätzung beigebracht bekommen als Menschen mit geringerer Bildung.

lügen
Wie anfällig wir für Selbstüberschätzung sind, beeinflusst unter anderem unser Charakter. © SIphotography/ iStock

Nicht jeder ist gleich anfällig

Studien zufolge neigen jedoch vor allem Menschen mit extrovertierten und offenen Persönlichkeitszügen zur Überschätzung ihrer eigenen Kompetenzen. Auch narzisstische Persönlichkeitstypen tendieren eher dazu, sich über andere zu stellen und besonders empfindlich auf Kritik zu reagieren. Als prominentes Beispiel wird in dieser Hinsicht gerne Ex-US-Präsident Donald Trump angeführt.

Neben dem Charakter hat aber offenbar auch die Nationalität einen Einfluss. In der Forschung zeigt sich zum Beispiel die Tendenz, dass Menschen aus westlichen, eher individualistisch geprägten Ländern wie den USA ihre Intelligenz im Schnitt deutlich höher einschätzen als Menschen aus kollektivistischen Kulturen wie Japan und China. Diese sind hinsichtlich ihres Selbstbildes häufig eher bescheiden.

Von Papierfliegern und Konditoren

Auch das Gebiet, um das es bei der Selbsteinschätzung geht, spielt eine wichtige Rolle. Je konkreter und simpler eine Aufgabe ist, desto leichter fällt es uns abzuschätzen, wie gut wir darin sind. Das ist vor allem dann der Fall, wenn wir etwas schon sehr häufig gemacht haben. So ist es zum Beispiel deutlich leichter, realistische Auskunft über das eigene Talent im Basteln von Papierfliegern zu geben als darüber, wie sehr man insgesamt künstlerisch begabt ist.

Trotzdem neigen wir dazu, uns vor allem bei jenen Aktivitäten und Themengebieten fälschlicherweise für Experten zu halten, für die wir uns besonders interessieren. Doch weder macht uns der Spaß am Backen zwangläufig zum gelernten Konditor noch qualifiziert uns das Bundesliga-Schauen zum Fußballtrainer.

Glaube versetzt Berge

Nicht immer muss Selbstüberschätzung allerdings auch etwas Schlechtes sein. In gesundem Maß hilft sie uns dabei, uns wohl in unserer Haut zu fühlen und selbstbewusst aufzutreten. Das steigert wiederum nachweislich unsere Chancen, beim Vorstellungsgespräch oder bei potenziellen Partnern zu überzeugen.

Zudem besteht die Möglichkeit, dass wir durch ein positiv verzerrtes Selbstbild im Laufe der Zeit tatsächlich an Kompetenz gewinnen. Zum Beispiel dann, wenn der Glaube an die eigenen Fähigkeiten zu mehr Ehrgeiz oder Ausdauer anspornt oder dazu, sich an schwierigere Aufgaben heranzuwagen.

Feedback und Selbstreflexion als Schlüssel

Wer dennoch an einem realistischen Selbstbild feilen möchte, dem hilft es bereits, sich den oben genannten Effekten und Mechanismen bewusst zu werden. Das macht es leichter, sich selbst und seine Leistungen möglichst objektiv zu reflektieren. Es kann auch helfen, stärker auf die Rückmeldungen nahestehender Menschen zu hören und eigene Fehler anzuerkennen, um so schließlich ein möglichst realistisches Bild von sich selbst zu gewinnen.

Folgen eines negativen Selbstbilds

„Ich bin nicht gut genug“

Kind traurig
Wer als Kind übermäßig stark kritisiert wurde, entwickelt später eher ein negatives Selbstbild. © David de Lossy/ iStock

Doch längst nicht alle Menschen, die sich selbst unrealistisch wahrnehmen, haben dabei mit Selbstüberschätzung zu kämpfen. Genauso gibt es diejenigen, die nur eine sehr geringe Meinung von sich selbst haben, obwohl das vielleicht gar nicht angebracht wäre. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Eltern, Freunde und Lehrer sie schon früh im Leben übermäßig stark für ihr Verhalten, ihre Leistungen oder ihr Äußeres kritisiert haben. Das Gefühl, den an sie gerichteten Erwartungen nicht zu entsprechen, kann schließlich dazu führen, dass sich Betroffene wertlos und wenig liebenswürdig fühlen.

Negativ macht krank und krank macht negativ

Ein negatives Selbstbild kann unseren Alltag erheblich erschweren. Zum Beispiel indem wir uns oft wenig zutrauen und deswegen wichtige Chancen ungenutzt lassen oder indem wir Beziehungen zu anderen meiden, um uns vor weiterer Abwertung zu schützen. Zudem kann ein negatives Selbstbild auch eine Reihe psychischer Erkrankungen begünstigen. Umgekehrt können aber auch die psychischen Erkrankungen dafür sorgen, dass unser Selbstbild sich dramatisch verschlechtert, obwohl es vorher weitestgehend unauffällig war.

In diesem Fall gilt das negative Selbstbild dann als Symptom der jeweiligen Erkrankung. „Eine psychische Krise kann den Selbstwert stark beeinträchtigen. Betroffene fragen sich häufig, warum es zu der Erkrankung kam und was sie falsch gemacht haben. Zu den Schuldgefühlen kommt Scham, da oft noch die falsche Überzeugung herrscht, dass psychische Krankheiten ein Zeichen von Schwäche sind“, erklärt Psychologin Friederike Reuver im Blog der LIMES Schlosskliniken.

Depression
Auch mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen geht häufig ein negatives Selbstbild einher. © bugphai/ iStock

Von wertlos bis unsympathisch

Das klassischste Beispiele für eine psychische Erkrankung, die am Selbstbild nagt, ist die Depression. Betroffene betrachten sich selbst häufig als wertlos und als Versager. Gleichzeitig sind sie davon überzeugt, dass andere Menschen sie auch so wahrnehmen müssen. Im schlimmsten Fall gipfeln die Selbstzweifel und Schuldgefühle irgendwann in Suizidgedanken.

Bei Patienten mit einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung äußert sich ein negatives Selbstbild vor allem darin, gesellschaftlichen Interaktionen aus dem Weg zu gehen. Sie hoffen so, das Risiko von Ablehnung und Kritik zu schmälern. „Sie halten sich selbst für sozial ungeschickt, unsympathisch und den anderen unterlegen. Sie neigen dazu, ruhig und schüchtern zu sein, weil sie glauben, sie könnten etwas Falsches sagen“, erklärt Mark Zimmerman vom Rhode Island Hospital.

Unter einem stark schwankenden Selbstbild leiden wiederum Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Das führt dazu, dass sich auch ihre Ziele, Werte und Meinungen innerhalb kürzester Zeit drastisch wandeln. Insgesamt fällt es Borderline-Patienten daher sehr schwer, sich selbst einzuschätzen, weshalb sie sich häufig weit entfernt von sich und ihrem eigenen Körper fühlen.

Depersonalisation
Für Menschen mit Depersonalisation und Derealisation fühlt sich alles unwirklich an. © Bdoguitar/CC-by-sa 4.0

Eine verschleierte Welt

In einer noch extremeren Form trifft diese Selbstentfremdung Menschen, die unter Depersonalisation beziehungsweise Derealisation leiden. Durch Erstere fühlen sie sich losgelöst von ihrem Körper und Geist – als beobachteten sie ihr eigenes Leben und ihren Körper von außen. Letztere lässt Betroffene die Welt um sich herum als unwirklich empfinden. So als befänden sie sich in einem Traum oder seien von einem Schleier umgeben, der ihre Umgebung in ungreifbare Ferne rückt. Eine derart veränderte Wahrnehmung macht auch ein realistisches Selbstbild zunehmend kompliziert.

Auslöser für eine solche verzerrte Wahrnehmung können starker Stress oder Traumata wie der Tod eines geliebten Menschen sein. Die meisten erleben die Symptome nur vorübergehend, in seltenen Fällen manifestieren sie sich langfristig. Um die Selbstentfremdung zu überwinden, empfehlen Therapeuten unter anderem starke Sinnesreize, die einen wieder in die Realität zurückholen sollen – zum Beispiel eiskaltes Wasser oder Kneifen.

Therapie
Manchmal hilft nur eine Therapie, um ein negativ verzerrtes Selbstbild wieder gerade zu rücken. © Sladic/ iStock

Wege zum realistischen Selbstbild

Generell kann es im Falle eines negativ verzerrten Selbstbildes helfen, sich wieder mehr mit der Realität in Einklang zu bringen. Ein erster Schritt besteht darin, sich darüber bewusst zu werden, wie genau man eigentlich über sich selbst denkt und ob die eigene Sichtweise möglicherweise verfälscht sein könnte. Eventuell merkt man so im Laufe der Zeit, dass man sich in verschiedenen Situationen selbst schlechtredet, obwohl niemand sonst dieser Meinung zu sein scheint.

Um das negative Bild, das man von sich hat, wieder realistischer zu gestalten, kann es am Anfang auch helfen, eine Liste mit Eigenschaften zu schreiben, die man an sich mag. Vielleicht fragt man auch nahestehende Personen danach und fügt ihre Antworten der Liste hinzu. Das eigene Selbstbild zu ändern, kann jedoch ein langwieriger Prozess sein. Schließlich muss man dafür zunächst einige feste Überzeugungen über Bord werfen. In manchen Fällen gelingt ein solcher Wandel nur mithilfe einer Psychotherapie.

Wenn der Spiegel lügt

Mein entstelltes Ich

Magersucht verzerrte Wahrnehmung
Menschen mit Magersucht nehmen sich selbst als deutlich fülliger wahr als sie es tatsächlich sind. © bowie15/ iStock

Neben einer verzerrten Wahrnehmung des eigenen Charakters kann es auch vorkommen, dass Menschen ihr Äußeres völlig falsch einschätzen. Das ist zum Beispiel bei denjenigen der Fall, die an einer Magersucht (Anorexie) oder Ess-Brech-Sucht (Bulimie) leiden. Studien haben gezeigt, dass Betroffene ihren eigenen Körper viel umfangreicher und unattraktiver wahrnehmen, als er tatsächlich ist.

Verschobenes Körpergefühl

„42 Kilo bei einer Größe von 1,70 Meter kamen mir nicht zu wenig vor, beziehungsweise empfand ich es nicht als schlimm oder dramatisch. Mein Körpergefühl und meine Wahrnehmung waren vollkommen verschoben“, berichtet zum Beispiel die ehemals magersüchtige Simone, die ihre Essstörung mittlerweile überwunden hat, auf der Website des ANAD-Zentrums der Arbeiterwohlfahrt.

Die Wissenschaft geht davon aus, dass bei magersüchtigen Menschen das sogenannte Körperschema gestört ist, also das unbewusste mentale Bild des eigenen Körpers. Das Körperschema hilft uns dabei, unseren eigenen Körper im Raum wahrzunehmen und abzuschätzen, wie viel breiter wir zum Beispiel mit prallem Rucksack oder ausladendem Sonnenhut sind.

Magersüchtige bekommen von ihrem Körperschema jedoch durchgehend vermittelt, dass ihr Körper deutlich größere Ausmaße hat, als dies eigentlich der Fall ist. So gehen sie in Experimenten zum Beispiel deutlich schneller seitlich durch einen schmalen Türrahmen als nicht essgestörte Personen, weil sie unterbewusst denken, sie würden frontal nicht hindurchpassen.

Magersucht
Um gesund zu werden, müssen Magersüchtige Schritt für Schritt wieder ein realistisches Körpergefühl erlernen. © Katarzyna Bialasiewicz/ Getty Images

Verbindungsfehler bewirken Verzerrung

Diese veränderte Selbstwahrnehmung zeigt sich auch im Gehirn von magersüchtigen Menschen. Zwei Hirnareale, die für die Verarbeitung von Körperbildern wichtig sind, weisen bei ihnen eine geringere Zelldichte auf als bei gesunden Personen und sind außerdem weniger stark miteinander verknüpft. Je stärker dieser Verbindungsfehler ausfällt, als desto dicker empfinden sich Betroffene, wie Studien ergeben haben.

Um diese Fehlfunktion zu beheben, muss der Körper wieder lernen, seine eigenen Ausmaße korrekt einzuschätzen. Daher besteht ein Therapieansatz darin, magersüchtige Patienten für bestimmte Zeiträume einen eng anliegenden Neoprenanzug tragen zu lassen. Der Druck auf Haut und Gelenke soll dem Gehirn dann aktualisierte Informationen darüber liefern, wo der Körper tatsächlich endet.

Dysmorphophobie
Von Dysmorphophobie Betroffene sehen sich selbst im Spiegel völlig anders. © Chainwit./CC-by 3.0

Manipulierte Spiegel

Eine andere Form der verzerrten Körperwahrnehmung ist die sogenannte körperdysmorphe Störung oder Dysmorphophobie. Betroffene verbringen täglich mehrere Stunden damit, über vermeintliche Makel wie eine zu krumme Nase oder eine auffällige Narbe zu grübeln. „Selbst wenn sie körperlich gut aussehen, gaukelt ihnen ihr Gehirn vor, dass mit ihrem Aussehen etwas nicht stimmt. Mit anderen Worten: Sie sehen nicht die Realität ihres Aussehens, sondern nur eine verzerrte Version davon“, beschreibt es der Psychologe Hanan Parvez in seinem Blog „PsychMechanics“.

Die Angst, andere könnten die vermeintlichen Makel als ebenso entstellend wahrnehmen, veranlasst Betroffene dazu, die Unvollkommenheiten mit Kleidung, Bartwuchs oder Make-up zu kaschieren, sich kosmetischen und chirurgischen Eingriffen zu unterziehen oder die Öffentlichkeit so gut es geht zu meiden.

Auch wenn es für Außenstehende so wirken mag, als würden Menschen mit Dysmorphophobie ihr Aussehen einfach nur überdramatisieren, sind die vermeintlichen Makel für Betroffene dennoch real. Indem sie sich immer und immer wieder auf dieselben Unvollkommenheiten konzentrieren, erscheinen diese mit der Zeit immer enormer und entstellender.

Serotonin und Schönheitsideale

Was genau eine Dysmorphophobie auslöst, ist noch nicht abschließend geklärt. Forschende haben aber Hinweise darauf gefunden, dass Betroffene visuelle Informationen womöglich anders verarbeiten als gesunde Menschen. Auch scheint bei Menschen mit Dysmorphophobie ein chemisches Ungleichgewicht beim Neurotransmitter Serotonin zu bestehen, ähnlich wie bei depressiven Personen.

Daher schlagen bei Dysmorphophobie-Patienten in der Regel auch Antidepressiva gut an – ergänzt durch eine kognitive Verhaltenstherapie, in der sie eine realistischere Selbstwahrnehmung lernen. Neben biologischen Ursachen weisen Experten aber auch darauf hin, den Stellenwert gesellschaftlicher Erwartungen nicht außer Acht zu lassen. Wenn man das Gefühl hat, gängigen Schönheitsidealen nicht zu entsprechen, kann das der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper gefährliche Ausmaße verleihen.