Sterben wir bald aus?

Die Fruchtbarkeitskrise

Spermien
Die Spermienzahl und -qualität nimmt weltweit ab. Sind irgendwann alle Männer unfruchtbar? © Christoph Burgstedt/ Getty Images

Die Anzahl und Qualität der Spermien ist bei Männern in den letzten Jahrzehnten immer weiter zurückgegangen. Seit dem Jahr 2000 hat sich das Tempo dieses Rückgangs sogar nochmal verdoppelt. Stimmen werden laut, die uns in einer Fruchtbarkeitskrise wähnen und das Aussterben der Menschheit vorhersagen. Doch wie schlecht steht es wirklich um die Fruchtbarkeit der Männer und warum nimmt ihre Spermienqualität überhaupt ab?

Im Vergleich zu den 1970er Jahren hat sich die Spermienkonzentration in der Samenflüssigkeit mehr als halbiert und das weltweit. Seit der Jahrtausendwende sinkt sie jedes Jahr um weitere 2,6 Prozent. Geht es in diesem Tempo weiter, wären bis 2045 bei den Männern kaum noch funktionsfähige Spermien übrig. Die genauen Gründe dafür sind noch unbekannt. Sterben wir also ab der Mitte des Jahrhunderts einfach aus?

So stark hat die Spermienzahl bereits abgenommen

Spermien in Gefahr

Alles begann im Jahr 2017. Mit einer Studie, die den harmlosen, fast schon langweiligen Titel „Zeitliche Trends bei der Spermienzahl: eine systematische Überprüfung und Meta-Regressionsanalyse“ trägt. Hagai Levine von der Hebräischen Universität in Jerusalem untersuchte darin zusammen mit Kollegen, wie sich die Spermienkonzentration und somit die männliche Fruchtbarkeit zwischen 1973 und 2011 entwickelt hatte. Doch anders als der Titel der Studie suggeriert waren die Ergebnisse der Forschenden weder langweilig noch harmlos.

Samenprobe
Fast 100.000 Spermienproben aus aller Welt sind in die Analyse von Levines Team eingeflossen. © Ajay Kumar Chaurasiya/CC-by-sa 4.0

40 Jahre Samenproben

Nachdem Levine und sein Team Samenproben von über 42.000 Männern, gesammelt im Rahmen von 185 internationalen Studien, ausgewertet hatten, fiel ihnen eine starke Abnahme der Spermienkonzentration im Ejakulat auf. Zwischen 1973 und 2011 – innerhalb von nur rund 40 Jahren – war diese im Schnitt um 52,4 Prozent zurückgegangen. Das entspricht einem Minus von 1,4 Prozent pro Jahr. Die Gesamtzahl der Spermien im Ejakulat hatte sich im selben Zeitraum um 59,3 Prozent verringert.

Zwar waren in die Analyse zunächst nur Proben aus Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland eingeflossen, doch spätestens seit 2022 ist klar, dass es sich bei dieser „Spermienkrise“ um ein weltweites Problem handelt. Denn in diesem Jahr erschien eine Folgestudie, in der Levine und seine Kollegen nun auch Proben aus Afrika, Lateinamerika und Asien berücksichtigt hatten.

Insgesamt analysierten die Forschenden in diesem zweiten Anlauf die Spermiendaten von mehr als 57.000 Männern aus 223 Studien und 53 Ländern. Und auch hier kamen sie auf ein ähnliches Ergebnis: Zwischen 1973 und 2018 war die Spermienzahl im Schnitt um 62 Prozent gesunken, die Spermienkonzentration um 52 Prozent. Das bedeutet, dass damit auch die Fruchtbarkeit abnimmt. Denn je geringer die Dichte intakter, bewegungsfähiger Spermien im Ejakulat, desto geringer auch die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Befruchtung.

Das Tempo zieht an

Als wäre ein genereller Rückgang der Spermien nicht schon gravierend genug, hat sich die Rate dieser Abnahme seit dem Jahr 2000 sogar nochmal verdoppelt. Bis zu dieser Schwelle konnten Levine und seine Kollegen einen stetigen Rückgang der Spermienkonzentration von 1,16 bis 1,90 Prozent pro Jahr beobachten, danach waren es schon 2,64 Prozent.

„Folgt man der Kurve, so wird für das Jahr 2045 eine mittlere Spermienzahl von Null vorhergesagt“, berichtete Koautorin Shanna Swan von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York im „Guardian“. Düstere Aussichten, wenn man an den Fortbestand der Menschheit denkt.

Unter dem Mikroskop lassen sich sowohl Anzahl als auch Qualität der Spermien eines Mannes beurteilen.© Advanced Fertility Center of Chicago

Immer näher an der Unfruchtbarkeit

Doch auch schon vor der Mitte des Jahrhunderts könnte der Spermienrückgang zum Problem werden. Das wird deutlich, wenn man die Grenzwerte betrachtet, ab denen ein Mann als weitestgehend unfruchtbar gilt. Laut Weltgesundheitsorganisation ist diese Schwelle ab einer Konzentration von weniger als 16 Millionen Spermien pro Milliliter Ejakulat und einer Spermienzahl von weniger als 39 Millionen pro Samenerguss erreicht.

Der neuesten Studie von Levine und seinem Team zufolge waren wir 2018 bereits bei einer Konzentration von 49 Millionen Spermien pro Milliliter Ejakulat angelangt. Zum Vergleich: Im Jahr 1973 lag die Spermienzahl noch bei 101 Millionen. Der aktuellste Wert ist zwar immer noch weit von der 16 Millionen-Grenze für Unfruchtbarkeit entfernt, kann aber die Zeugungsfähigkeit bereits vermindern.

Befruchtung
Gibt es zu wenige Spermien oder sind diese deformiert, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie den anstrengenden Weg bis zur Eizelle schaffen. © Christoph Burgstedt/ Getty Images

Hinzu kommt, dass neben der reinen Anzahl auch die Qualität der Spermien abgenommen hat, wie verschiedene Studien nahelegen. Ihnen zufolge sind Spermien in manchen Weltregionen heute weniger beweglich als früher und weichen auch in ihrer Form immer häufiger von der Norm ab. Das beeinträchtigt ihre Schwimmfähigkeiten und erschwert den Spermien den Weg zur Eizelle nochmal mehr.

 

 

Spermien leiden unter Chemikalien und Hitze

Umweltgifte im Verdacht

Warum gehen Spermienkonzentration und -qualität bei Männern immer weiter zurück? Bisher ist es Forschenden nicht gelungen, diese „Spermienkrise“ auf einen einzigen Grund herunterzubrechen. Sie vermuten stattdessen, dass eine Reihe von Ursachen – äußere wie innere – eine Rolle spielen könnten.

Pestizide
Pestizidrückstände auf Obst und Gemüse schaden den Spermien. © roamset/ Getty Images

Die Vielzahl möglicher Einflussfaktoren ist auch dadurch begründet, dass Spermien anders als die Eizellen der Frau nicht schon bei der Geburt angelegt sind, sondern ständig neu produziert werden. Ihre Bildung ist daher anfällig für äußere Einflüsse – von der Ernährung bis hin zum alltäglichen Kontakt mit verschiedenen Chemikalien. Unter anderem deshalb gelten Spermien in der Medizin auch als wichtiger Marker für die Gesundheit eines Mannes.

Pestizide als Spermienkiller

Ein Faktor, der die Spermien und somit die Fruchtbarkeit erheblich beeinflussen kann, sind Pestizide, wie Yu-Han Chiu von der Harvard School of Public Health in Boston mit seinen Kollegen herausgefunden hat. In ihrer Studie besaßen jene Männer, die viel pestizidbelastetes Obst gegessen hatten, durchschnittlich 49 Prozent weniger und nur noch 32 Prozent normalgebildete Spermien. Bereits anderthalb Portionen belastetes Obst pro Tag reichten aus, um diesen Effekt zu erzielen.

Plastik
Auch in Plastik stecken zahlreiche Chemikalien, die die Spermienqualität verschlechtern. © narvikk/ iStock

Eine toxische Welt

Und auch viele andere Chemikalien, mit denen wir tagtäglich in Kontakt kommen, wirken sich möglicherweise ähnlich aus. So hat eine Forschungsgruppe um Christian Schiffer vom Center of Advanced European Studies and Research in Bonn etwa herausgefunden, dass hormonell wirksame Chemikalien, sogenannte endokrine Disruptoren (kurz EDCs), die Spermienqualität beeinträchtigen können. EDCs kommen in unzähligen Produkten des Alltags vor, von Sonnencreme, Zahnpasta und Plastikflaschen bis hin zu Textilien, Kosmetika und Spielzeug. Sie werden unter anderem als UV-Blocker, Weichmacher und Fracking-Zusatz eingesetzt.

Schiffer und seine Kollegen haben im Reagenzglas insgesamt 111 EDCs an Spermien getestet. 30 dieser Chemikalien schädigten die Samenzellen und das bereits bei Konzentrationen, die deutlich unter den Mengen liegen, die immer wieder in unserem Körper gemessen werden. Hinzu kommt, dass Mischungen aus mehreren EDCs, wie sie wahrscheinlich auch in unserem Blut vorkommen, die Spermienqualität noch aggressiver herabsetzen.

Sonnenmilch
Einige UV-Blocker in Sonnencremes ähneln dem weiblichen Hormon Progesteron und verwirren die Spermien dadurch. © firemanYU/ iStock

Geschickte Tarnung

Konkret behindern die Chemikalien das Schwimmverhalten der Spermienzellen und führen dazu, dass sich ein spezieller Kalzium-Kanal in ihrer Membran verfrüht öffnet. Dadurch setzen die Spermien die Enzyme frei, mit deren Hilfe sie normalerweise die Schutzhülle der Eizelle durchdringen. Selbst wenn es ein solches EDC-geschädigtes Spermium also bis zur Eizelle schaffen würde, könnte es sich nicht mehr mit dieser vereinen und somit auch kein Kind zeugen.

Diese Kaskade der Unfruchtbarkeit in Gang zu setzen, gelingt ECDs wahrscheinlich, indem sie ähnlich wie das weibliche Geschlechtshormon Progesteron auf den männlichen Körper wirken. Zumindest konnten Forschende diesen Effekt bei neun UV-Filtern in gängiger Sonnenmilch beobachten. Indem die Spermien vermeintlich auf Progesteron treffen, wähnen sie sich möglicherweise in der Nähe der Eizelle und beginnen deshalb mit der Freisetzung spezieller Enzyme, obwohl es dafür eigentlich noch viel zu früh ist.

Abgase
Männer, die täglich viele Abgase einatmen, sind im Schnitt weniger fruchtbar. © ssuaphoto / iStock

Zwischen Blei und Abgasen

Die Liste mit spermienschädigenden Chemikalien ist lang. Studien zufolge vergrößern zum Beispiel in Folien und Tapeten enthaltene Phtalate den Spermienkopf, während Schwermetalle wie Blei und Arsen DNA-Schäden in den Spermienzellen verursachen. Mit Schwefel- und Stickstoffdioxid verschmutzte Luft wiederum stört die Bildung neuer Spermien.

Besonders von diesen negativen Auswirkungen betroffen sind Männer, die sich tagtäglich Abgasen aussetzen. „Bei Arbeitern an der Autobahnmautstelle ist die Gesamtbeweglichkeit der Spermien im Vergleich zu anderen Männern, die im selben Gebiet leben, signifikant geringer“, berichten die indischen Forscher Naina Kumar und Amit Kant Singh in einer Übersichtsarbeit.

Heiße Hoden

Neben Chemikalien und Umweltgiften kann aber auch die Temperatur einen negativen Einfluss auf die männliche Fruchtbarkeit haben. Damit sich gesunde neue Spermien bilden können, muss die Temperatur des Hodens zwei bis vier Grad unter der Temperatur der Körpermitte liegen. Steigt die Hodentemperatur nur um ein Grad an, kann sich das bereits negativ auf die männliche Fruchtbarkeit auswirken, wie Studien gezeigt haben.

Die Hoden können unter anderem dann zu warm werden, wenn man zu enge Unterwäsche trägt oder es in der Umgebung sehr heiß ist, zum Beispiel an einem sonnigen Sommertag oder in einem überhitzten Büro. Dieser Logik folgend kann auch die mit dem Klimawandel einhergehende globale Erwärmung die Spermienkrise weiter befeuern, wie Kumar und Singh erklären.

Als Mann ist es demnach kaum möglich, sich von all den Risikofaktoren in der Umwelt fernzuhalten, die die eigene Spermienqualität verschlechtern können. Doch es gibt auch eigenverschuldete Gründe für abnehmende Fruchtbarkeit.

Auch Fastfood und Cannabis schaden den Spermien

Unfruchtbarer Lebensstil

Dass die Spermienqualität im Laufe der Zeit abgenommen hat, lässt sich zwar einerseits mit Umweltfaktoren wie Chemikalien, Luftverschmutzung und steigenden Temperaturen erklären, andererseits aber auch mit dem individuellen Lebensstil eines Mannes.

Gewichtstabelle
Über- und Untergewicht wirken sich deutlich auf die Spermienqualität aus. © Jiver

Gewicht bestimmt Spermienzahl

Ein zentraler Faktor, mit dem man die Qualität der eigenen Spermien beeinflussen kann, ist das Gewicht. „Der Body-Mass-Index (BMI) spielt eine entscheidende Rolle für die Anzahl gesunder, normal gestalteter Spermien pro Samenerguss“, erklärt Uwe Paasch von der Leipziger Universitätsklinik. Demnach würden sowohl extremes Unter- als auch Übergewicht die Spermienqualität deutlich verschlechtern, indem die Bildung neuer Samenzellen gestört wird.

Wer sich häufig von Fastfood ernährt, verändert damit außerdem das Muster der DNA-Anhänge in seinen Spermien. Diese genetische Modifizierung beeinflusst die Genaktivität und wird auch an den Nachwuchs weitergeben, wie Experimente an Ratten zeigen. Unter anderem kamen die Rattenjungen mit einem gestörten Zucker- und Fettstoffwechsel zur Welt und neigten später zu Diabetes.

Joint
Schon ein einziger Joint kann die Familienplanung erheblich erschweren. © agafapaperiapunta/ iStock

Joint als Verhütungsmittel

Neben ungesunder Ernährung beeinflusst auch der Drogenkonsum die eigene Fruchtbarkeit. So wirken sich etwa Alkohol und Zigaretten negativ auf die Spermienqualität aus und für den Fall, dass es doch zu einer Befruchtung kommt, auch auf die Gesundheit des Kindes. Zum Beispiel scheint es einen Zusammenhang zwischen angeborenen Herzfehlern und dem Trinkverhalten des Vaters vor der Schwangerschaft zu geben.

Nochmal schwerwiegendere Folgen als Rauchen und Trinken hat allerdings der Cannabiskonsum. Einer Studie zufolge besitzen diejenigen Männer, die in den drei Monaten vor einer Samenspende Cannabis geraucht haben, oft nicht einmal mehr vier Prozent gesunde Spermien. Der Rest ist deformiert und häufig zu klein. „Cannabis-Nutzer wären daher gut beraten, wenn sie mit der Droge aufhören, bevor sie planen, eine Familie zu gründen“, sagt Studienleiter Allan Pacey von der University of Sheffield.

Ein weiterer schädlicher Einfluss unseres Alltags, auf den wir allerdings oft weniger Einfluss haben als auf Ernährung und Drogenkonsum, ist Stress. Studien zufolge führt Stress dazu, dass insgesamt weniger Spermien vorhanden sind, dafür aber mehr fehlgebildete. Es gibt außerdem Hinweise darauf, dass sich der Stress des Vaters über die Spermien auf den Nachwuchs übertragen kann. So reagierten die Nachkommen gestresster Mäuseväter in Experimenten nicht so souverän auf psychische Belastungen wie Tiere mit entspannten Vätern.

Alter bei der Geburt
Paare sind bei der Geburt ihres ersten Kindes immer älter. © scinexx (mit Daten vom Statistischen Bundesamt)

Auch die männliche Uhr tickt

Darüber hinaus beeinflusst auch das Alter die Fruchtbarkeit eines Mannes mehr als gemeinhin angenommen. Da Männer anders als Frauen auch noch im hohen Alter Kinder zeugen können, spricht man bei ihnen nur selten von der berühmt-berüchtigten tickenden Uhr. Doch es gibt sie. Mit zunehmendem Alter geht auch bei Männern die Spermienproduktion und Fruchtbarkeit immer weiter zurück.

Männer, die schon in jungen Jahren wenige funktionsfähige Spermien hatten, können somit im Alter gänzlich in die Unfruchtbarkeit rutschen. Und da Eltern bei der Geburt ihres ersten Kindes im Schnitt immer älter werden, fällt dies zunehmend auf.

Zeit für Veränderung drängt

Sterben wir aus?

Geht der Trend zur abnehmenden Spermiendichte bei Männern so weiter, dürften rein rechnerisch bis zur Mitte des Jahrhunderts kaum noch gesunde Spermien vorhanden sein. Wäre das der Fall, hätte es erhebliche Folgen für die menschliche Fortpflanzungsfähigkeit. Doch während die einen vor diesem Hintergrund von einer handfesten Krise sprechen, zieht die Datenlage für andere aktuell noch keinen Handlungsbedarf nach sich.

Spermienkonzentration im Zeitverlauf
Setzt sich der Trend weiter fort, wird die Spermienkonzentration im Jahr 2045 bei Null angelangt sein. © scinexx

Überleben der Menschheit in Gefahr

Jemand, der die aktuelle Entwicklung sehr ernst nimmt, ist die oft zitierte Epidemiologin Shanna Swan von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York. Sie war an den richtungsweisenden Studien von 2017 und 2022 beteiligt und hat der „Spermienkrise“ sogar ein eigenes Buch gewidmet. Darin heißt es: „Der derzeitige Zustand der Fortpflanzung kann nicht mehr lange andauern, ohne das Überleben der Menschheit zu gefährden“.

Dass Frauen heute im weltweiten Schnitt nur noch 2,4 statt wie in den 1960er Jahren 5,06 Kinder zur Welt bringen, liegt Swan zufolge nicht nur an einem besseren Zugang zu Verhütung und Aufklärung, sondern auch an zunehmender männlicher Unfruchtbarkeit. Swans Berechnungen zufolge wird die Spermienzahl bis 2045 bei Null liegen. Ihren Lesern rät sie daher „zu tun, was wir können, um unsere Fruchtbarkeit, das Schicksal der Menschheit und den Planeten zu schützen“.

Dem schließt sich auch Swans Kollege Hagai Levine von der Hebräischen Universität in Jerusalem an. Im „Guardian“ sagt er: „Ich denke, es handelt sich um eine Krise, die wir besser jetzt angehen sollten, bevor sie einen Wendepunkt erreicht, der möglicherweise nicht mehr umkehrbar ist.“

Alles nur Panikmache?

Genau entgegengesetzt hat sich der Androloge Stefan Schlatt von der Universität Münster im öffentlichen Diskurs positioniert. Er hält Swans und Levines Reaktion für eine Überinterpretation und im weitesten Sinne Panikmache. Seine These: Da ein Mann erst dann als unfruchtbar gilt, wenn er weniger als 16 Millionen Spermien pro Milliliter Samenflüssigkeit hat, der aktuelle Wert aber immer noch bei 49 Millionen liegt, gibt es nach heutigem Stand keinen Grund zur Sorge.

Schlatt sorgt sich eher um etwas anderes, wie er gegenüber dem „Tagessspiegel“ erklärte: „Die Zahl der Entwicklungsstörungen im männlichen Reproduktionssystem nimmt zu, insbesondere Hodenkrebs wird häufiger. Eine Ursache für dieses Phänomen zu finden, ist ein viel wichtigeres und drängenderes Problem als die immer noch in einen unbedenklichen Bereich gesunkene Spermienzahl.“

Künstliche Befruchtung als Übergangslösung

Aber Fakt ist: Setzt sich der aktuelle Trend im selben Tempo fort, steht es irgendwann schlecht um die männliche Fortpflanzungsfähigkeit. Egal ob es schon morgen oder erst in ein paar Jahrzehnten so weit sein wird. In 25 Jahren könnten dadurch deutlich mehr Paare ungewollt kinderlos sein als die aktuellen zehn bis 15 Prozent.

Je nachdem, wie stark die Fruchtbarkeit in Zukunft abfällt, könnte es aber zumindest übergangsweise möglich sein, Nachwuchs mithilfe künstlicher Befruchtung zu zeugen. Denn die dafür angewandten Methoden werden immer besser und können bereits heute Männern den Kinderwunsch ermöglichen, die gerade einmal 50.000 funktionsfähige Spermien pro Milliliter Samenflüssigkeit aufweisen.

Der Ablauf einer ICSI unter dem Mikroskop.© Fertility Associates

Eine der modernsten und am häufigsten angewandten Befruchtungsmethoden ist die sogenannte Intrazytoplasmatische Spermieninjektion oder kurz ICSI. Dabei werden aus dem Sperma des Mannes jene Samenzellen ausgewählt, die am leistungsstärksten und gesündesten sind. Eine von ihnen wird dann im Labor in die Eizelle der Frau injiziert, was dem Spermium die Anstrengungen der natürlichen Reise in den Eierstock erspart.

Sport treiben
Ein gesunder Lebensstil kann die Spermienqualität verbessern und auch Frauen profitieren hinsichtlich ihrer Empfänglichkeit von Sport und Co. © lzf/ iStock

Eine düstere Zukunft?

Doch wenn einem Mann kein einziges gesundes Spermium bleibt, so wie Swan es voraussagt, bringt auch eine künstliche Befruchtung nichts mehr. „Wenn wir unsere Lebensweise, die Umwelt und die Chemikalien, denen wir ausgesetzt sind, nicht ändern, mache ich mir große Sorgen, was in Zukunft passieren wird“, sagte Levine der BBC. „Irgendwann werden wir ein Problem haben mit der Fortpflanzung im Allgemeinen, und das könnte das Aussterben der menschlichen Spezies bedeuten.“

Doch es gibt Hoffnung. Dass Männer konstant neue Spermien produzieren, bedeutet nämlich auch, dass sie bei jedem neuen Spermium wieder die Chance haben, negative Einflüsse zu begrenzen. Da Spermien rund 75 Tage zum Heranreifen brauchen, können Männer also theoretisch alle zweieinhalb Monate ihre Spermienqualität verbessern, erklärt Swan. Etwa indem sie weniger rauchen und trinken, sich gesünder ernähren, Stress vermeiden und Sport treiben.

Der Einfluss von Umweltfaktoren auf die Spermien lässt sich jedoch nur in Maßen individuell steuern, etwa indem Männer mehr darauf achten, Bio-Obst und -Gemüse zu kaufen, bei dem keine Pestizide zum Einsatz kamen. Doch dass schädliche Chemikalien aus Alltagsgegenständen und Luft verschwinden, ist Aufgabe der Politik. Und die sollte sie nun ernster nehmen als je zuvor, wenn es nach Swan und Levine geht.