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Psychologie

Das Geheimnis des Geschichtenerzählens

Fiktive Erzählungen basieren oft auf einem von nur sechs emotionalen Narrativen

So verschieden die Geschichten auch sein mögen: Die meisten Handlungen folgen einem von nur sechs Grundmustern. © iStock.com

Muster der Gefühle: In wohl jeder guten Geschichte begeben sich die Protagonisten auch auf eine emotionale Reise. Dieses Auf und Ab folgt in unserem Kulturkreis in der Regel einem von nur sechs Narrativen, wie eine Datenanalyse nun zeigt. Ob „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ oder die typische Cinderella-Story: Die meisten Geschichten basieren demnach auf den immer gleichen Erzählmustern – die Auswahl ist dabei überraschend gering.

Seitdem wir denken können, erzählen wir Menschen uns Geschichten. Die Märchen, Legenden und Sagen dienen dabei nicht nur der Unterhaltung. Wir geben über sie auch Wissen weiter, teilen Erfahrungen miteinander und vermitteln Werte und Normen. Ein Blick in das literarische Kulturgut einer Gesellschaft kann deshalb viel über sie preisgeben.

Auf und Ab der Gefühle

Davon war auch der 2007 verstorbene US-amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut überzeugt. Er soll einmal gesagt haben: „Erzählungen haben Formen, die man wie ein Diagramm zeichnen kann – und die Formen der Geschichten einer Gesellschaft sind mindestens so interessant wie die ihrer Töpfe oder die ihrer Speerspitzen.“ Vonnegut bezog sich dabei auf den emotionalen Bogen einer Geschichte, wie er es nannte: die Auf und Abs, die ein Protagonist während seiner Reise durchlebt.

Der Schriftsteller glaubte, dass viele unserer Geschichten die gleichen Narrative teilen – ihr emotionaler Bogen also verblüffend ähnlich verläuft, selbst wenn die eigentliche Handlung noch so unterschiedlich ist. Das postulierte er bereits als Student in seiner Masterarbeit, diese wurde jedoch abgelehnt.

Emotionen unter der Lupe

Nun haben sich Forscher um Andrew Reagan von der University of Vermont in Burlington Vonneguts Idee erneut angenommen – und sie mithilfe von aufwendigen Computeranalysen auf die Probe gestellt. Das Team aus Sprachwissenschaftlern und Datenanalyse-Experten wählte dafür 1.327 englischsprachige, fiktive Werke aus der frei zugänglichen digitalen Bibliothek „Project Gutenberg“ aus.

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Mithilfe spezieller Filterprogramme untersuchten sie dann den emotionalen Bogen, dem die Haupterzählstränge folgten. Vereinfacht gesprochen charakterisierten sie den „gefühlvollen“ Inhalt dabei durch eine Wortanalyse: Wie häufig kamen glückliche oder traurige Begriffe innerhalb eines Buchabschnitts vor?

Die emotionale Kurve von "Harry Potter und die Heiligtümer des Todes" © SciencePOD

Sechs grundlegende Narrative

Das Team visualisierte die Frequenz dieser Wörter im Verlauf der Geschichten – und erhielt dadurch Graphen, die die emotionalen Reisen der Protagonisten darstellten. Dabei zeigte sich: Viele dieser Kurvenverläufe sahen sich tatsächlich erstaunlich ähnlich. Offenbar basierten die meisten der analysierten Erzählungen auf einigen wenigen Narrativen, wie Reagan und seine Kollegen berichten.

So machten sie insgesamt nur sechs grundlegende emotionale Handlungsstränge aus:

  • Vom Tellerwäscher zum Millionär: Dieses Narrativ beschreibt eine Erfolgsgeschichte, bei der der Protagonist kontinuierlich aufstrebt.
  • Vom Millionär zum Tellerwäsche: Bei dieser Geschichte geht es dem Protagonisten zunächst gut. Die Erzählung gipfelt aber in einer Tragödie, wie zum Beispiel bei Shakespeares Romeo und Julia.
  • Mann im Loch: Der Protagonist fällt zunächst tief, schafft es aber, sich wieder aufzurappeln und dem „Loch“ zu entkommen.
  • Icarus: Dieser emotionale Bogen stellt das Gegenteil des Mannes im Loch dar und ähnelt dem Erzählstrang des bekannten griechischen Mythos. Dabei strebt der Protagonist zu Beginn auf, um dann umso tiefer zu fallen.
  • Cinderella: Hier erlebt der Protagonist ein wahres Auf und Ab. Zunächst geht es emotional hoch hinaus, es folgt ein Tief und danach das Happy End.
  • Ödipus: Das letzte von den Forschern identifizierte Narrativ folgt dem umgekehrten Cinderella-Schema. Am Anfang fällt der Protagonist und strebt anschließend auf, um dann erneut in den emotionalen Abgrund zu stürzen.

Muster mit Bedeutung

Demnach gibt es in unserem Kulturkreis erstaunlich wenige etablierte Wege, eine Geschichte zu erzählen: Autoren nutzen offenbar immer und immer wieder dieselben Bausteine, um eine komplexe, emotionale Handlung zu formen. Die Wissenschaftler überrascht das nicht: „Unsere Fähigkeit zu kommunizieren basiert in Teilen auch darauf, dass wir bestimmte emotionale Erfahrungen teilen – und uns auf diese Weise verstehen können“, schreiben sie.

Es sei daher kein Wunder, dass Geschichten häufig auf solchen Erfahrungen aufbauten und Mustern folgten, die für uns eine Bedeutung haben. Interessant auch: Schon Vonnegut hatte seinerzeit einige der von Reagan und seinen Kollegen charakterisierten emotionalen Bögen beschrieben – unter anderem den „Mann im Loch“ und „Cinderella“.

Rezept für den Erfolg?

Doch die Forscher haben mit ihrer Analyse nicht nur Vonnegut bestätigt und damit einen charakteristischen Kern des Geschichtenerzählens offenbart. Sie können dank einer weiteren Untersuchung nun auch das Geheimnis eines wirklich erfolgreichen Werkes lüften: Das Team analysierte anhand von Downloadzahlen, welche emotionalen Bögen in den beliebtesten Erzählungen vorkommen.

Das Ergebnis: „Icarus“, „Ödipus“ und der „Mann im Loch“ schneiden am besten ab – vielleicht ja ein hilfreicher Tipp für all diejenigen, die gerade am nächsten literarischen Bestseller arbeiten. (EPJ Data Science, 2016; doi: 10.1140/epjds/s13688-016-0093-1)

(SciencePOD, 27.12.2016 – DAL)

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