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Neurobiologie

Das „männliche“ oder „weibliche“ Gehirn ist ein Mythos

Menschliche Gehirne lassen sich nicht ein eine geschlechtsspezifische Skala einordnen

Von wegen Mars und Venus: Die Gehirne von Männern und Frauen sind sich ähnlicher als man denkt © Jake Olimb/ iStock.com

Von wegen typisch männlich oder typisch weiblich: Unsere Gehirne sind weniger geschlechtstypisch als bisher angenommen, wie ein erster Vergleich des gesamten Gehirns aufzeigt. Demnach sind einige Strukturmerkmale zwar bei jeweils einem Geschlecht häufiger, die Überlappungen sind aber enorm. Nahezu jeder Mann hat auch typisch weibliche Hirnmerkmale und jede Frau männliche. Jedes Gehirn ist daher ein einzigartiges Mosaik aus männlichen und weiblichen Eigenschaften, berichten Forscher im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“.

Typisch Mann, typisch Frau: Indizien für geschlechtsspezifische Unterschiede in Verhalten und Biologie gibt es inzwischen einige. So scheinen Frauen negative Gefühle stärker zu empfinden als Männer und ihr Gehirn ist stärker durchblutet, dafür sind diese narzissstischer. andere Differenzen sind dagegen kulturell bedingt oder schlicht ein vereinfachendes Klischee.

Gibt es DAS männliche oder weibliche Gehirn?

„Die dokumentierten Geschlechtsunterschiede werden oft als Beleg dafür herangezogen, dass es zwei verschiedene Kategorien menschlicher Gehirn gibt – das weibliche und das männliche Gehirn“, erklären Daphna Joel von der Universität Tel Aviv und ihre Kollegen. „Doch wenn es einen solchen Dimorphismus gäbe, dann dürfte es kaum Überlappungen zwischen beiden Formen geben und die Gehirne müssten in sich konsistent sein – also nur männliche oder nur weibliche Merkmale besitzen.“

Ob es diese deutliche Abgrenzung von männlichem und weiblichem Gehirn gibt, haben die Forscher nun erstmals konkret überprüft. Für ihre Studie analysierten sie die mittels funktioneller Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) erstellten Aufnahmen von 1.400 menschlichen Gehirnen. Sie verglichen dabei Merkmale wie das Volumen der grauen und weißen Materie, die Zahl der Verbindungen zwischen Hirnarealen und die Dicke der Hirnrinde in verschiedenen Regionen.

Volumen verschiedener Hirnregionen bei Männern und Frauen (Gelb=klein, grün=groß) - es gibt keine einheitlichen Unterschiede © Zohar Berman, Daphna Joel

Enorme Spannbreite

Das Ergebnis: Egal, welche Merkmale die Forscher untersuchen, es zeigte sich immer das gleiche Bild. Demnach gibt es durchaus einzelne Strukturen und Eigenschaften, die bei Männern im Durchschnitt häufiger vorkommen und andere, die bei Frauen häufiger sind. Etwa ein Viertel bis die Hälfte aller Gehirne besaß mindestens ein Merkmal, das sich als typisch männlich oder weiblich kategorisieren ließ, wie die Forscher berichten.

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Aber: Die Spannbreite und Variabilität war enorm. In fast allen Gehirnen gab es sowohl Areale und Strukturen mit typisch männlichen als auch mit typisch weiblichen Merkmalen. Gehirne mit nur männlichen oder nur weiblichen Eigenschaften waren dagegen eine verschwindende Minderheit. So fanden die Forscher nur in 0,7 Prozent der untersuchten Gehirne eine rein einem Geschlecht zuzuordnende Konnektivität, beim Volumen der grauen Zellen waren es nur 2,2 Prozent.

„Ein einzigartiges Mosaik“

Nach Ansicht der Forscher demonstriert dies, dass es zwar durchaus Geschlechtsunterschiede in einzelnen Merkmalen gibt, doch in ihrer Gesamtheit lassen sich unsere Gehirne nicht in einer Skala der Männlichkeit oder Weiblichkeit einstufen. „Stattdessen ist jedes Gehirn ein einzigartiges Mosaik von Merkmalen, von denen einige bei Männern häufiger sind, andere bei Frauen und wieder andere kommen bei beiden Geschlechtern vor“, so Joel und ihre Kollegen.

Es gibt nicht DAS männliche oder DAS weibliche Gehirn - ebensowenig wie es in unserem Verhalten die rein männliche oder rein weibliche Ausprügung gibt. Ein wenig vom anderen Geschlecht hat so gut wie jeder in sich. © Vaenma/ iStock.com

Das zeigte sich sogar in einer Studie, in der Männer und Frauen anhand von zehn als geschlechtstypisch geltenden Verhaltensweisen verglichen wurden, darunter das Spielen von Computerspielen, das Anschauen von Talkshows und ähnliches. Auch in dieser Stichprobe waren nur 1,2 Prozent der Gehirne durchgehend männlich oder durchgehend weiblich, wie die Forscher berichten. Ihrer Ansicht nach demonstriert dies, dass selbst vermeintlich geschlechtstypische Verhaltensweisen wenig darüber aussagen, wie das Gehirn des Betreffenden insgesamt geprägt ist.

Keine zwei Klassen

Das aber bedeutet auch: „Unsere Gehirne fallen nicht in zwei Klassen, eine typisch für Männer und die andere typisch für Frauen“, so die Forscher. Denn abgesehen von dem Mosaik-Effekt ist für eine solche klare Trennung auch die Überlappung viel zu groß. Statt einer U-förmigen Verteilung mit den meisten Treffern an beiden Extremen des Spektrums ähnelt die Kategorisierung entlang einer weiblich-männlich Achse eher einem Berg mit zwei eng beieinander liegenden Gipfeln.

Das so gerne zitierte „männliche oder „weibliche“ Gehirn ist demnach ein Mythos. Auch wenn Erfahrungen, Gene und Hormone wie Testosteron und Östrogen viele unserer Hirnstrukturen nachhaltig prägen, gibt es zwischen Männern und Frauen weit mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Und wer in einem Punkt typisch männlich ist, kann in einem anderen durchaus typisch weiblich sein. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2015 doi: 10.1073/pnas.1509654112)

(PNAS, 01.12.2015 – NPO)

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