Unsere chaotische Heimat

Die Milchstraße

Die Milchstraße © Star Observer

Heimat. Das ist für gewöhnlich die Region, die wir am besten kennen. Doch das gilt nur für die Erde, für unseren Heimatort, die Region oder das Land, in dem wir leben. Es gilt mit Sicherheit nicht für die Milchstraße – dabei ist sie doch unser Heimatort im Universum.

Bereits das Wissen über die nächst gelegenen Sternennachbarn in diesem Heimatort namens „Milchstraße“ war bis vor kurzem äußerst lückenhaft. Die Sterne in unserer galaktischen Nachbarschaft hatte man über Jahrhunderte fast ausschließlich deswegen für intensivere Beobachtungen ausgewählt, weil man sie für „interessant“ hielt. Weil sie in der einen oder anderen Weise von der Norm abwichen. Sie wurden nicht etwa deswegen untersucht, weil sie typisch waren.

Diese Gewohnheit, stets nur die Ausnahme zu betrachten, hat dazu geführt, dass wir bis heute eine verzerrte Ansicht über die Entwicklungsgeschichte unserer Galaxis haben.

Eugen Reichl / StarObserver
Stand: 01.10.2004

Die Geschichte der Milchstraße

Von der diffusen Gasblase zur Spiralgalaxie

So etwa könnte unsere Milchstraße aus zehn Millionen Lichtjahren Entfernung aussehen © Star Observer

Die Milchstraße begann ihre „Karriere“ bald nach dem Urknall als diffuse Gasblase, die fast nur Wasserstoff und Helium enthielt. Im Laufe der Zeit entwickelte sie sich zu jener abgeflachten Spiralgalaxie, die wir heute bewohnen.

Schon früh begann die Geburt von Sternen in unserer Heimat, und danach bildeten sich Generationen um Generationen weiterer Sonnen. Vor etwa 4,7 Milliarden Jahren entstand schließlich auch unser Zentralgestirn.

Aber wie geschah dies alles? Verlief es schnell und unregelmäßig oder gemächlich nacheinander? War der Prozess wild oder eher ruhig? Wann bildeten sich die schweren Elemente? Wie veränderte die Milchstraße über Jahrmilliarden ihre Zusammensetzung und ihre Form? Antworten auf diese und viele anderen Fragen sind heiße Eisen für die Astronomen, welche die Geburt und die Evolution der Milchstraße und anderer Galaxien studieren.

Für einige dieser Fragen liegen jetzt Resultate vor. Sie stammen aus der 15 Jahre dauernden Marathon-Beobachtungskampagne eines dänisch-schweizerisch-schwedischen Untersuchungsteams unter der Leitung der Astronomin Brigitta Nordström vom Niels-Bohr-Institut für Astronomie, Physik und Geophysik in Kopenhagen.


Stand: 01.10.2004

„Volkszählung“ in der galaktischen Nachbarschaft

Tausend und eine Nacht am Teleskop

Künstlerische Darstellung der untersuchten Gruppe von Sternen © Star Observer

Das Team verbrachte über 1.000 Beobachtungsnächte in einem Zeitraum von 15 Jahren am dänischen 1,5-Meter-Teleskop der Europäischen Südsternwarte in La Silla, Chile, und am Ein-Meter-Teleskop des Observatoire de Haute-Provence in Frankreich. Weitere Beobachtungen wurden am Harvard-Smithsonian Center für Astrophysik in den USA gemacht. Dabei wurden mehr als 14.000 sonnenähnliche Sterne vom Typ F und G beobachtet, wobei jeder einzelne von ihnen während dieses Zeitraums im Schnitt viermal untersucht wurde, sodass insgesamt etwa 63.000 individuelle spektroskopische Beobachtungen zustande kamen.

Diese „Volkszählung“ in unserer galaktischen Nachbarschaft ist jetzt vollständig. Von all diesen etwa 14.000 Sternen sind nun die Distanzen, das Alter, die chemische Zusammensetzung, ihre Geschwindigkeitsvektoren im Raum und ihre Bahnparameter im Rahmen der Milchstraßenrotation bekannt. Außerdem wurden sie in Einzel-, Doppel- oder Mehrfachsysteme klassifiziert. Die letzteren beiden Gruppen zusammen machen übrigens ein erstaunliches Drittel aller untersuchten Sterne aus.

Der Zensus lieferte die fehlenden Teile für das Puzzle um die solare Nachbarschaft. Und es setzt zunächst einen Schlusspunkt unter ein Projekt, das vor mehr als zwanzig Jahren seinen Anfang nahm.

Tatsächlich geht es um die Erfüllung eines alten Traumes des dänischen Astronomen Bengt Strömgren (1908-1987), einem der Pioniere der Erforschung der Geschichte unserer Milchstraße mittels systematischen Studiums einer möglichst großen Anzahl durchschnittlicher Sterne und Sternsysteme. Bereits in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte er eine eigene Methode, „Strömgrens Fotometrisches System“, um die chemische Zusammensetzung und das Alter von Sternen schnell und effizient messen zu können. Die beiden dänischen Teleskope in La Silla, ein 50-Zentimeter- und ein 1,5-Meter-Teleskop, sind speziell für diese Aufgabenstellung optimiert worden.

Künstlerische Darstellung der untersuchten Gruppe von Sternen © Star Observer

Ein weiterer dänischer Astronom, Erik Heyn Olsen, begann in den 1980ern mithilfe der Strömgrenschen Fotometrietechnik die Lichtintensität von 30.000 Sternen der Kategorie A, F und G zu messen. Dann kamen präzise Daten von Hipparcos dazu, mit denen die genauen Distanzen und relativen Geschwindigkeiten dieser Sterne am Himmel zugeordnet werden konnten.

Das fehlende Glied waren nun noch die Geschwindigkeitsangaben entlang der Sichtlinie, die so genannten Radialgeschwindigkeiten. Diese konnten in einer wahren Sisyphusarbeit vom Team aufgrund der Doppler-Verschiebung in den Spektrallinien dieser Sterne gemessen werden. Dieselbe Technik wird übrigens auch verwendet, um Planeten um andere Sterne festzustellen.


Stand: 01.10.2004

Die bewegte Milchstraße

Ein Ort lebhafter Veränderungen…

Die gekrümmte Spiralgalaxie ESO 510-13. Man nimmt heute an, dass auch die Milchstraße eine leichte Krümmung aufweist. © Star Observer

Zum ersten Mal gibt es jetzt einen kompletten Datensatz für eine repräsentative Menge von Sternen einer völlig durchschnittlichen Population innerhalb der Milchstraße in einem völlig durchschnittlichen Areal innerhalb der Sternenscheibe. Der Datensatz ist groß genug für eine seriöse statistische Analyse und enthält vollständige Informationen über alle Geschwindigkeitsdaten sowie Informationen über Doppel- und Mehrfachsysteme.

Mit diesen Datensätzen konnten die Astronomen berechnen, wie die Wanderung dieser Sterne in der Vergangenheit verlaufen ist und wohin sie in der Zukunft ziehen werden. Aus diesen Datensätzen ist zu erkennen, dass viele der Sterne, die heute nahe der Sonne sind, tatsächlich von weither kamen. Die Untersuchung gibt allerdings keinen Hinweis auf den Geburtsort der Sonne innerhalb der Galaxis.

Auf die Daten hat jetzt bereits ein weltweiter »run« eingesetzt. Zum einen analysiert das Forscherteam selbst natürlich die gewonnenen Informationen, aber auch ihre Kollegen weltweit stürzen sich jetzt auf die Interpretation dieser Schatztruhe astronomischen Wissens.

Die ersten noch vorläufigen Analysen haben ergeben, dass Objekte wie Molekülwolken, Spiralarme, Schwarze Löcher oder vielleicht ein Zentralbalken in der Galaxis die Bewegung der vermessenen Sterne durch die gesamte Geschichte ihrer Existenz immer wieder gestört haben.

Das bedeutet, dass die Entwicklung der Milchstraße weit komplexer und chaotischer war als die traditionellen, simplifizierten Modelle angenommen haben. Supernova-Explosionen, Kollisionen mit anderen Galaxien und die Durchdringung der Milchstraße durch extragalaktische Gaswolken haben die Milchstraße zu einem Ort lebhafter Veränderungen gemacht.


Stand: 01.10.2004

Die Milchstraße und ihre chaotische Vergangenheit

Fressen und Gefressen werden

Die Geburtsstätte der Sonne hat einst auch ausgesehen wie der Gasnebel NGC 604 © Star Observer

Unsere Heimatgalaxis ist eine riesige Spirale, die von einem Ende bis zum anderen etwa 100.000 Lichtjahre überspannt. Unsere Sonne umkreist das Zentrum dieser Spirale in einem dünn besiedelten Randgebiet eines der äußeren Arme, 26.000 Lichtjahre vom Zentrum entfernt.

Alle Sterne der Milchstraße sind über die Gravitation an das kompakte galaktische Zentrum gebunden und kreisen um dieses. Die meisten sind in einem gleichmäßigen Orbit um den Kernbereich gefangen. Sobald sie aber anderen Objekten begegnen, können sie aber ihren Kurs ändern; sie können beschleunigen oder langsamer werden Alte Sterne scheinen sich generell schneller zu bewegen als junge Sterne.

Irgendetwas hat ihre Bewegungen stärker gestört, als wir bislang wussten. Was aber hat diese Störungen verursacht? Was war es, das jedem Stern eine unterschiedliche Bahn und Geschwindigkeit gegeben hat? Nun, da gibt es verschiedene Möglichkeiten, um Gravitationsstörungen hervorzurufen, die schließlich Sterne aus ihrer gewohnten Bahn warfen.

Da sind zunächst

  • die Spiralarme der Milchstraße selbst, denn sie sind dichter als die relative Leere zwischen den Armen;
  • Kleingalaxien, die durch die Milchstraße fallen und von ihr aufgesogen werden;
  • gigantische extragalaktische Gaswolken, die durch die Galaxis ziehen, und schließlich

  • Schwarze Löcher

Herauszufinden, woher ein Stern kam, ist keine leichte Aufgabe, aber die neuen Daten geben erste Hinweise. Ein Stern, der gefährlich nahe an einem Schwarzen Loch vorbeizieht, wird beispielsweise eine erheblich höhere Geschwindigkeit haben als ein anderer Stern, der gemütlich um eine dünne Gaswolke herummäandert.

Dramatische Veränderungen

Astronomen wissen seit langem, dass sich die Milchstraße während der bisherigen Lebenszeit des Universums, also über einen Zeitraum von etwa 13,7 Milliarden Jahren, dramatisch entwickelt hat. Neuere Modelle zeigen, dass die Galaxien ihre Hauptmassen über Milliarden von Jahren aufbauen, indem sie mit anderen Galaxien verschmelzen und Kleingalaxien „auffressen“. Gerade in den letzten Jahren wurden ganze Ketten von Sternen beobachtet, die sich mit auffallender Geschwindigkeit in ungewöhnlichen Winkeln bewegen. All das sind Hinweise für eine chaotische Vergangenheit.

Einst war die Milchstraße von einer großen Anzahl von Kugelsternhaufen umgeben. Es müssen Tausende gewesen sein, von denen heute nur noch etwa 200 existieren. Diese Kugelsternhaufen wurden schon vor langer Zeit zerstört. Sie stürzten ineinander oder wurden einfach von der Milchstraße aufgesogen. Die überlebenden Sterne aus dieser Zeit sind weitaus älter als jedes Fossil auf der Erde. Sie sind viel älter als unsere Sonne, und ihr Ursprung reicht zurück bis an die Anfangstage des Universums selbst.

In diesen permanenten Entwicklungsprozess der Milchstraße hinein wurde vor 4,6 Milliarden Jahren auch unsere Sonne geboren. Sie entstand wahrscheinlich wie die meisten Sterne in einer dichten Gaswolke inmitten eines dichten Sternhaufens. Erst später dürfte sie durch eine unbekannte Gravitationseinwirkung in ihre gegenwärtige, weniger dichte und relativ sternenarme Umgebung gestoßen worden sein. Seit ihrer Entstehung hat die Sonne das galaktische Zentrum 20-mal umrundet. All ihre Schwestern und Brüder, mit denen zusammen sie einst geboren wurde, sind inzwischen längst in alle Himmelsrichtungen verstreut.


Stand: 01.10.2004

Wie sieht die Zukunft der Milchstraße aus?

Galaxien-Crash in ferner Zukunft

Wie wird sich unsere Galaxis weiter entwickeln? Wir wissen es nicht.

Aber die Zukunft wird nicht weniger abwechslungsreich und chaotisch sein, als es die Vergangenheit war. Es gibt so viele Möglichkeiten, wie es Sterne in der Milchstraße gibt. Aber wenn wir unsere kosmische Nachbarschaft betrachten, dann haben wir Beispiele vor Augen, wie es in fünfhundert Millionen oder auch in fünf Milliarden Jahren mit unserer Galaxis weitergehen könnte.

Andromeda-Galaxie und der Komet Ikeya-Zhang © Star Observer

Wie wir heute wissen, bewegt sich unsere Milchstraße und die größte Galaxie der so genannten Lokalen Gruppe, die Andromeda-Galaxie (M 31), aufeinander zu. Irgendwann in ferner Zukunft wird es voraussichtlich zu einer Kollision mit dieser Sterneninsel kommen. Wie wird sich das möglicherweise abspielen?

Nehmen wir einmal zwei von all den vielen Möglichkeiten genauer unter die Lupe.

Ein Beispiel, wie es dereinst der Milchstraße ergehen kann, ist die seltsam geformte Galaxie AM 0644-741. Sie ist ein Mitglied der Klasse der Ringgalaxien und liegt 300 Millionen Lichtjahre entfernt in der Richtung des Südhimmel-Sternbildes Dorado. AM 0644-741 ist größer als unsere Heimatgalaxie, aber das muss nicht immer so gewesen sein. Sie hat heute einen Durchmesser von 150.000 Lichtjahren; unsere heutige Milchstraße könnte durch diesen Sternenring hindurchfliegen, ohne ihn zu streifen.

Hoags Object - Ringgalaxie © Star Observer

Ringgalaxien sind ein besonders auffallendes Beispiel, wie Kollisionen von Galaxien deren Struktur dramatisch verändern können und dabei gleichzeitig die Bildung neuer Sterne anregen. Ringgalaxien entstehen durch einen speziellen Kollisionstyp, bei dem eine Galaxie, quasi der „Eindringling“, direkt durch die Scheibe einer anderen Galaxie, das „Opfer“, dringt. Dabei ist jene Sternspirale, die AM 0644-741 durchdrungen hat, auf unserem Bild nicht mehr zu sehen. Die Spiralgalaxie, die in der linken oberen Hälfte des Bildes sichtbar ist, ist eine zufällige Hintergrundgalaxie und steht nicht in Zusammenhang mit dem Ring.

Wer auf einem in den Ring eingebetteten Planeten lebte, würde nachts über sich ein brillantes Band blauer Sterne erleben, die sich in einem gewaltigen Bogen über den Himmel wölben. Diese Sicht würde aber nicht ewig bestehen, so wie nichts im Leben einer Galaxie von Dauer ist. Nach etwa 300 Millionen Jahren hätte der Ring seinen maximalen Radius erreicht, danach würde er sich langsam auflösen.


Stand: 01.10.2004

Kosmische Kollisionen

…wie Wellenringe in einem Teich

NGC 1275 - zwei kollidierende Galaxien im Perseus-Crater © Star Observer

Die durch die Kollision entstehende Gravitationsstoßwelle würde die Orbits von Sternen und Gaswolken in der Zielgalaxie dramatisch verändern. Diese würden sich beschleunigt nach außen bewegen, etwa wie Wellenringe in einem Teich, nachdem ein großer Stein hineingeworfen wurde. In dem Maße, wie der Ring in die Außenbereiche der Galaxie pflügt, kollidieren Gaswolken und werden komprimiert. Diese verdichteten Wolken können sich dann unter dem Einfluss ihrer eigenen Gravitation zusammenziehen, schließlich kollabieren und in der Folge eine Fülle an neuen Sternen entstehen lassen.

Die wuchernde Sternenbildung erklärt auch, warum der Ring eine blaue Färbung aufweist. Er formt kontinuierlich massereiche, junge und heiße Sterne, die im energiereichen blauen Spektralbereich leuchten. Ein weiteres Zeichen intensiver Sternentstehung sind die rosafarbenen Regionen entlang des Rings. Das sind dünne Wolken von leuchtendem Wasserstoffgas, die wegen der starken ultravioletten Strahlung, die von den neu gebildeten massiven Sternen ausgesendet wird, fluoreszieren.

Auch die rosafarbenen Regionen entlang des Ringes sind Zeichen einer robusten Sternformation. Astronomen gaben diesem Gebilde den Spitznamen „Die Mäuse“, weil jede der beiden Komponenten einen langen Schweif aus Gas und Sternen hinter sich herzieht. Die Durchdringungsgeschwindigkeit dieser beiden Galaxien ist zu gering, als dass sie sich wieder voneinander lösen könnten. So werden sie zunächst bis zu einer gewissen Distanz auseinanderstreben und dann wieder aufeinander zufallen. Dabei werden sie sich gegenseitig durchdringen, immer wieder und wieder, bis sie in fernen Jahrmillionen miteinander verschmolzen sind.

Geschehnisse, wie sie diesen beiden Sterneninseln widerfahren, kosmische Kollisionen ungeheuren Ausmaßes, sind keine Katastrophen. Sie sind Ausdruck der ungeheuren Kraft der Natur. Auch mit Andromeda und der Milchstraße kann das in ferner Zukunft geschehen. Ihre Verschmelzung wird der Auslöser für die Geburt unzähliger neuer Sterne sein. Sterne, die vielleicht – so wie unsere Sonne – von Planeten umkreist werden, über denen sich ein Himmel wölbt, der die Sonnen zweier Galaxien in sich vereint. Ein grandioses Schauspiel für unsere Nachfahren in Jahrmilliarden.


Stand: 01.10.2004