Symbiotische Viren als Triebkräfte unserer Evolution?

Der „Feind“ in uns

Endogene Retroviren: 8,5 Prozent unseres Genoms bestehen aus Virengenen. © NHGRI/CDC

Sie gelten als Parasiten, als „Piraten“, die unsere Zellen entern, für ihre eigenen Zwecke nutzen und letztlich zerstören: die Viren. Viele der großen Seuchen und tödlichsten Krankheiten, ob Pocken, Aids, Influenza oder Ebola wurden und werden von diesen winzigen Lebensformen verursacht. Aber nach neuesten Erkenntnissen sind sie nicht nur Vernichter, sondern vielleicht auch Schöpfer – kreative Triebkräfte der Evolution.

Trotz ihrer Killerqualitäten haben auch Viren eine Achillesferse: Bestehend aus kaum mehr als einer Hülle und ihrem Erbgut, sind sie außerhalb ihrer Wirte kaum lebensfähig. Ein passender Wirt ist für sie daher obligatorisch. Seine Zellmaschinerie erst ermöglicht es ihnen, unzählige Kopien ihrer selbst herstellen zu lassen und damit ihre Verbreitung sicherzustellen. Nach geltenden Vorstellungen beruht unser Verhältnis zu diesen Krankheitserregern daher auf einer Koevolution, einer Art evolutionären „Wettrüsten“. In dessen Verlauf haben einige Viren zwar durch Anpassung und Selektion ihre Tödlichkeit für uns verloren, können uns aber stattdessen länger als Wirte nutzen.

Doch nach Ansicht einiger Virenforscher gibt es noch eine völlig andere Form der Beziehung zwischen Virus und Wirt, wie der bekannte britische Wissenschaftsautor Frank Ryan in seinem neuen Buch „Virolution“ berichtet. Demnach sind die Viren nicht nur in vielen Dingen echte Partner von Tier und Mensch, sondern möglicherweise sogar entscheidende Triebkräfte der Evolution.

Wichtigstes Indiz dafür ist der „Feind“ in uns: Virale Gensequenzen, die in unserem Erbgut mehr Raum einnehmen als unsere eigenen, protein-kodierenden Gene…

Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010

"Virolution"

Das Buch zum Thema

Virolution – Die Macht der Viren in der Evolution

von Frank Ryan (Autor), Andrea Kamphuis (Übersetzerin)

Spektrum Akademischer Verlag, 2010

364 Seiten, gebunden

Preis: 24,95 €

Virale Gensequenzen finden sich in Hülle und Fülle auch im Erbgut des Menschen, wie das Humangenomprojekt gezeigt hat. Und sie sind dort nicht einfach Überbleibsel früherer Auseinandersetzungen, sondern erfüllen Funktionen, die wir gerade erst zu verstehen beginnen und die ganz offenbar von physiologisch-medizinischer Relevanz sind. Die virale Symbiose ist eine weitaus wichtigere Komponente der Evolutionsbiologie als bisher gedacht. Im stetigen kreativen Prozess der Evolution, in dem Gene und Genome immer wieder variiert und kombiniert werden, spielen die unscheinbaren Viren offenbar eine bedeutsame Rolle.

Frank Ryan stellt diese neue Sichtweise hier erstmals in einer geschlossenen Darstellung einem breiteren Publikum vor. Sein tief recherchiertes und verständlich geschriebenes Buch ist ein faszinierender Brückenschlag zwischen Virologie, Evolutionsbiologie, Symbioseforschung, Humanbiologie und Medizin.

Informationen zum Buch und Bestellung


Stand: 05.11.2010

Kann es eine echte Symbiose von Wirt und Virus geben?

Partner statt Gegner

Rund 90 Prozent der Menschen tragen es in sich: das Humane Herpesvirus 1. Doch die wenigsten von uns merken etwas davon, da die Infektion mit diesem Erreger meist völlig ohne Symptome verläuft. Virus und Wirt leben quasi symbiotisch miteinander – zumindest solange das Immunsystem des Wirts intakt ist.

Herpesbläschen an der Lippe © gemeinfrei

Während aggressive, akute Viren wie Influenza, Ebola oder Aids sich in ihren Wirten rapide vermehren, Zellen und Gewebe zerstören und im schlimmsten Fall den Tod verursachen, verhält sich das Herpes-Virus anders. Es vermehrt sich nicht mehr ungezügelt und seine krankmachende Wirkung ist nur noch minimal. Erst wenn unsere Immunabwehr durch Stress oder Krankheit geschwächt ist, ändert sich dies und der „Eindringling“ macht sich durch Lippenbläschen oder Ekzeme bemerkbar.

„Viren haben mehr als eine Überlebens-Strategie: Nicht alle Viren sind sich rapide vermehrende, schnell verändernde Erreger von Krankheiten“, erklärt Luis Villarreal, Leiter des Center for Virus Research an der Universität von Kalifornien in Irvine. Stattdessen verbindet Mensch und Virus im Falle des Herpesvirus, wie auch bei anderen persistenten Viren, eine lange, vermutlich sogar Jahrmillionen dauernde gemeinsame Geschichte. In ihrem Verlauf wandelte sich der Erreger von einem akuten, seinen Wirt tötenden Parasiten zu einem symbiotischen Mitbewohner.

Echte Symbiose statt „Wettrüsten“?

So lautet jedenfalls die provozierende Theorie von Villarreal und einigen anderen Virenforschern. Wie der bekannte britische Wissenschaftsautor, Arzt und Evolutionsbiologe Frank Ryan in seinem neuen Buch „Virolution“ darlegt, widerspricht diese Sicht des symbiotischen Miteinanders von Mensch und Virus diametral den herkömmlichen Vorstellungen eines „Gleichgewichts des Schreckens“, der prekären Koexistenz auf Basis beiderseitiger Aufrüstungsmaßnahmen.

Herpes simplex- Viren bleiben, einmal eingedrungen, ein Leben lang in uns. © CDC

Denn per Definition ist eine Symbiose eine Partnerschaft, bei der jede Seite von der Anwesenheit der anderen profitiert. Jeder Partner steuert eine Fähigkeit oder Eigenschaft bei, die dem anderen fehlt und ihm daher nützlich ist. „Was der Wirt im Falle einer Wirt-Virus-Beziehung beiträgt, liegt auf der Hand: Er bietet dem Virus Obdach und stellt seine genetische Maschinerie zur Verfügung, so dass das Virus Kopien seiner selbst anfertigen kann“, erklärt Ryan. Aber was steuert das Virus bei?

Der Feind meines Feindes ist mein Freund

Den entscheidenden Hinweis darauf brachten unter anderem Beobachtungen an Affen. Auch bei diesen gibt es Herpesviren, die extrem eng an jeweils eine Affenart angepasst sind und bei diesen keinerlei Krankheitssymptome auslösen. „Wenn man sie mit einer anderen Affenart in Kontakt bringt, wirken sie äußerst, wirklich äußerst letal“, erklärt Max Essex, Professor für Medizin an der Harvard Universität, in Ryans Buch.

„Ich vermute, man könnte sogar nachweisen, dass genau jene Affen am empfindlichsten auf das jeweilige Virus reagieren, die dieselbe ökologische Nische besetzen und zum Beispiel dieselbe Nahrung bevorzugen, während andere Arten, die vielleicht im selben Revier leben aber etwas anderes fressen und somit eine andere Nische ausfüllen, nicht so leicht erkranken.“

Mit anderen Worten: Der Träger eines persistenten Virus profitiert, weil sein Mitbewohner ihm auf sehr effektive Weise unliebsame Konkurrenz aus dem Weg räumt. Oder, wie es Ryan formuliert: „Bei Licht besehen haben auch Viren eine wichtige, wenngleich weniger augenfällige Fähigkeit, die ihren Wirten fehlt: Ihnen wohnt ein immenses Vernichtungspotenzial inne.“

Parapox-Viren helfen dem Grauhörnchen gegen den Konkurrenten, das Eichhörnchen. © Ray eye/CC-by-sa 2.0, gemeinfrei

Virus hilft Grauhörnchen gegen Konkurrent

Wie gut das Beseitigen von Konkurrenz als Gegenleistung des Virus für seinen Wirt funktioniert, zeigt ein Beispiel aus England: Hier breitet sich seit Jahren das aus Amerika eingeschleppte Grauhörnchen (Sciurus carolinensis) immer weiter aus und bedroht inzwischen sogar den Fortbestand des heimischen Roten Eichhörnchens (Sciurus vulgaris).

Lange Zeit hielt man den Einwanderer wegen seiner Größe und Aggressivität für so erfolgreich, doch inzwischen musste man sich eines Besseren belehren lassen, wie Ryan erzählt: „Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Grauhörnchen-Population mit einem Parapoxvirus durchseucht ist, das bei seinem Symbiosepartner keine Krankheitssymptome hervorruft, für das Europäische Eichhörnchen aber tödlich ist.“ Um der grassierenden Parapocken-Übertragung Einhalt zu gewähren, werden seit 2007 in Schottland regelmäßig Grauhörnchen getötet.

Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010

Die Sache mit dem Wespenei

Viren als Komplizen

Aber es gibt auch noch eine andere Möglichkeit, von der symbiotischen Partnerschaft mit einem Virus zu profitieren. Ein Beispiel dafür sind parasitische Wespen, von denen es weltweit mehrere zehntausend Arten gibt. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie andere Insekten als lebende „Brutkästen“ für ihren Nachwuchs nutzen.

Parasitische Wespe (Aleiodes indiscretus) legt ihr Ei in die Raupe eines Schwammspinners © USDA/ Scott Bauer

Viele Wespen legen beispielsweise ihre Eier in Raupen von Schmetterlingen. Nach kurzer Zeit schlüpfen die Wespenlarven und beginnen, sich von den Stoffwechselprodukten und Geweben der Raupe zu ernähren. Dabei fressen sie nicht nur die Raupe von innen heraus auf, sie setzen auch ihr Hormonsystem außer Kraft und verhindern damit, dass diese beginnt sich zu verpuppen. Sind die Wespenlarven dann alt genug, bohren sie sich durch die Haut ihres sterbenden Wirts und verpuppen sich. Soweit so bekannt.

Doch die ganze Geschichte hat einen kleinen Schönheitsfehler: Eigentlich dürften die Wespeneier in den Raupen gar nicht überleben, geschweige denn Larven daraus schlüpfen. Denn das Immunsystem der Raupen ist durchaus auf solche Eindringlinge vorbereitet und müsste die als fremd erkennbaren Eier normalerweise sofort vernichten. Doch genau dies geschieht nicht. Aber warum?

Erst die Symbiose mit dem Virus macht die Parasitierung der Raupe möglich © Ikehiker / CC-by-sa 3.0

Virus hilft Wespenei

Des Rätsels Lösung sind – wieder einmal – Viren: Die parasitischen Brack- und Schlupfwespen sind im Laufe einer Millionen Jahre alten Entwicklungsgeschichte eine Symbiose mit verschiedenen Erregern aus der Familie der Polydnaviren eingegangen. Statt eine Krankheit auszulösen oder sich explosionsartig in ihrem Wirt zu vermehren, wurden die Viren nun im Laufe der Zeit zu entscheidenden „Komplizen“ der parasitischen Wespen.

„Die Beziehungen sind so eng geworden, dass viele der Erreger in die Keimbahn der Wespen eingedrungen sind und erst während der Eiablage als voll ausgereifte Virenpartikel zum Vorschein kommen“, erklärt Ryan in seinem Buch. Dadurch werden die Viren quasi automatisch zusammen mit den Eiern in die Raupen übertragen. Und einmal dort angekommen, entfalten die Viren nun ihre volle Wirkung:

Als erstes lähmen sie das Immunsystem der Raupe und verhindern damit einen Angriff auf ihren Wirt, die Wespe. Dann entern sie Zellen, die zentrale Stoffwechselfunktionen steuern und verändern deren Genfunktion so, dass der Wespenlarve optimale Wachstumsbedingungen geboten werden. Die Raupe beginnt nun beispielsweise, große Mengen bestimmter Zuckerverbindungen herzustellen, die den Wespenlarven als Nahrung dienen.

Polydnaviren © USDA

Beginn einer langen Partnerschaft

„Es handelt sich um ein einmaliges Beispiel, wo Viren durch Wespen so domestiziert wurden, dass sie genetische Information in den Wirt übertragen, die nur dem Überleben der Wespen dient“, erklärt Beatrice Lanzrein, Professorin für Zellbiologie an der Universität Bern. Gemeinsam mit Kollegen aus Tours in Frankreich enträtselte sie im Jahr 2009 den Ursprung dieser symbiotischen Verbindung – und auch, wie eng die Beziehung beider Partner dabei ist.

Der Vergleich von Viren-Signaturen in stammesgeschichtlich weit voneinander entfernten Brackwespenarten enthüllte, dass die allererste Aufnahme eines Polydnavirus durch eine Wespe schon vor 100 Millionen Jahren stattgefunden haben muss – im Zeitalter der Dinosaurier. Heute liegt das Virus bei vielen parasitischen Wespen nicht einmal mehr als eigener Organismus vor, sondern ist sogar fest in das Genom der Wespen eingebaut. Pünktlich zur Eiablage werden dann die Virengene in Eierstockzellen des Wespenweibchens abgelesen und die Viren erwachen zu neuem Leben.

Für Ryan und die Vertreter der Symbiose-Theorie ist dieses Beispiel ein klarer Beweis dafür, dass die Evolution hier nicht nur am Wirt oder am Virus, sondern eindeutig auf die Symbiose der beiden wirkt. „Es steht wohl außer Frage, dass die Selektion hier auf der Partnerschaftsebene ansetzt, denn die Gene und das Verhalten der Viren erhöhen die Überlebenschancen der Wespen immens“, erklärt Ryan. Er sieht daher in solchen symbiotischen Viren nicht nur einfache Begleiter ihrer Wirte, sondern sogar treibende Kräfte ihrer Evolution.

Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010

Das Rätsel der Koala-Seuche

Sprung in die Keimbahn

Wie schwierig und opferreich die Anbahnung einer engen genetischen Partnerschaft zwischen Virus und Wirt sein kann, aber auch, wie schnell dieser Prozess abläuft, zeigt ein Blick ans andere Ende der Welt, nach Australien. Genauer gesagt in die Küstenregionen Ost- und Südaustraliens. Denn hier lebt der Koala, ein wegen seines niedlichen Aussehens vor allem bei Kindern weltweit beliebtes und bekanntes Beuteltier.

Weiblicher Koala im "Billabong Koala and Aussie Wildlife Park" in New South Wales © Quartl / CC-by-sa 3.0

Blutkrebs durch Retrovirus

Doch der einst häufig vorkommende knuddelige „Teddybär“ wird heute immer seltener, in New South Wales und Südaustralien gilt er bereits offiziell als bedroht. Nicht nur das Schrumpfen seines natürlichen Lebensraums macht ihm zu schaffen, sondern seit rund 40 Jahren auch eine Häufung von verschiedenen Arten von Blutkrebs. Immer mehr Tiere im Freiland, aber auch in Zoos und Wildparks erkranken und sterben an Leukämie und Lymphomen.

Alarmiert durch die hohen Todesraten, die innerhalb von 15 Jahren sogar zur völligen Ausrottung der Tiere in Queensland führen könnten, gingen Wissenschaftler um Jon Hanger von der Universität von Queensland der Sache nach. Wegen der seuchenartigen Ausbreitung tippten sie auf eine durch einen viralen Erreger ausgelöste Krebserkrankung und leiteten die „Fahndung“ ein.

Mit Hilfe von elektronenmikroskopischen Aufnahmen und genetischen Analysen ging ihnen schließlich tatsächlich ein Virus ins Netz: ein Retrovirus, das sie Koala-Retrovirus, kurz KoERV, tauften. Retroviren, eine vermutlich schon vor mehr als 250 Millionen Jahren entstandene Virenform, speichern ihre genetische Information nicht als DNA, sondern in Form eines kurzen RNA-Strangs, bestehend aus drei Genen, ab. Eines davon kodiert unter anderem das Enzym Reverse Transkriptase, mit dessen Hilfe die Retroviren ihr RNA-Erbgut in DNA umschreiben und es so problemlos in die Zellmaschinerie ihres Wirts einschleusen können.

Spermium und Eizelle: Tragen sie das Virus, wird es an die nächste Generation weitergegeben. © gemeinfrei

Der Sprung in die Keimbahn

„Die Forscher machten zudem eine ziemlich seltsame Entdeckung: Das Virus, das die Leukämien und Lymphome auslöste, war mit Sequenzen identisch, die man in den Chromosomen der Koalas fand“, schildert Frank Ryan in seinem Buch „Virolution“ die Entdeckungsjagd der Australier. Das erscheint zunächst nur wenig erstaunlich, eröffnet doch das Enzym Reverse Transkriptase den Retroviren noch eine weitere Möglichkeit: Die Integration ihrer Gene nicht nur in normale Körperzellen, sondern auch in Zellen der Keimbahn und damit bereits direkt in Zellen der nächsten Wirtsgeneration.

„Das Virus verwandelt sich dadurch in einen Bestandteil des neuen Genoms, es gibt seine Freiheit auf und erlangt dafür Langlebigkeit, ja vielleicht eine Form der Unsterblichkeit“, erklärt Ryan. Durch diese so genannte „Endogenisierung“ stellt das Retrovirus sicher, dass es von nun an als integraler Teil des Genoms an alle Nachkommen seines Wirts weitervererbt wird. Dafür allerdings muss es auch Opfer bringen: Es büßt in der Regel seine krankmachende Wirkung und auch seine Fähigkeit zur Übertragung auf andere Wirte ein.

Paradox: endogen und doch aktiv?

Und genau das war das Problem bei der Seuche der Koalas: Normalerweise ist eine akute Krankheit immer auf exogene, von außen eingedrungene Viren zurückzuführen. Nur sie vermehren sich noch ungezügelt im Körper und schädigen aktiv ihre Wirtszellen, so jedenfalls die gängige Lehrmeinung. Persistente Viren, die bereits eine Symbiose mit ihrem Wirt eingegangen sind, sollten dagegen in der Regel keinen solchen Schaden mehr anrichten. Und endogene Retroviren, die sich bereits in das Genom des Wirts integriert haben, erst recht nicht.

„Wir waren also ein bisschen in der Zwickmühle“, erklärt die Virologin Rachel Tarlington, die Ende der 1990er Jahre ihre Doktorarbeit über die Koala-Epidemie geschrieben hat im Interview mit Ryan. „Wir hatten es mit einem aktiven Virus zu tun, das dennoch vererbt wurde.“ Wie konnte das möglich sein?

Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010

Versuch und Irrtum im Wirtsgenom

Evolution in Echtzeit

Warum verhielt sich das Koala-Retrovirus wie ein akut infektiöser Erreger, obwohl es längst im Koalagenom verankert war? Um die Ursache für dieses scheinbar paradoxe Verhalten herauszufinden, beschlossen die Forscher um Rachel Tarlington und Jon Hanger von der Universität von Queensland zu klären, wann die Endogenisierung des KoERV stattgefunden hatte.

Als sie die Populationen der australischen Koalas nun systematisch nach den Virengenen durchmusterten, erlebten die Forscher gleich zwei Überraschungen: Zum einen unterschieden sich Anzahl und Einfügungsorte der retroviralen Sequenzen extrem stark zwischen den einzelnen Koalas. „Die Viruskopienzahl geht von Tier zu Tier massiv auseinander – fast als würde das Virus das Genom gerade auskundschaften“, erklärt Tarlington. „Das deutet auf einen sehr aktiven Vorgang hin, auf einen sehr dynamischen evolutionären Wandel.“

Blick über einen Teil von Kangaroo Island © Roo72/ cc-by-sa 2.0

Infektion erst seit 100 Jahren

Völlig perplex aber waren die Wissenschaftler, als sie feststellten, dass die Koalas in Queensland zwar relativ gleichmäßig durchseucht waren, die Infektionsrate aber Richtung Südwesten immer weiter abnahm. Auf der Insel Kangaroo Island schließlich fanden sich bei keinem der untersuchten Tiere Spuren von Blutkrebs und auch die Sequenzen des Koala-Retrovirus suchten die Forscher in ihrem Genom vergebens. Des Rätsels Lösung brachte ein Blick in die Geschichte: „Die Koalas kamen irgendwann in den 1920er Jahren nach Kangaroo-Island, aber sie stammten von einer anderen Insel, auf der sie bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts isoliert waren“, so Tarlington.

Für Tarlington und ihre Kollegen lag daher der Schluss nahe, dass das Koala-Retrovirus ziemlich neu ist und die Koalas erst seit rund 100 Jahren infiziert. Auch für den Ursprung des Virus gibt es bereits erste Indizien: Tarlingtons Kollege Greg Simmonds entdeckte, dass einige Nagetiere in Südostasien ein sehr ähnliches Virus haben. Möglicherweise wurden infizierte Tiere eingeschleppt und gaben den Erreger dann an die Koalas weiter.

Koalas auf Kangaroo Island sind virenfrei © Cody Pope/ CC-by-sa 2.5

Evolution durch Versuch und Irrtum

Was aber bedeutet dies nun für die betroffenen Koalas? „Gegenwärtig löscht das Koala-Retrovirus jene Angehörigen der Wirtsart aus, die nicht mit ihm leben können. Zu seiner präadaptierten Strategie gehören die jüngst beobachtete Invasion und die vielfache Insertion in die Koala-Keimbahn“, erklärt Ryan. Der Erreger befindet sich damit quasi noch in einer Art Experimentierstadium von Versuch und Irrtum. In diesem Prozess der Selektion überleben dann letztlich die Kombinationen aus endogenem Retrovirus und Koala, bei denen Erreger und Wirt in einer für beide günstigen Form miteinander verschmolzen sind:

„Für mich verdichteten sich die Hinweise, dass wir die verschiedenen Stufen einer aggressiven Symbiose gerade in Echtzeit miterleben durften“, so Ryan. „Den Übergang vom Wüten eines exogenen Virus in den ersten Individuen eines neuen Wirts über die Ausmerzung großer Teile der Wirtspopulation hin zu einer Partnerschaft auf dem Niveau einer innigen Symbiogenese, gefolgt von einer vollständigen Genomverschmelzung. Bald werden die glücklichen Überlebenden – im Unterschied zu jenen Tieren, die geografisch von diesen Populationen isoliert sind – eine neue, holobiontische Einheit aus Koala und Virus darstellen.“ Holobiontisch heißt in diesem Falle, dass beispielsweise die Selektion und andere evolutionäre Einflüsse zukünftig nicht mehr an beiden Partnern getrennt ansetzen, sondern nur noch am gemeinsamen Ganzen.

Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010

Die Entdeckung viraler Gene und Genfragmente im menschlichen Erbgut

Blinde Passagiere in unserem Genom

12. Februar 2001, Washington D.C.: Vor der versammelten internationalen Presse verkünden Vertreter des internationalen Humangenomprojekts (HGP) und Craig Venter, Leiter des privaten Gentech-Unternehmens Celera die erste komplette Sequenzierung des menschlichen Erbguts. Nach mehr als zehn Jahren fieberhafter Arbeit in Instituten und Forschungslabors weltweit – zusätzlich angeheizt durch den Wettlauf zwischen dem staatlichen Projekt und dem Privatunternehmen Celera – liegt nun erstmals der genetische Code unserer Spezies als Arbeitsversion vor.

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Die 1,5 Prozent-Überraschung

Die scheinbar unendlich lange Abfolge von vier simplen Buchstaben, die die vier Basenpaare Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin symbolisieren, ergibt zwar noch lange keinen Sinn, die Worte im „Buch des Lebens“ sind noch nicht enträtselt. Aber die rund 3,2 Milliarden sequenzierten Basenpaare erweisen sich auch in ihrer Rohfassung schon als echter Sprengstoff. Denn gleich in mehreren Punkten widersprechen die Ergebnisse allen vorherigen Erwartungen:

„Am seltsamsten war die statistische Verteilung der Bestandteile des Humangenoms, die sich allmählich aus all den hektischen Sequenzierarbeiten herauskristallisierte“, schildert Frank Ryan, Autor des Buches „Virolution“ seine Eindrücke. So umfasst das menschliche Genom nur rund 20.000 bis 25.000 proteinkodierende Gene – dies entspricht gerade einmal 1,5 Prozent des gesamten Erbguts. Mehr als 50 Prozent bestehen dagegen aus auf den ersten Blick scheinbar sinnlosen Wiederholungen von Genen und Genteilen, der „Junk-DNA“.

Typischer Aufbau eines Retrovirus-Erbguts: Flankiert von LTR-Sequenzen liegen die Virengene gag, pol und env. © Gleiberg/ CC-by-sa 2.0/de

Virale Signaturen

Doch die eigentliche Überraschung verbirgt sich in den restlichen Bestandteilen unseres Genoms. Denn die Wissenschaftler entdecken zu ihrem großen Erstaunen 600.000 Basenabfolgen im menschlichen Erbgut, die eindeutig nicht menschlichen, sondern viralen Ursprungs sind. Die Virengene verraten sich durch spezielle DNA-Abfolgen, die „long terminal repeats“, die sie an beiden Seiten flankieren. Sie erleichtern sowohl das Ausschneiden als auch das Wiedereinsetzen dieser so genannten LTR-Elemente in den DNA-Strang. Die viralen Gene und Genteile stammen ursprünglich, so viel wird schnell klar, von Retroviren, der Virengruppe, zu der auch das Koalavirus und der Aidserreger gehören.

Dass der Sprung eines Retrovirus in die Keimbahn auch in der menschlichen Stammesgeschichte mindestens einmal gelungen sein muss, hatten Forscher um Maurice Cohen von der Cancer Research Facility in Frederiksburg, Maryland, bereits 1984 entdeckt. Auf dem menschlichen Chromosom 7 fanden sie damals eine DNA-Sequenz, die den drei bekannten Retrovirengenen gag, pol und env bis aufs I-Tüpfelchen glich. Zudem wurde sie noch von den charakteristischen LTR-Elementen flankiert. Die Forscher tauften ihren Fund ERV3 – endogenes Retrovirus 3.

Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010

Endogene Retroviren als prägende Elemente im Genom

Mehr Virus als Mensch?

Heute wissen wir, dass unser genetisches Erbe sogar eine riesige Zahl von Kopien endogener Retroviren enthält. 8,5 Prozent unseres Genoms machen diese humanen ERVs, kurz HERVs, aus. Wissenschaftler haben unter ihnen bereits über 30 verschiedene HERV-Familien mit zusammen mehr als 200 unterschiedlichen Gruppen und Untergruppen identifiziert. Damit ist ihr Anteil weitaus größer als der der proteinkodierenden Gene, die doch vermeintlich unser Menschsein ausmachen sollen.

Anteile von Virengenen und anderem im humanen Genom © Daten: F. Ryan

„Der nüchterne Blick der modernen Sequenziertechnik hatte also ein Paradox ans Licht gebracht“, kommentiert der Buchautor Frank Ryan. „Die Antwort auf die Frage, welcher Teil unseres Jahrmillionen alten evolutionären Erbes uns eigentlich zu Menschen macht, lag in ihrer ganzen ungeheuerlichen Nacktheit vor uns – aber wir waren nicht imstande zu begreifen, was wir da sahen.“

LINEs und SINEs

Der Überraschungen nicht genug, identifizierten die Wissenschaftler weitere Bestandteile im menschlichen Genom, die möglicherweise ebenfalls viralen Ursprungs sind: Die so genannten LINE und SINE-Sequenzen (long und short interspersed nuclear elements) könnten nach Ansicht einiger Forscher, darunter auch des Virologen Luis Villarreal Bruchstücke früherer Retrovirengene sein. Ihr Anteil liegt bei 21 beziehungsweise 13 Prozent.

„Noch häufiger [als endogene Retroviren] sind Abkömmlinge der ERVs“, erklärt Villarreal in seinem Aufsatz „Can Viruses make us human?“. „So haben beispielsweise menschliche LINEs einige Sequenzen des HERV-Gens pol beibehalten, während humane SINEs Sequenzen der LTR und env-Abfolgen enthalten.“

Viren als Evolutionsbegleiter

„Mindestens 43 Prozent des bekannten Humangenoms wären demnach Viren oder unmittelbar von ihnen abgeleitete Einheiten“, so Ryan. „Die Implikationen sind geradezu erschütternd: Wir blicken auf eine ausgedehnte Serie von Kolonisierungen durch exogene Retroviren zurück, verteilt über die etwa 100 Millionen Jahre unserer Säugetierevolution.“ Anhand von Vergleichen der retroviralen Sequenzen in unserem Genom mit denen naher und entfernter verwandter Tierarten lässt sich ermitteln, wann ungefähr diese Endogenisierungen stattgefunden haben müssen.

Auch viele Menschenaffen tragen das ERV3 in ihrem Genom © Aaron Logan / CC-by-sa 2.5

So tragen beispielsweise auch viele Menschenaffen und Altweltaffen das ERV3 in sich – für die Forscher ein Hinweis darauf, dass sich das Virus schon vor mindestens 30 bis 40 Millionen Jahren, vor der Trennung der Abstammungslinien von Affen und Menschenaffen in das Primatenerbgut integriert haben muss. Andere endogene Retroviren dagegen, wie ein Großteil der so genannten HERV-K-Untergruppen, scheinen unsere artspezifischen viralen Partner zu sein, sie kommen ausschließlich beim Menschen vor.

Auffallend ist allerdings eines: Obwohl Viren normalerweise zu den am schnellsten mutierenden Organismen auf der Erde gehören, scheinen die Sequenzen endogener Retroviren erstaunlich gut konserviert zu werden. Normalerweise aber deutet eine lange Zeit unveränderte Sequenz immer darauf hin, dass das betreffende Gen vom Organismus gebraucht wird, eine nützliche Funktion erfüllt.

Das allerdings wirft eine entscheidende Frage auf: Was genau tun die endogenen Retroviren eigentlich in unserem Erbgut? Tun sie überhaupt irgendetwas?

Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010

Welche Funktion haben endogene Retroviren in uns?

Geheime Helfer

Erste elektronenmikroskopische Aufnahme der retroviralen Partikel aus Plazentazellen © PNAS 1978, 75(12): 6263–6267

Das erste Indiz für mögliche Aktivitäten unseres retroviralen Erbes stammt aus den 1970er Jahren, lange vor der Entdeckung der ersten HERVs. Jay Levy und seine Kollegen vom Cancer Research Institute in San Francisco stoßen in Extrakten von menschlichem Plazentagewebe auf Partikel, die in verblüffender Weise Retroviren ähneln. Gleichzeitig registrieren sie eine ungewöhnlich hohe Aktivität eines Enzyms, das die RNA-Replikation katalysiert.

Noch allerdings sind sich die Forscher unsicher darüber, was genau da vorliegt. In ihrer Veröffentlichung in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) schreiben sie 1978: „Ob diese Strukturen eine transplazentale Infektion mit einem Virus repräsentieren oder ob sie endogene Viren sind, die an Entwicklungsprozessen des Wirts beteiligt sind, ist nicht bekannt.“ Welche Entwicklungsprozesse die Autoren hier konkret gemeint haben könnten, zeigt ein Blick in die Vorgänge bei der Plazentabildung:

Fremdling im Mutterleib

Wenn eine Eizelle befruchtet wird und sich auf ihren Weg in die mütterliche Gebärmutter macht, lebt sie gefährlich. Denn im Prinzip ist sie ein Fremdkörper, stammen doch zumindest die Hälfte ihrer Gene nicht von der Mutter sondern vom Vater und damit von einem anderen Menschen. Kritisch wird dieser Status vor allem dann, wenn es um die Einnistung des befruchteten Eis in die Gebärmutterschleimhaut geht. „In gewissem Sinne ähnelt der Embryo einem Parasiten: Er muss in das mütterliche Wirtsgewebe eindringen, die Physiologie der Mutter manipulieren und der Entdeckung durch das mütterliche Immunsystem entgehen“, erklärt der Virologe Luis Villarreal.

Entscheidend für den Erfolg dieser Operation ist die Plazenta, ihre Gewebestruktur bildet sowohl nährendes Bindeglied als auch Schutz für den heranwachsenden Embryo. Erreicht wird dies durch die Ausbildung einer speziellen Grenzschicht, dem so genannten Syncytiotrophoblast. In ihm verschmelzen Plazentazellen zu einer von keinem Zellzwischenraum durchbrochenen Schicht, einer Art Riesenzelle mit vielen Zellkernen.

Riesenzelle dank Virenprotein

Und genau diese auch als Syncytium bezeichnete Riesenzelle ist das Rätselhafte an der ganzen Sache, wie Frank Ryan in seinem Buch „Virolution“ erklärt: „Unsere Wirbeltierzellen sind eigentlich nicht imstande, zu einem Syncytium zu verschmelzen.“ Es gibt jedoch andere Organismen, die unsere Zellen dazu bringen können, genau dies zu tun: Retroviren.

Der Syncytiotrophoblast trennt die Kreisläufe von Mutter und Kind. © Historisch (Gray’s Anatomy)

Den Beleg dafür finden Wissenschaftler um John McCoy vom Genetics Institute in Cambridge Massachusetts im Jahr 2000. Sie entdecken ein Protein, von ihnen Syncytin getauft, das den entscheidenden Anstoß zur Verschmelzung der Plazentazellen gibt. Doch das Protein wird nicht von einem unserer eigenen kodierenden Gene produziert, sondern von dem env-Gen eines endogenen Retrovirus, dem HERV-W. Wenig später findet eine andere Arbeitsgruppe ein weiteres Syncytin, das ebenfalls die Verschmelzung unterstützt und zudem eine wichtige Rolle bei der Unterdrückung der mütterlichen Immunreaktion auf den Embryo spielt. Auch dieses Protein wird von einem retroviralen Gen produziert.

Evolutionssprung durch Virenhife?

Eine der entscheidenden Voraussetzungen für unsere erfolgreiche Fortpflanzung verdanken wir – und alle anderen plazentalen Säugetiere – damit offensichtlich unseren viralen Symbiosepartnern. Denn interessanterweise fehlen den Beuteltieren, die noch keine voll ausgebildete Plazenta besitzen, viele der bei uns präsenten ERVs. „Keines dieser Charakteristiken war schon in Kloakentieren oder Beuteltieren präsent, sie alle scheinen in einem komplexen evolutionären Ereignis erworben worden zu sein“, so Villarreal. „Es erscheint uns daher wahrscheinlich, dass ERVs irgendwie in diese komplexen plazentalen Charakteristiken involviert gewesen sein mussten.“

Für den ERV-Experten ist dies ein weiterer Hinweis darauf, dass endogene Viren als wichtige Triebkräfte der Evolution wirken können. Vielleicht sind sogar sie es, die große Sprünge in der Entwicklung erst ermöglichen. Auffallend ist immerhin, dass sich im Laufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung nicht nur die Komplexität und Anzahl der Merkmale und Fähigkeiten erhöht hat, sondern auch der Anteil der Virengene im Erbgut: „Bei jedem größeren Schritt auf diesem Weg, so etwa bei der Entstehung der Wirbeltiere, der Säugetiere und vor allem der Primaten, war die Anzahl der Retroviren-Stämme geradezu explodiert“, beschreibt Ryan die Entwicklung.

Auch gegenüber dem Schimpansen, unserem nächsten Verwandten, ist ein deutlicher Unterschied in punkto ERV-Ausstattung festzustellen: Wir Menschen tragen rund doppelt so viele retrovirale LINEs im Erbgut wie dieser.

Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010

Nutzen und Schaden durch HERVs in uns

Freund und Feind zugleich

Heute scheint klar, dass die endogenen Retroviren in unserem Genom keineswegs passive Mitläufer sind, sondern durchaus aktiv an unserer Entwicklung und unseren Lebensvorgängen teilnehmen. „Es wird viele überraschen, dass die meisten dieser HERVs tatsächlich transkribiert werden und einige auch als Proteine und manchmal als Virionenpartikel in spezifischen Geweben exprimiert werden“, erklärt der Virologe Luis Villarreal.

Auch in unserem Gehirn wird Syncytin von Virengenen produziert © Hemera

Unentbehrlich…

Spuren der Aktivität von ERV3 beispielsweise finden sich nicht nur in Plazenta, Eierstöcken und Nebennieren, sondern auch in Talgdrüsen und dem braunen Fettgewebe. Die beiden von retroviralen Genen erzeugten Proteine Syncytin-2 und -2 werden dagegen offenbar in erstaunlich großer Menge auch im Gehirn hergestellt: „Die Aktivität ist höher als bei jeder anderen HERV-Genexpression, die man bisher untersucht hat“, erklärt „Virolution“-Autor Frank Ryan. „Niemand weiß was die Produkte dieser Virengene in unserem Gehirn tun und ob sie sich irgendwie von den Syncytinen in der Plazenta unterscheiden, aber womöglich spielen sie eine wichtige anatomische oder physiologische Rolle – oder beides.“

Neben den endogenen Retroviren selbst können auch die retroviralen LTRs in unserem Erbgut wichtige Hilfestellung leisten, indem sie beispielsweise die Aktivität anderer, für uns entscheidender Gene regulieren helfen. Beispiele dafür sind das Keratin-Gen, Gene des Immunsystems, das Gen für das Stärke-Enzym Amylase sowie Gene für das Fettstoffwechselhormon Leptin und den zugehörenden Leptinrezeptor. Insgesamt sind derzeit ungefähr 20 menschliche Gene bekannt, deren Expression von retroviralen Kontrollsequenzen reguliert wird.

…und gefährlich

Allerdings sind die Retroviren in uns keineswegs immer nur gutmütige Helfer, sie besitzen durchaus das Potenzial zur Zerstörung. Auf den ersten Blick klar ist dies für einige Relikte der endogenen Viren, darunter vor allem die LTRs und einige SINEs, die so genannten Alu-Sequenzen. Denn sie sind hochgradig mobil, können relativ leicht ausgeschnitten, wieder eingefügt oder rekombiniert werden. Landen sie dabei mitten in einem wichtigen Gen oder schneiden aus Versehen Teile eines solchen Gens aus, ist ein Schaden vorprogrammiert.

Brustkrebszelle © NCI

„Sie fügen sich gerne in besonders genreiche Regionen ein, so schaffen sie einerseits eine Menge Spielmaterial für evolutionäre Neuerungen und richten andererseits viel Chaos an“, so Ryan. „Sie können auch ganze Chromosomenabschnitte zerstören und so genetische Anomalien im großen Stil erzeugen.“ Einen Zusammenhang mit solchen Alu-Sequenzen gibt es bei zahlreichen Erbkrankheiten wie der Immunschwächekrankheit X-SCID, der Hämophilie, der Neurofibromatose, einigen Formen des Diabetes Typ 2 sowie anderen Geburtsfehlern.

Krebs durch HERVs?

Aber auch bei vielen Krebserkrankungen gehören HERVS und ihre Abkömmlinge heute zu den Hauptverdächtigen. In vielen Tumoren finden sich Virenpartikel oder das virentypische Enzym reverse Transkriptase, vermutet wird ein Zusammenhang bei akuter myeloider Leukämie und vielen familiär gehäuft auftretenden Krebsformen. In einigen Fällen, wie bei den Brustkrebsgenen BRCA1 und 2, konnten Forscher bereits belegen, dass die Krebsgene tatsächlich durch beiderseits eingebaute virale Sequenzen aktiviert oder verändert wurden.

Doch diese negative Wirkung der HERVs birgt auch Chancen für neue Therapieansätze: So ist es italienischen Forschern im Tierversuch bereits gelungen, die Zellteilung und die Entartung von verschiedenen Krebszellen mit antiretroviralen Mitteln zu hemmen und so das Tumorwachstum aufzuhalten.

Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010

Die Rolle der HERVs bei Autoimmunerkrankungen

Rätsel um das „MS-Virus“

Querschnitt durch gesunde Nervenzelle mit Myelinscheide - bei MS wird diese zerstört © Roadnottaken / CC-by-sa 3.0

Für Aufsehen sorgte 1997 die Entdeckung eines französisch-britischen Forscherteams um Hervé Perron. Die Wissenschaftler hatten in der Rückenmarksflüssigkeit von Patienten mit der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS) die Signatur eines Virus nachgewiesen, das sich als endogenes Retrovirus entpuppte. Das env-Gen dieses HERV-W war genau die Sequenz, die auch das für die Plazenta so wichtige Protein Syncytin-1 produzierte. Aber war diese Genaktivität wirklich der Auslöser der MS? Immerhin war ja auch bereits in den Gehirnen gesunder Menschen Syncytin gefunden worden.

Syncytin als Januskopf

Zahlreiche Forschergruppen sprangen auf den Zug auf und suchten nach Zusammenhängen. Im Jahr 2004 gelang es dann einem internationalen Team von Wissenschaftlern tatsächlich, das HERV-W mindestens als mitschuldig zu überführen. Sie hatten nicht nur das Virenprotein genau am Ort des Geschehens nachgewiesen, sondern auch, welche Folgen seine Präsenz dort hat:

Syncytin tötet die myelinproduzierenden Oligodendriten ab © gemeinfrei

„Das Syncytin-1 wird dabei genau in den Regionen der akuten Demyelinisierung gebildet“, schildert „Virolution“-Autor Frank Ryan die Ergebnisse. „Und es kann beim besten Willen nicht mehr als Schutzfaktor gedeutet werden, denn es ruft die Freisetzung chemischer Verbindungen hervor, die die Oligodendrozyten abtöten, also jene Zellen, die die Myelinscheide bilden.“ Noch immer allerdings bleiben einige Fragen offen, darunter auch, warum das Syncytin bei MS-Patienten schädlich wirkt, sonst aber offensichtlich nicht. Könnte es mehrere Syncytinformen geben? Oder spielen möglicherweise weitere, exogene Einflussfaktoren eine Rolle?

HERV-Mitschuld auch bei Lupus?

Ein anderer Fall, bei dem Forscher heute zumindest eine Beteiligung endogener Retroviren vermuten, ist die Autoimmunerkrankung Lupus erythematodes (SLE). Bei dieser reagiert das Immunsystem der Betroffenen auf ungenügend abgebaute Relikte von Zellen, die eigentlich durch das körpereigene Selbstmordprogramm beseitigt werden sollten. Dies führt zu Hautveränderungen und Entzündungen in Gefäßen und Organen, die im Extremfall zum Organversagen und zum Tod führen können.

Neuere Untersuchungen haben nun gezeigt, dass die Blockade des Gens Trex1, das ein Enzym für die normale Entsorgung von DNA-Resten aus dem Zellkern kodiert, im Tierversuch Lupus auslösen kann. In den Zellen mit gestörter Trex1-Funktion finden sich wiederum ungewöhnlich viele Produkte endogener Retroviren. Ob dies allerdings Ursache oder Folge der Trex1-Blockade ist, bleibt bisher unklar. Es wird jedoch nicht ausgeschlossen, dass HERVS zumindest mit an der überschießenden Autoimmunreaktion beteiligt sind.

Möglicherweise interagiert auch das Aids-Virus mit retroviralen Sequenzen in unserem Genom © CDC

Kooperation unter Viren

In manchen Fällen können auch unvollständige oder vermeintlich „tote“ retrovirale Sequenzen unerwartete Aktivität entfalten: Wenn sie mit anderen, von außen eingedrungenen Viren in Kontakt kommen. Exogene und „hauseigene“ virale Gene helfen sich dann unter Umständen gegenseitig mit fehlenden Bausteinen aus und erzeugen so fatale Synergieeffekte.

In Laborversuchen haben Wissenschaftler beispielsweise bereits nachgewiesen, dass eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus das endogene Retrovirus HERV-K18 in den befallenen B-Lymphozyten unseres Immunsystems aktiviert. Dieses produziert daraufhin ein „Superantigen“, das dem exogenen Erreger Vorteile gegenüber der Immunabwehr verschafft. Ähnliche Interaktionen könnten möglicherweise auch beim Aidserreger HIV vorkommen.

Kreative Kraft oder unfreiwilliger Usurpator?

Bei allen negativen Auswirkungen steht für Ryan und Villarreal vor allem die kreative und damit in der Evolution vorantreibende Kraft der Viren im Vordergrund. Für sie ist klar, dass auch die durch endogene Viren verursachten Genschäden oder Krankheiten eher ein „Unfall“ als Absicht oder Zweck der Übung sind. Letztlich überwiegt jedoch – zumindest für unsere Art als Ganzes –, der positive Effekt, die Entwicklungssprünge in unserer Stammesgeschichte, die wir diesen „blinden Passagieren“ verdanken.

Andere Wissenschaftler sind allerdings durchaus skeptischer und halten in der Summe die Folgen der retroviralen Kolonisierung eher für negativ. Sie sehen darin eher eine unfreiwillige „Übernahme“ als eine echte Symbiose. Wer am Ende Recht behält, werden weitere Studien zeigen – und letztendlich auch der weitere Verlauf der Evolution.

Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010