Warum Vögel vom Himmel fallen und Krabben an die Strände gespült werden

Mysteriöse Massensterben

Toter Vogel © Andrew Butko / GFDL

Vögel regnen zu Tausenden tot vom Himmel, in Meeresbuchten und Flüssen treiben Millionen lebloser Fische, unzählige verendete Krabben werden an die Strände gespült: In den letzten Wochen hat es viele ungewöhnliche Massensterben im Tierreich gegeben.

Fast überall traten die tödlichen Phänomene urplötzlich und ohne jede Vorwarnung auf und endeten dann genauso abrupt wie sie zuvor begonnen hatten. Zurück blieben irritierte Menschen in den betroffenen Regionen und überforderte Forscher. Sie sollten auf die Schnelle schlüssige Erklärungen für die – zumindest auf den ersten Blick – seltsamen Vorfälle liefern.

Woran sind die Tiere in den USA und Europa gestorben? Gibt es einen Zusammenhang zwischen den todbringenden „Launen“ der Natur? Sind sie womöglich sogar die Vorboten der Apokalypse, wie einige Medien schnell vermuteten? Dies waren nur einige der Fragen, die es zu beantworten galt. Mittlerweile sind viele der Tiersterben genauer untersucht worden. Manche entpuppten sich dabei als wenig mysteriös. Andere dagegen geben den Wissenschaftlern noch immer Rätsel auf…

Dieter Lohmann
Stand: 14.01.2011

Das Vogelsterben im US-Bundesstaat Arkansas

Sturzflug in den Tod

Die Kleinstadt Beebe im US-Bundesstaat Arkansas. Ruhig und beschaulich geht es hier normalerweise zu. Nur ein Campus der Arkansas State University sorgt für Leben und ein bisschen „frischen Wind“. Typisch amerikanische Provinz eben. Doch kurz vor Mitternacht in der Silvesternacht 2010 ist es mit der Ruhe urplötzlich vorbei.

{1r}

Schuld daran sind nicht etwa Silvesterparties, sondern Vögel. Genauer gesagt tote Vögel. Ohne jede Vorwarnung fallen sie in Beebe in Massen herab. Innerhalb kürzester Zeit sind Straßen, Vorgärten, Hausdächer und Balkone dicht an dicht von leblosen Kadavern bedeckt.

Ein Regen toter Vögel

Besorgte Autofahrer und andere aufgeschreckte Bürger Beebes wenden sich sofort an das lokale Büro der Arkansas Game and Fishing Commission (AGFC) und melden die seltsamen Vorgänge in der Stadt. Innerhalb weniger Minuten laufen dort die Telefone heiß, die Meldungen häufen sich. Deshalb macht sich AGFC-Mitarbeiter Robby King umgehend auf den Weg, um mal vor Ort nach dem Rechten zu sehen.

In Beebe angekommen, findet er tatsächlich hunderte abgestürzte Vögel vor. Die meisten sind bereits tot, einige andere liegen in den letzten Zuckungen. Doch damit nicht genug: „Auch kurz nachdem ich ankam, regneten noch immer Tiere vom Himmel“, beschreibt King später die dramatische Situation vor Ort. „Es war teilweise schwer überhaupt auf der Straße voranzukommen, ohne sie zu überfahren.“

Mehrere Kadaver von Rotschulterstärlingen aus Beebe © Allison Klein / U.S. Geological Survey

5.000 Tierleichen

King sammelt 65 der Kadaver ein und schickt sie eilends an die Labore der Arkansas Livestock and Poultry Commission und des National Wildlife Health Center des U.S. Geological Survey in Madison im Bundesstaat Wisconsin. Die Experten für Tierkrankheiten und –pathologie sollen schnellstmöglich die Todesursache feststellen.

Das ganze Ausmaß des Vogelsterbens wird dann am nächsten Morgen deutlich. Nach einem Hubschrauberflug und diversen Kontrollgängen in Beepe schätzen Mitarbeiter des AGFC um die Chef-Ornithologin Karen Rowe, dass etwa 5.000 Vögel Opfer des tödlichen Phänomens wurden. Was die ganze Sache noch mysteriöser macht, ist, dass die Tiere offenbar nur in einem eng umgrenzten Areal von nicht einmal zwei Kilometer Größe verendeten.

Rotschulterstärling © Cephas / GFDL

Rotschulterstärlinge als Opfer

Betroffen sind fast ausschließlich so genannte Rotschulterstärlinge, die häufig – wie unsere heimischen Stare – in großen Schwärmen auftreten und gelegentlich auf der Suche nach Nahrung große Schäden in der Landwirtschaft anrichten. Die rund 20 Zentimeter großen Tiere gehören zu den häufigsten Singvögeln Nordamerikas.

Aufruhr in Beebe

Mit der Ruhe in Beebe ist es jedenfalls erst einmal vorbei. Denn für verschiedene US-Medien ist das Massensterben ein gefundenes Fressen. Zahlreiche Reporter und Journalisten berichten direkt von vor Ort. Die Bilder von verendeten Rotschulterstärlingen und von Männern in High-Tech-Schutzanzügen, die die toten Tiere aufsammeln und entsorgen, gehen durch das ganze Land. Die große Frage, die alle beschäftigt: Was ist Schuld an dem tausendfachen Tiertod?

Zumindest eine mögliche Ursache können die AGFC-Wissenschaftler von vornherein mit ziemlicher Sicherheit ausschließen: eine Seuche. Denn sonst hätten kranke Vögel oder Kadaver auch außerhalb der kleinen Todeszone auftauchen müssen. Etwa an einem bekannten Schlaf- und Rastplatz für Rotschulterstärlinge innerhalb der Ortsgrenzen von Beebe. Doch Fehlanzeige. „Nur eine Autopsie kann jedoch letztlich sicher bestimmen, ob die Vögel an einem Trauma oder an Gift starben“, sagt Rowe am 1. Januar 2011. Und die ist ja bereits eingeleitet…

Dieter Lohmann
Stand: 14.01.2011

Tiertode in den USA und Europa häufen sich

Massensterben in Serie

Tierpathologe Dr. David E. Green bei der Arbeit © Allison Klein / U.S. Geological Survey

Während die Untersuchungen zum Vogelsterben im US-Bundesstaat Arkansas noch in vollem Gange sind, tauchen Anfang Januar 2011 immer mehr Meldungen über ähnliche Vorkommnisse aus anderen Regionen auf. Erstaunlicherweise fast zum gleichen Zeitpunkt wie in Beebe sind wieder die USA, aber dieses Mal auch Europa betroffen.

Das Sterben geht weiter

So werden beispielsweise nahe der Großstadt Baton Rouge im US-Bundesstaat Louisiana am 3. Januar fast 500 Stare, Sperlinge und erneut Rotschulterstärlinge tot aufgefunden. 30 bis 40 von ihnen liegen ein paar Meter abseits des Louisiana Highway 1, der große Rest befindet sich nur wenige hundert Meter entfernt ebenfalls neben oder auf der viel befahrenen Straße.

Turteltaube © Fringilla / gemeinfrei

Nicht ganz so viele Opfer fordert dagegen am 4. beziehungsweise 5. Januar ein ähnlicher Vorfall in der kleinen südschwedischen Stadt Falköping. Etwa 150 Kilometer nordöstlich von Göteborg entdecken Autofahrer rund 100 verendete Dohlen.

Doch auch damit nicht genug. Wenige Tage später stoßen Mitarbeiter des WWF und des staatlichen Forstamtes in der norditalienischen Stadt Faenza auf insgesamt 700 tote oder fast tote Turteltauben. Die Tiere hängen Augenzeugenberichten zufolge wie Weihnachtskugeln an den Bäumen oder liegen in Massen in den Blumenbeeten beziehungsweise auf den Straßen.

„Bird-pocalypse“?

Diese Flut an Massensterben in der Vogelwelt sorgt nicht nur für einen Hype in den Medien, sie ruft auch Verschwörungs- und Weltuntergangsanhänger auf den Plan. Da die überall eingeleiteten Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind und es deshalb zunächst keine schlüssigen Erklärungen gibt, tauchen schnell die kuriosesten und abstrusesten Theorien zum Vogelsterben auf.

So werden unter anderem Aliens und Ufos, aber auch Gase aus der nahegelegen New Madrid-Verwerfung oder sogar ein Giftangriff der Regierung auf den Ort für die Ereignisse in Beebe verantwortlich gemacht. Selbst das ansonsten so angesehene amerikanische Nachrichtenmagazin „Time“ lässt sich von der Sensationsberichterstattung anstecken und spricht in seiner Online-Ausgabe in Zusammenhang mit den angeblich so mysteriösen Vogeltodesfällen von einer „Bird-pocalypse“.

Tote Vögel ohne Ende © SXC

Mysteriös oder leicht erklärbar?

Aussagen von einigen Experten tragen entscheidend zur immer stärker werdenden öffentlichen Diskussion und zum Rätselraten über die Massensterben bei. So kommentierte beispielsweise Christa Glauser, stellvertretende Geschäftsführerin des Schweizer Vogelschutzes (SVS) in der Basler Zeitung die Vorfälle in Beebe so: „Ich kann mich nicht an ein vergleichbares Massensterben erinnern.“

Doch ist die Situation zu Beginn des Jahres 2011 wirklich so ungewöhnlich wie oftmals behauptet wird? Und gibt es zwischen den Ereignissen tatsächlich einen Zusammenhang? Offenbar nein, darauf deuten zumindest die bisher vorliegenden Ergebnisse der Wissenschaftler und Behörden hin. So ist der Turteltaubentod in Italien höchstwahrscheinlich auf ein so genanntes Paramyxovirus oder auf Vergiftungen zurückzuführen.

Stromleitung als Verursacher

Und in Louisiana sind die Tiere nach Angaben des staatlichen Veterinärs Jim LaCour gegen eine Stromleitung geflogen, die sich in unmittelbarer Nähe zum Louisiana Highway 1 befindet. Dafür sprechen laut LaCour unter anderem schwere Verletzungen an Kopf, Schnabel oder Nacken, die er bei vielen der toten Tiere identifiziert hat.

Dan Cristol, Biologieprofessor vom Institute for Integrative Bird Behavior Studies at the College of William & Mary in Williamsburg, Virginia, ist sich sicher, dass die Tiere zuvor entweder krank waren. Oder sie wurden von ihrem Schlafplatz aufgescheucht, bevor sie mit dem Hindernis kollidierten. „Sie prallen nicht einfach auf eine Stromleitung ohne Grund“, so Cristol.

Dieter Lohmann
Stand: 14.01.2011

Logische Erklärungen statt Weltuntergangstheorien

Rätsel um „Bird-pocalypse“ gelöst

Je mehr Untersuchungsergebnisse zu den Massensterben in der Vogelwelt eintrudeln, desto deutlicher wird, dass die Serie keiner Gesetzmäßigkeit folgt, sondern wohl ein zufälliges Aufeinandertreffen von zumeist logisch erklärbaren Einzelereignissen darstellt. So ist mittlerweile auch der Tod der 5.000 Rotschulterstärlinge im amerikanischen Bundesstaat Arkansas weitgehend enträtselt.

Rotschulterstärlinge: Suche nach der Todesursache © Allison Klein / U.S. Geological Survey

Tod durch stumpfe Gewalteinwirkung

Laut den Tierpathologen um Dr. David E. Green vom National Wildlife Health Center (NWHC) in Madison sind die Rotschulterstärlinge in Beebe an „stumpfer Gewalteinwirkung“ gestorben. Bei vielen von ihnen wurden innere Blutungen diagnostiziert. Bisherige Tests auf Pestizide oder ähnliche Gifte waren dagegen negativ. Es stehen aber noch einige Analysen aus.

Für die staatliche Jagd- und Fischereikommission von Arkansas ist der Fall trotzdem schon jetzt klar. Denn weitere Recherchen vor Ort – darunter ausführliche Gespräche mit Anwohnern – passen gut zu den Resultaten des NWHC und legen nach Angaben der Wissenschaftler um Karen Rowe folgendes Szenario nahe: Gegen 22:00 Uhr am Silvesterabend 2010 werden in der Nähe des Schlafplatzes der Rotschulterstärlinge zehn bis zwölf professionelle Feuerwerkskörper abgeschossen.

200 Millionen Rotschulterstärlinge leben in Nordamerika © Edibobb / CC-BY-SA-3.0

Böller statt Mysterium

Der gesamte Vogelschwarm, möglicherweise bestehend aus mehr als zehntausend Tieren, schreckt durch den Krach auf und erhebt sich auf einen Schlag in die Luft. Weitere Silvesterraketen und – böller sorgen anschließend für noch mehr Verwirrung bei den Tieren. Bei der hektischen Suche nach sicherem Schutz steigen die Vögel zunächst hoch in den Himmel und kehren anschließend wieder in Bodennähe zurück. Dort prallen die völlig gestressten und desorientierten Rotschulterstärlinge mit hohem Tempo gegen Wände, Hausdächer und andere Hindernisse.

„[…]Dies sorgte für den lauten Lärm, den die Bewohner von Beebe zu dem Zeitpunkt registrierten“, erklärt Robert Meese, ein Vogelkundler der Universität von Kalifornien-Davis und Spezialist für Singvögel wie Rotschulterstärlinge. Der vorgestellte Ablauf erklärt dem Wissenschaftler zufolge zudem die Verletzungen durch stumpfe Gewalteinwirkung bei den Vögeln.

Meese Fazit: „Was wie ein großes Mysterium aussah, ist wahrscheinlich doch keins. Und wenn sich das Ganze irgendwo in der Mitte eines Mais- oder Weizenfeldes ereignet hätte statt in einem Stadtgebiet, hätten wir wohl gar nichts davon mitbekommen.“

Massensterben häufiger als gedacht

Und mit noch einer Fehlannahme räumen Wissenschaftler Anfang Januar 2011 endgültig auf: Denn Massensterben sind im Tierreich gar nicht so selten, wie vielfach vermutet und selbst von Experten behauptet. Die NWHC-Forscher in Wisconsin führen seit den 1970er Jahren penibel Buch über solche Naturphänomene. 163 davon haben sie seitdem allein in Nordamerika registriert – pro Jahr. In den letzten acht Monaten waren es laut der Spezialistin für Krankheiten bei Wildtieren, LeAnn White, 95.

In der NWHC-Datenbank enthalten sind für 2010 beispielsweise der Tod von gleich 4.300 Enten durch Parasiten in Minnesota und ein mysteriöses Ableben von 2.750 Seevögeln in Kalifornien. Hier ist die Ursache bis heute allerdings völlig unklar.

Bakterium Clostridium botulinum mit Giftbläschen © CDC

Keine Rekorde bei den Opfern

Auch was die Opferzahlen betrifft, sind die Ereignisse rund um den Jahreswechsel 2010/2011 nicht annähernd rekordverdächtig. So starben laut dem NWHC beispielsweise im Sommer 1996 gleich zwei Mal mehr als 100.000 Enten in Kanada an Botulismus. Fast alle Massensterben lassen sich zudem auf natürliche Ursachen zurückführen und gefährden in der Regel nicht das Überleben der jeweiligen Art. Von „mysteriösen Todesserien“ und „Bird-pocalypse“ keine Spur.

Und noch eins ist klar: Tiertode in XXL gibt es längst nicht nur in der Welt der Vögel, sondern auch in vielen anderen Tiergruppen. Dies zeigen einige Beispiele aus den letzten Jahren…

Dieter Lohmann
Stand: 14.01.2011

Frostiger Winter kostet 40.000 Krabben das Leben

Massenexitus in der Grafschaft Kent

Sie besitzen knallrote Augen, lieben felsigen Untergrund und ihr Panzer ist von einem Flaum feiner Haare übersät: Teufels- oder Samtkrabben gehören zu auffälligsten Tieren, die es in der Nordsee gibt. Die in bis zu 70 Meter Wassertiefe lebenden Krebse sind darüber hinaus bei Gourmets aufgrund ihres überaus zarten und aromatischen Fleisches äußerst begehrt.

Ins Visier der Medien und Forscher geraten sind sie in letzter Zeit jedoch nicht durch ihr nahezu unverwechselbares „Outfit“ oder ihre kulinarischen Qualitäten, sondern durch ein auffälliges Krabbensterben. So wurden an den Küsten der britischen Grafschaft Kent in den vergangenen Wochen unzählige leblose Tiere angeschwemmt.

Broadstairs: So sieht die Viking Bay normalerweise aus © James Armitage / gemeinfrei

Vorsicht: Tote Krabben!

Betroffen davon war vor allem der District Thanet, der ein Gebiet an der Themse-Mündung umfasst. Dort waren die Strände von Orten wie Margate, Westbrook, Cliftonville und Kingsgate zeitweilig sogar dicht an dicht mit den Kadavern übersät. Forscher schätzen, dass insgesamt 40.000 Tiere verendet sind – mindestens. Daneben wurden auch viele tote Wellhornschnecken, Schwämme und Seeanemonen entdeckt.

So ganz überraschend kam der spektakuläre Meerestiere-Exitus 2011 jedoch nicht, denn schon im Jahr zuvor hatten sich ähnliche Vorfälle an den Küsten Kents ereignet. Damals ging das zuständige Umweltamt sofort dem Phänomen auf den Grund. Die Sorge: Ein mysteriöser, bis dahin unbekannter Virus könnte an dem Massensterben schuld sein und sich in Zukunft weiter ausbreiten.

Tod durch Unterkühlung

Doch die beauftragten Tierpathologen konnten bei ihren Untersuchungen keinen in Frage kommenden Erreger ermitteln. Stattdessen lautete das Ergebnis der Wissenschaftler: Tod durch Unterkühlung. Offenbar hatten der ungewöhnliche heftige Winter und die damit verbundenen sehr niedrigen Wassertemperaturen den Teufels-Krabben und anderen Meeresorganismen den Garaus gemacht.

Da der Dezember 2010 in Großbritannien sogar der frostigste seit 120 Jahren war, gehen Forscher auch aktuell davon aus, dass die Krabben der Kälte zum Opfer gefallen sind. Der britische Wildtierexperte und zugleich Verantwortlicher für das Thanet Coast Project Tony Childs zeigte sich dennoch überrascht, dass noch einmal so viele Krabben gestorben sind: „Wir mussten einen enormen Verlust an Tieren im letzten Jahr hinnehmen und hatten eigentlich nicht mit einer so großen Population gerechnet.“

Aussterben ausgeschlossen?

Bei der Beseitigung der Krabbenleichen setzt er vor allem auf tierische Hilfe: „Auf den Kreislauf des Lebens in der Natur vertrauend, gehen wir davon aus, dass die Krabben bereits in Kürze mithilfe der einheimische Seemöwen von den Stränden verschwunden sein werden.“ Ein Aussterben der Teufelskrabbe in britischen Gewässern fürchtet Childs nicht. Ganz im Gegenteil: „Wir hoffen, dass sich die Population schon bald wieder erholt haben wird.“

Das klingt gut, ist aber vielleicht doch ein bisschen optimistisch. Denn sollten die nächsten Winter nicht mitspielen und so kalt werden wie in den letzten beiden Jahren, könnte 2012 wohl eher ein erneutes Massensterben drohen. Zudem sind in Sachen Krabbentod noch einige Fragen offen. Ein Beispiel: Warum verendeten die Tiere nur in England in großer Zahl und nicht auch vor der Küste Südnorwegens, das ebenfalls zu ihrem Lebensraum gehört und wo vergleichbare Wassertemperaturen herrschen?

Atlantischer Menhaden © Brian Gratwicke / CC-BY-SA-2.5

Fischsterben in Maryland

Dass Wetter und Klima die Überlebenschancen von Tieren in der Tat maßgeblich beeinflussen können, zeigt aber längst nicht nur das Beispiel Kent. Denn nahezu zeitgleich wurden im US-Bundesstaat Maryland in der Chesapeake Bay rund zwei Millionen tote Fische entdeckt – fast ausschließlich Augenfleck-Umbern und Atlantische Menhaden. Todesursache auch hier höchstwahrscheinlich: ungewöhnlich kalte Wassertemperaturen.

Dieter Lohmann
Stand: 14.01.2011

Ökologisches Drama am südafrikanischen Olifant-Fluss

Entzündetes Fett als Krokodil-Killer

Nilkrokodil © Haplochromis / GFDL

Oft trifft es Vögel, dann wieder Fische und manchmal auch Krabben. Dass aber selbst eines der gefährlichsten Raubtiere der Erde nicht vor einem urplötzlich auftretenden Massensterben gefeit ist, zeigt ein Blick nach Südafrika.

170 Tote Krokodile

Dort sind es die bis zu sechs Meter langen Nilkrokodile, die Wissenschaftlern wie Danie Pienaar im Kruger-Nationalpark (KNP) und seiner Umgebung große Sorgen machen. Innerhalb von wenigen Monaten wurden dort im Jahr 2008 über 170 Kadaver bei Exkursionen und Helikopterrundflügen an den Flüssen Olifants und Letaba entdeckt. Bei rund 1.000 Tieren Gesamtbestand ein ernstes Problem. Zumal die Dunkelziffer laut Pienaar ziemlich hoch ist. Da Krokodile zum Kannibalismus neigen, könnten viele verendete Tiere bereits von Artgenossen verspeist worden sein, bevor die Forscher und Wildhüter sie zu Gesicht bekommen haben.

Bald ausgestorben? – Nilkrokodil im Kruger-Nationalpark © CC-BY-SA-2.0

Ursache Pansteatitis

Die Ursache für das Krokodilsterben war schnell gefunden. „Es ist Pansteatitis, eine Entzündung des Fettgewebes. Sie entsteht, weil der Körper seinen Vorrat an Antioxidantien wie Vitamin A und E aufgebraucht hat und sich selbst angreift. Das Körperfett verhärtet und wird gelb, die Tiere sterben“, berichtet der Cheftierarzt des KNP, Markus Hofmeyr in der „Welt“.

Zu der Erkrankung kann es beispielsweise kommen, wenn Krokodile verrotteten oder ranzigen Fisch fressen. Doch ein größeres Fischsterben hatte es in den Flüssen Olifants und Letaba zuvor nicht gegeben. Ein eilig zusammen gerufenes Expertenteam zudem neben den KNP-Mitarbeitern auch Professor Henk Bowman von der North-West Universität und der Krokodilexperte Fritz Huchzermeyer von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) gehörten, stand, was den Ursprung der Krankheit betrifft, zunächst vor einem Rätsel.

Kadaver werden verbrannt

Mittlerweile gibt es jedoch zumindest eine Vorstellung, wie sich die Infektion so schnell verbreitet haben könnte. Die Wissenschaftler vermuten, dass sich gesunde Krokodile durch ihren Hang zum Kannibalismus angesteckt haben. „Sie infizieren sich durch das Fressen befallenen Fettes und anderer Gewebe und tragen so zur Verbreitung der Krankheit bei“, erklärte Pienaar im August 2008. „Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, haben wir beschlossen, alle entdeckten Kadaver aus den Flüssen zu entfernen zu verbrennen.“

Das Team nahm damals zudem bei in freier Natur lebenden Krokodilen Blut- und Gewebeproben und entließ sie danach mit Plastikmarkern versehen wieder in die Freiheit. Ergebnis der anschließenden Analysen: bei sieben von elf gefangenen Tieren wurden bereits veränderte Fette entdeckt. Dies deutete auf eine hohe Infektionsrate der Nilkrokodile im Kruger-Nationalpark hin – und ließ in den nächsten Jahren zahlreiche weitere Todesfälle befürchten.

Olifants Fluss im Kruger-Nationalpark © Malapo Country Lodge / GFDL

Gefährliche Umweltverschmutzung?

Und in der Tat bestätigten sich die Vermutungen der Wissenschaftler. Denn auch im Jahr 2009 wurden zahlreiche tote und kranke Krokodile in der Region entdeckt. Pienaar geht mittlerweile davon aus, dass es von nun an jedes Jahr im Olifants Fluss ein Krokodilsterben geben wird. Und das solange, bis die Nilkrokodile in der Region ausgestorben sind.

Laut dem KNP deutet zudem vieles darauf hin, dass der Tod all dieser Krokodile ein Symptom der ernsten und wachsenden Umweltprobleme im Flusssystem des Olifants ist – die Einleitung von gefährlichen Bergbauabwässern oder die Verseuchung mit Pestiziden aus der Landwirtschaft inklusive.

Dieter Lohmann
Stand: 14.01.2011

Ein Mythos und seine Ursachen

Der Massenselbstmord der Lemminge

Lemming © gemeinfrei

„Die Tiere sind ganz allerliebst Sie sehen aus wie kleine Murmeltiere oder wie Hamster und ähneln namentlich den letzteren vielfach in ihrem Wesen. […] Ihr Gang ist trippelnd aber rasch, wenn auch der Mensch sie leicht einzuholen vermag.“ So beschreibt der deutsche Zoologe Alfred Brehm in seinem Nachschlagewerk „Thierleben“ aus dem 19.Jahrhundert die Lemminge. Den arktischen Nagern haftet seit ewigen Zeiten der Mythos des Mysteriösen an.

Das rätselhafteste Tier Skandinaviens

Einen Grund dafür nennt Brehm schon selbst in seinem Werk: „Der Lemming ist unbedingt das rätselhafteste Tier ganz Skandinaviens. Noch heute glauben die Bauern der Gebirgsgegenden, dass er von dem Himmel herabgeregnet komme und deshalb in so ungeheurer Menge auftrete, sich später aber wegen seiner Fressgier den Magen verderbe und zu Grunde gehen müsse.“

Das ist zwar nur ein Volksglauben, ein Körnchen Wahrheit steckt trotz allem darin. Denn die in der alten Sage angesprochenen starken Populationsschwankungen bei Lemmingen werden 1924 vom britischen Zoologen Charles Sutherland Elton belegt. Danach vermehren sich die Tiere in einem vier bis fünf Jahre dauernden Zyklus zunächst moderat, dann rasant, bevor die Lemming-Bestände in kürzester Zeit wieder zusammenbrechen. Anschließend beginnt das ganze Spiel von vorn.

Tarnung ist wichtig: Lemming © Frode Inge Helland / GFDL

Eine Laune der Natur?

Diese kurios anmutende Laune der Natur ist schon seit langem Gegenstand für vielfältige Spekulationen. Die spektakulärste von ihnen: Ein angeborener Instinkt soll die Lemminge nach der Bevölkerungsexplosion erst einmal zu Massenwanderungen treiben. Am Meer angekommen, stürzen sich die Tiere dann von den Klippen und begehen kollektiven Selbstmord. Die Anhänger dieser Theorie postulierten sogar ein altruistisches Verhalten der Lemminge, mit dem Ziel das Überleben der Art zu sichern.

Diese von den meisten Wissenschaftlern von jeher bezweifelte Vorstellung hat vermutlich der Disney-Film „White wilderness“ (Weiße Wildnis) aus dem Jahr 1957 entscheidend mitgeprägt. Darin heißt es unter anderem: „Die Lemminge erreichen den tödlichen Abgrund. Dies ist ihre letzte Chance zur Umkehr. Aber sie laufen weiter, stürzen sich in die Tiefe.“ Unterlegt wird der Sprechertext mit spektakulären Bildern, die diesen Massenselbstmord bestätigen –zumindest scheinbar.

Tricks und Schummeleien

Heute ist jedoch klar, dass bei den Filmaufnahmen offenbar massiv manipuliert und geschummelt worden ist. Einen der verwendeten Tricks beschreibt die Zeitung „Jungle World“ auf ihrer Website so: „Was man nicht sieht, ist, dass die Disney-Leute die Tierchen zuvor auf eine rotierende Scheibe gepfropft haben und durch diese in ihr Verderben schleudern ließen.“

Und die Wochenzeitschrift Zeit berichtet in ihrer Rubrik „Stimmt’s?“ mit Verweis auf Recherchen des Journalisten Brian Vallee: „Die Disney-Leute halfen nach, schubsten und warfen die wenig lebensmüden Lemminge in den Abgrund.“

Einen entscheidenden Beweis dafür, dass die angeblichen Massenselbstmorde bei Lemmingen reine Fiktion sind und auf publikumswirksamen Phantasien von Tierfilmern beruhen, haben Forscher schließlich im Jahr 2003 geliefert…

Dieter Lohmann
Stand: 14.01.2011

Wie Lemming-Populationen zusammenbrechen

Das große Fressen

Oktober 2003: Im Wissenschaftsmagazin „Science“ erscheint eine Studie, die den Mythos vom Massenselbstmord der Lemminge zerstört und die wahren Gründe für das regelmäßige Zusammenbrechen ihrer Populationen enthüllt. Fazit: Natürliche Raubfeinde wie Schnee-Eule, Raubmöwe, Polarfuchs und insbesondere das Hermelin sind schuld am zyklischen Massensterben – zumindest bei den Halsbandlemmingen in Nord-Ost-Grönland. Dies haben 16 Jahre währende Beobachtungen und Untersuchungen der Forscher im Karupelv-Tal ergeben.

Hermelin mit Winterfell © 4028mdk09 / CC-BY-SA-3.0

Eine ganz besondere Räuber-Beute–Beziehung

Die Zoologen um Benoît Sittler von der Universität Freiburg und Olivier Gilg sowie Professor Ilkka Hanski von der Universität Helsinki stellen in Science sogar ein ausführliches Ablaufprotokoll für die Vorgänge in dieser Räuber-Beute–Beziehung vor. Danach können sich, vereinfacht gesagt, die Lemminge in ihrem Lebensraum zunächst eine Weile ungehindert vermehren, weil die Zahl der natürlichen Feinde, auch Prädatoren genannt, niedrig ist. Ein Weibchen bringt dabei pro Jahr bis zu 90 Junge zur Welt.

Aufgrund des reichlichen Beuteangebotes wächst irgendwann jedoch auch die Zahl der Hermeline rapide an. Ist ein kritisches Räuber-Niveau erreicht, werden die Lemminge in rasantem Tempo dezimiert. Doch die Hermeline kommen nach Angaben der Forscher ebenfalls nicht ungeschoren davon. Denn schon bald gibt es kaum noch Beute für die vielen Raubtiere. Es folgt deshalb der Kollaps der Hermelin-Population und ein neuer Zyklus beginnt.

Puzzle um Lemming-Zyklen gelöst

Die Wissenschaftler fassen in der Studie ihre Ergebnisse folgendermaßen zusammen: „Obwohl diese Ergebnisse von einer arktischen Landschaft nicht ohne weiteres auf andere Regionen mit Nagerzyklen direkt übertragen werden können, ist zweifelsohne die Prädation die beste Erklärung für das seit Jahrzehnten anhaltende Puzzle der Lemming- und Wühlmauszyklen.“

Toter Lemming auf einem Stein im Fluss Revåa in Norwegen © Bjørn Christian Tørrissen / GFDL

Doch noch sind einige Rätsel um die Lemminge, von denen es zahlreiche verschiedene Arten gibt, zu lösen. Während Sittler & Co für die Halsbandlemminge auf Grönland auch Massenwanderungen ausschließen, sind sie bei anderen Spezies wohl durchaus üblich. So etwa beim Berglemming , der beispielsweise in den höheren Regionen Schwedens und Norwegens lebt. Ursache für die dortigen Lemming-Trecks ist jedoch vor allem Nahrungsmangel beziehungsweise die starke Vermehrung in der Wintersaison.

Irgendwann verlässt ein Teil der Tiere seinen Geburtsort und weicht in andere Regionen aus. Dabei müssen die Lemminge unter anderem Flüsse und andere Gewässer überqueren. Da sie nicht unbedingt zu den allerbesten Schwimmern gehören, sterben viele von ihnen dabei schlicht und einfach durch Ertrinken. Auch hier gilt demnach: von Massenselbstmord keine Spur.

Klimawandel als Lemming-Killer?

Ein ganz anderes Phänomen könnte stattdessen schon bald dafür sorgen, dass die Zahl der Lemminge auf der Erde zukünftig dramatisch schrumpft: der Klimawandel. Denn die Nager tummeln sich im Winter normalerweise gut geschützt vor vielen Feinden unter der dicken Schneedecke im Hohen Norden. Dort suchen sie in selbst gebauten Tunneln nach Moosnahrung oder vermehren sich intensiv.

Norwegische Wissenschaftler von der Universität Oslo um Kyrre Linné Kausrud, Anne Maria Eikeset und Nils Christian Stenseth haben im Jahr 2008 in einer „Nature“-Studie gezeigt, dass die Härte des Schnees eine Schlüsselrolle für die Populationsdynamik der Lemminge spielt. Durch die globale Erwärmung gibt es in den Bergen zukünftig immer mehr feuchten Schnee, was zu vereisten Bedingungen in der Schicht zwischen Untergrund und Schneeauflage führt. Dadurch ist für die Lemminge das Tunnelbauen erschwert und damit auch die Partnerwahl und Reproduktion. Letztlich bedroht diese Veränderung der Umweltbedingungen damit auch ihr Überleben.

Erste Auswirkungen dieser Entwicklung sind bereits deutlich erkennbar. So fehlen vielerorts seit mehr als zehn Jahren die typischen Massenvermehrungen der Lemminge innerhalb der vier bis fünf Jahre dauernden Populationszyklen. Das wiederum bringt die ganze Nahrungskette in den betroffenen Ökosystemen durcheinander. Denn Räubern wie Hermelin und Schnee-Eulen fehlt zunehmend die Beute.

Dieter Lohmann
Stand: 14.01.2011