Wenn das Verlangen den Willen lenkt

Sucht

Suchtmittel sind vielfältig. Nicht nur Substanzen wie Kokain oder Alkohol können zu starker Abhängigkeit führen. Auch Verhaltensweisen und Tätigkeiten wie Glücksspiel können zum Zwang werden. © SXC

Allein in Deutschland gelten um die zehn Millionen Menschen offiziell als süchtig – deutlich mehr sind gefährdet. Und dabei dreht es sich nicht nur um Heroin oder Cannabis. Denn Arbeit, Glücksspiel, Nikotin, Tabletten und Alkohol können ebenso abhängig machen wie harte Drogen. Wie und ob es zu einer Abhängigkeit kommt, bestimmen viele unterschiedliche Faktoren…

Was läuft bei einem Kokain-Rausch im Gehirn ab? Wieso werden einige Menschen süchtig, andere nicht? Und was passiert im Körper, wenn jemand abhängig wird? Diese und andere Fragen sind nicht immer eindeutig zu beantworten. Fakt ist, dass Geist und Körper bei der Suchtentstehung eng zusammen wirken. Das macht es schwer, eine einmal etablierte Abhängigkeit wieder los zu werden. Aber lesen Sie selbst…

Kathrin Bernard
Stand: 22.02.2013

Begegnung mit dem Suchtmittel Kokain

Der erste Kontakt

In der Küche ist es warm, wärmer als in den anderen Zimmern der Wohnung, denn hier halten sich viele Leute auf. Es ist ein entspannter Abend, es wird gelacht, gefeiert und ein bisschen getanzt. Später soll es noch in einen Club weiter gehen – schon jetzt ist die Musik laut und geeignet, den Klausurstress für ein paar Stunden zu vergessen.

Kokain-Klumpen: Das Pulver wird häufig für den Transport so stark komprimiert, dass es hinterher als fester Klumpen erscheint. © Thoric / CC-by-sa / 2.5

„Nur mal probieren“

Die Szenerie für den ersten Kontakt mit Substanzen wie Kokain, Alkohol oder THC könnte gut so oder ähnlich aussehen. Aus der Stimmung heraus könnte der der Gastgeber den Kühlschrank öffnen und ein Päckchen mit weißem Inhalt herausholen. Er würde es auf den Tisch und legen und sagen: „So, Leute, das ist mein heutiger Partybeitrag.“ Allen ist sofort klar: Es ist Kokain. Denn Speed oder andere sogenannte „Upper“ wären nicht auf Jens Niveau – viel zu günstig. Ein Gramm Kokain kostet schon seine 100 Euro auf dem Schwarzmarkt. Jens lässt sich nicht lumpen. Die Freude bei den Gästen ist umso größer.

Das weiße Pulver wird auf den Tisch geschüttet – auf eine Glasplatte, die als Unterlage dient. Dann mit einer Rasierklinge in zunächst nur dünne Linien gezogen, für die, die es nur mal ausprobieren wollen, so wie Hanna. Sie hat ein kleines Glasröhrchen in der einen Hand, ein Glas Whiskey in der anderen. Das mit den Geldscheinen sei quatsch, hat man ihr gesagt. Es gehe viel zu viel dabei verloren und sei unhygienisch. Sie beugt sich lässig über den Tisch, hält sich ein Nasenloch zu und atmet durch das Röhrchen tief ein. Dann legt sie instinktiv den Kopf zurück und schließt die Augen.

Koka-Pflanze: Seit Jahrhunderten wird sie als Rauschmittel eingesetzt. Ihre Blätter werden gekaut. © Darina / CC-by-sa / 3.0

Lokal betäubend

Der Geschmack ist bitter, scharf, warm und läuft ihren Rachen hinab. Es macht sich ein Taubheitsgefühl breit dort, wo das chemisch aufbereitete Pulver der Koka-Pflanze ihre Schleimhäute berührt. Ist es gestreckt, würde das gesamte Gesicht taub, denn häufig wird Kokain mit seinen Derivaten – zum Beispiel Lidocain versetzt. Sie sind billiger und erlauben daher einen höheren Gewinn für den Dealer, wirken aber nicht so lokal begrenzt wie Kokain, weshalb sich das Taubheitsgefühl dann auf das gesamte Gesicht ausweiten kann.

Was jetzt in Hannas Rachen und Nasenflügeln passiert ist komplex. Der Taubheitseffekt, den die junge Frau spürt, ist nur ein Teil der Wirkung des Rauschmittels. Denn auf das sogenannte periphere Nervensystem wirkt Kokain betäubend, weshalb das Kokain anfangs in der Medizin als Lokalanästhetikum eingesetzt wurde. Heute kommt es hier kaum noch zur Anwendung – das Suchtpotential ist zu hoch. Allerdings ist es eher die Wirkung des Koka-Extraktes auf das zentrale Nervensystem (ZNS), die für den Rausch und auch die Entstehung einer Kokainabhängigkeit verantwortlich ist.

Kathrin Bernard
Stand: 22.02.2013

Was passiert bei einem Rausch im Gehirn?

Tanz der Botenstoffe

Hanna fühlt sich gut, sie hat bereits kurze Zeit nach dem „Snifen“ des Pulvers ein euphorisches Gefühl. „Du fühlst dich, als seist du der Größte, „beschreibt der Nutzer eines Forums im Internet die Wirkung.

Synapse: Hier wird das Dopamin ausgeschüttet. Es bindet dann an die Rezeptoren auf der Oberfläche der gegenüberliegenden Nervenzelle und gibt so das Signal an sie weiter. Dieser Vorgang führt im Belohnungszentrum u.a. zur Gedächtnisbildung. © Looie496 / CC-by-sa 3.0

Von einer Nervenzelle zur nächsten

Grund hierfür ist der Einfluss der Droge auf die Neurotransmitter im Gehirn. Diese sind Vermittler-Moleküle zwischen einzelnen Neuronen (Nervenzellen) im ganzen Körper. Damit Signale, wie Schmerzreize oder Hitze- und Kälteempfindungen dort im Gehirn ankommen, wo sie verarbeitet und gegebenenfalls beantwortet werden können, müssen die Informationen von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen werden. Dies geschieht an speziellen Schnittstellen – den sogenannten Synapsen.

Und das geht so: Das Endknöpfchen einer Nervenzelle gibt – nachdem es über ein Aktionspotential ein Signal erhalten hat – den Neurotransmitter aus schon bereitstehenden Sammelbläschen ab. Dazu verschmelzen die kleinen, mit dem Botenstoff gefüllten Vesikel mit der Membran des Endknopfes und entlassen so ihren Inhalt in den synaptischen Spalt – den Raum zwischen zwei Neuronen. Auf der andern Seite des Spaltes liegt eine weitere Nervenzelle, die mit für den Transmitter passenden Rezeptoren ausgestattet ist.

Die Rezeptoren funktionieren wie Andockstellen für den Botenstoff und lösen bei Bindung desselben eine Signalkaskade aus, die die Information ins eigene Zellinnere weiterträgt. Beispiele für solche Transmitter-Moleküle sind etwa Acetylcholin, Noradrenalin oder Dopamin. Insbesondere letzteres ist beim Drogenrausch, aber auch bei der Entstehung einer Sucht von besonderer Bedeutung.

Das Kokain verhindert die Wiederaufnahme des Dopamins in die Nervenzelle und sorgt dafür, dass mehr von dem Neurotransmitter ausgeschüttet wird. So werden die Rezeptoren immer wieder erregt und das Glücksgefühl hält über die Dauer des Rausches an. © NIDA

Akuter Rausch

Bei Hanna im Gehirn greift jetzt das Kokain in die Kommunikation zwischen den Nervenzellen ein. Wie viele andere Drogen beeinflusst es dabei den Transmitter Dopamin. Auf welche Weise verschiedene Substanzen die Dopamin-Kommunikation dabei beeinflussen, ist jedoch unterschiedlich. Kokain stört die Wiederaufnahme und das Recycling des Glückshormons. Denn da Nervenzellen sparsam sind, produzieren sie nicht ständig Unmengen der Botenstoffe. Häufig werden die Signalstoffe einfach wieder in die Nervenzelle aufgenommen, um dort abermals in Sammelbläschen verpackt zu werden und auf das nächste elektrische Signal zu warten.

Doch eben dieses Recycling verhindert Kokain, indem es an die Transporter bindet, die für die Wiederaufnahme zuständig sind. Zusätzlich veranlasst die Droge eine verstärkte und länger anhaltende Ausschüttung von Dopamin in den synaptischen Spalt. Die Botenmoleküle bewegen sich also weiterhin zwischen den beiden Nervenenden und können erneut an die Rezeptoren binden. Das führt zu einem über die Länge des Rausches andauernden Glücksgefühl.

Kathrin Bernard
Stand: 22.02.2013

Die Rolle des Belohnungssystems

Von der Überlebenshilfe zum Suchtfaktor

Das Licht und die Musik verstärken das durch Kokain und andere Drogen verursachte Hochgefühl. Später kann diese Umgebung mit dem Glücksgefühl so stark assoziiert werden, dass das Betreten einer Disko als Auslösereiz für die Drogeneinnahme ausreicht. © Fabio Di Lorenzo / CC-by-sa 3.0

Hanna fühlt sich attraktiv, sie tanzt und flirtet heftig, als die Partygäste später in einen Club wechseln. Denn das Dopamin ist bei ihr in einem Gehirnbereich aktiv, der auch als Belohnungszentrum oder mesolimbisches System bekannt ist. Es ist lebenswichtig und sorgt mit dafür, dass wir in der Lage sind zu lernen. Essen, Trinken, Sex sind Stimuli, die das gleiche Gehirnareal aktivieren und können daher neben Substanzen, die es – wie Kokain – direkt aktivieren genauso süchtig machen. Haben wir Sex – wie Hanna in dieser Nacht – dann schüttet unser Gehirn Dopamin aus. So wird eine positive Erfahrung mit einer Freisetzung von Dopamin im Gehirn belohnt – das Gehirn erinnert sich später an das positive Gefühl. Wir wollen dieses Gefühl zurück und wiederholen die Handlung oder nehmen die Substanz erneut ein.

Dieser Mechanismus erklärt auch, warum wir nicht nur nach Substanzen süchtig werden können, die direkt auf den Neurotransmitter Dopamin in den Synapsen wirken: Bei einigen Menschen können auch bestimmte Verhaltensweisen das Belohnungssystem so beeinflussen, dass sie diese Handlungen und Aktivitäten geradezu zwanghaft wiederholen. Manche erleben beispielsweise beim Spielen eine solche Befriedigung, dass sie meinen, nicht mehr darauf verzichten zu können und alles daran setzen, möglichst oft dieses Glücksgefühl wieder zu erleben – sie werden spielsüchtig.

Überlebenswichtiger Mechanismus begünstigt die Abhängigkeit

Bei Tieren und auch bei unseren Vorfahren ist das Belohnungssystem deshalb so wichtig, weil positive Erfahrungen zum Beispiel bei der Nahrungssuche ebenfalls durch Dopamin-Ausschüttung belohnt werden. Hat ein Tier so eine ergiebige Nahrungsquelle gefunden, verbindet es bei der nächsten Begegnung mit einer ähnlich aussehenden Futterquelle oder einem mit ihr verbundenen Reiz bereits ein positives Gefühl. So kann das Tier erneut an der gleichen oder eine ähnlich aussehenden Stelle nach Futter suchen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es fündig wird und somit keine unnötige Energie vergeudet, ist hoch.

Dopamin als Mittler im Belohnungsschaltkreis: Der Hirnbotenstoff wird im VTA gebildet und in den Nucleus accumbens und präfrontalen Cortex ausgeschüttet. Dort wirkt er auf das Belohnungssystem. © NIDA

Was als raffinierte Überlebenshilfe funktioniert, kommt – so vermuten Forscher – auch der Suchtentstehung zu gute. Denn Hannas Gehirn verbindet jetzt das durch Dopamin ausgelöste Hochgefühl mit der Einnahme von Kokain. Diese Verbindung wird, je häufiger sie die Substanz später einnimmt, mehr und mehr gefestigt.

Es erklärt zudem, warum bestimmte Reize – wie etwa ein bestimmtes Lied oder das Betreten einer Kneipe – auch nach jahrelanger Abstinenz ehemals Süchtiger zu einem Rückfall führen können. Die Situation, in der dem Verlangen nachgegangen wurde, wird mit dem erlebten Hochgefühl verknüpft. Und zu dieser Situation gehören neben Drogen wie Kokain auch Sinneseindrücke, bestimmte Verhaltensweisen und sogar Personen, die in unserem Gehirn damit assoziiert wurden.

Kathrin Bernard
Stand: 22.02.2013

Körper und Psyche spielen auch bei der Sucht zusammen

Komplexes Gefüge

Am nächsten Tag hat Hanna einen Kater, neben dem Kokain hat sie viel Alkohol getrunken. Die Nachwirkungen des Kokains machen sie melancholisch, vielleicht sogar depressiv. Obwohl die Sonne scheint, erfreut sie sich kaum am strahlenden Himmel und den frühlingslaunig zwitschernden Vögeln. Ihr Kopf schmerzt, die Dopamin-Reserven sind aufgebraucht. Die Lust, erneut das Hochgefühl zu erleben, ist da – soll sie noch einmal Jens anrufen? Oder reicht es, wenn sie sich ein Bier aus dem Kühlschrank holt? Ein im Volksmund salopp als „Konterbier“ betiteltes Bier auf den Kater soll ihn vertreiben. So werden die unangenehmen Nachwirkungen durch erneute „Glückszufuhr“ kaschiert.

Kater - Am nächsten Morgen kommt das böse Erwachen: Die Euphorie ist Kopfschmerz und Melancholie gewichen. © SXC

Wie Hanna sich entscheidet und wie es bei ihr weitergeht, ist ungewiss. Ob eine Abhängigkeit von einer Substanz entsteht, ist individuell sehr verschieden und situationsabhängig. Zu komplex sind die dahinter steckenden Mechanismen. Das Dopamin-Belohnungssystem ist nur ein – durch die Wissenschaft sehr gut untersuchtes Beispiel – welches illustriert, wie die Verknüpfung zwischen Positivgefühl und der Einnahme einer Substanz oder einem zum Beispiel durch das Spielen erzielten Kick entsteht. Ist ein solcher Zusammenhang im mesolimbischen System des Gehirns jedoch erst einmal etabliert, kann sich eine Abhängigkeit ausbilden – muss aber nicht.

Körper und Geist spielen zusammen

Im Zentrum des Belohnungssystems steht dabei der sogenannte Nucleus accumbens – ein Hirnareal im Vorderhirn. Es verbindet Regionen des Gehirns miteinander, die für Motivation, Emotion, Kognition und Bewegung zuständig sind. Die hier ablaufenden neuronalen Prozesse steuern, welche Erfahrungen als positiv oder negativ bewertet und abgespeichert werden. Es bildet sich ein Gedächtnis aus, das uns auf Reize je nach „Erinnerung“ unterschiedlich reagieren lässt. Dabei ist nicht klar zu trennen, welche Aspekte psychisch und welche physiologischer Natur sind. Wie komplex das Zusammenwirken beider aber ist, illustriert das folgende Beispiel.

In Versuchen mit Affen zeigte sich, dass die wiederholte Aktivierung des Belohnungssystems durch Zuckersaft dazu führen kann, dass dann allein die Ausführung einer mit einem positiven Gefühl verbundenen Handlung bereits glücklich macht – ohne die eigentlich auslösende Droge. Im Experiment ersetzen die Forscher dafür nach einiger Zeit den süßen Saft, den die Tiere als positiv abspeicherten, durch etwas anderes. Das Trinken dieser Flüssigkeit machte die Versuchstiere aber genauso glücklich, obwohl es kein süßer Saft mehr war.

Placebo-Drogen

Ähnliche Untersuchungen führten auch bei Ratten sowie abhängigen Menschen dazu, dass eine Placebo-Droge, eingenommen in der vertrauten Konsumumgebung oder in Verbindung mit einem mit der Droge assoziierten Reiz, zunächst den gleichen oder zumindest einen ähnlichen Effekt hatte wie etwa ein echter Heroinschuss. Man könnte meinen, dass auf diese Weise leicht eine Droge oder eine süchtig machende Handlung kompensiert werden könnte. Doch weit gefehlt: Denn physische und psychologische Faktoren wirken bei der Sucht so eng zusammen, dass der Placebo-Effekt nur von kurzer Dauer ist und das Gehirn schnell „merkt“, dass der eigentliche Auslöser fehlt.

So spielen nicht nur Suchtreiz und die Reaktion darauf bei der Abhängigkeitsentstehung eine Rolle. Weitere Faktoren müssen hinzukommen. Dabei kann etwa die Lebenssituation des gefährdeten Menschen begünstigend wirken. Und schließlich ausschlaggebend dafür sein, ob sich tatsächlich eine Substanzabhängigkeit oder eine psychiatrisch auch als Impulskontrollstörung oder Zwangsstörung klassifizierte Verhaltenssucht ausbilden.


Stand: 22.02.2013

Nicht nur Angst und Depression gehören zu den Suchtsymptomen, auch Leugnung

Abhängigkeit hat viele Gesichter

Entzugserscheinungen treten nicht nur bei harten Drogen auf. Auch Internetsucht, Alkoholabhängigkeit und Spielsucht können von Paranoia, Nervosität, Angstzuständen oder ähnlichem begleitet sein. © SXC

Ist es einmal so weit gekommen, haben alle Abhängigkeiten – ob substanzbezogen oder nicht -einiges gemeinsam: Der Betroffene leidet unter psychischen oder körperlichen Entzugserscheinungen, wenn seine Sehnsucht nach dem nächsten Hochgefühl nicht erfüllt wird. Symptome wie Schmerzen, Muskelzittern, Nervosität, Angstzustände, Depressionen und Schweißausbrüche sind nur Beispiele des unter dem englischen Begriff „Craving“ zusammengefassten Verlangens nach dem Suchtmittel. Die Abhängigen stellen ab einem bestimmten Grad der Erkrankung ihr Leben ganz auf ihr Sucht-Verlangen ein. So rücken soziale Gefüge, Arbeit, Familie und im Extremfall sogar lebenserhaltende Alltäglichkeiten, wie Essen und Trinken, in den Hintergrund.

Nicht jeder Süchtige ist gleich

Je nach sozialem Status der Person und Verfügbarkeit des Suchtobjektes kommen diese Nebeneffekte dabei unterschiedlich stark zum Tragen. Denn das Bild vom Junkie am Bahnhof, der sich durch Diebstahl und Schnorrerei seinen nächsten Schuss erschleicht, lässt zwar vielen Eltern die Haare zu Berge stehen, repräsentiert aber nur einen sehr geringen Prozentsatz der Suchtkranken.

Wenn der Schnaps wichtiger ist als die Bedürfnisse der Familie ist es zu spät: Der Betroffene steckt mitten in der Sucht. © SXC

Abhängigkeit findet sich in allen Gesellschaftsschichten. So kann sich auch ein gut situierter Pegel-Trinker trotz Bitten und Betteln der Familie weigern, etwas an seiner Alkoholabhängigkeit zu ändern. Denn trotz seiner Sucht „funktioniert“ er im Alltag noch halbwegs normal. Und süchtig sei er schließlich sowieso ganz und gar nicht. Doch auch wenn es auf den ersten Blick nicht danach aussieht: Auch für ihn sind das Bier, der Wein, der Schnaps, wichtiger geworden als alles ihn Umgebende – er ist abhängig…

So kommen neben den Entzugssymptomen häufig das Nicht-Eingestehen und die Leugnung oder das Abtun des Problems als suchttypisch hinzu. Um Unsicherheit zu kaschieren, werden etwa Witze über das eigene Verhalten gemacht. „Ja, ich renn´ noch mal, bis ich tot um fall`!“ könnte etwa ein Sportsüchtiger – angesprochen auf seinen Bewegungszwang – humorvoll erwidern.

Und Sprüche wie „Ein Gläschen in Ehren kann niemand verwehren.“ sollen nur allzu häufig ein zwanghaftes Trinkverlangen kaschieren.

Doch mit fortschreitender Abhängigkeit wird diese immer Schwieriger zu leugnen, denn ein weiteres Merkmal der Sucht ist die eintretende Gewöhnung des Körpers. Das äußert sich unter anderem darin, dass etwa eine immer höhere Dosis eines Stoffes eingenommen werden muss oder eine Handlung häufiger und mit steigender Wichtigkeit ausgeführt werden muss, um den gleichen befriedigenden Effekt zu erzielen. So ist selbst die scheinbar harmloseste Sucht im fortgeschrittenen Stadium kaum mehr zu verstecken.

Kathrin Bernard
Stand: 22.02.2013

Oft führt eine Gewohnheit kleinschrittig in die Sucht

Schleichend in die Krankheit

Nicht immer muss eine Substanz oder eine Handlung ein solch extremes Positiv-Gefühl auslösen, wie es Kokain oder andere sogenannte harte Drogen innerhalb von Sekunden zu erzeugen vermögen. Häufig entwickeln sich Abhängigkeiten schleichend aus scheinbar harmlosen Alltagsgewohnheiten, sind dann aber ähnlich schwer abzulegen wie das Verlangen nach harten Drogen.

Auch Nikotin macht stark abhängig. © SXC

Bei den Substanz-Abhängigkeiten stehen dabei Nikotin, Tabletten und Alkohol ganz vorne auf der Häufigkeitsliste solcher schleichenden Süchte. Der allein in Deutschland durch Alkoholismus entstehende volkswirtschaftliche Schaden liegt nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts bei rund 20 Milliarden Euro jährlich und ist damit um ein Vielfaches höher als der durch harte Drogen verursachte. Das verwundert wenig, denn Alkoholismus ist viel weiter verbreitet als etwa Heroinabhängigkeit. Seit einigen Jahren machen auf das Problem der Gesellschaftsdroge Alkohol verschiedene Einrichtungen und auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung etwa mit ihrer Kampagne „Kenn dein Limit“ verstärkt aufmerksam. Dennoch gelten allein in der Bundesrepublik 1,3 Millionen Menschen offiziell als alkoholabhängig – und krank. Fast zehn Millionen gelten als gefährdet. Die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen. So nehmen die Deutschen pro Kopf insgesamt zirka 12,9 Liter reinen Alkohol im Jahr zu sich – Kinder und Abstinente mit eingerechnet. Damit steht Deutschland im europäischen Vergleich ganz vorne.

Lähmung im Gehirn

Alkohol wirkt nach einem etwas anderen Mechanismus als Kokain, hier stellen die sogenannten GABA-Rezeptoren einen wichtigen Faktor dar. Sie sitzen auf den hemmenden Synapsen im Gehirn und steuern deren Aktivität. Je mehr man trinkt, desto lahmer wird so das Gehirn bis es – im Extremfall – zum Blackout kommt. Alkohol gehört zudem zu jenen Substanzen, die quasi überall im Gehirn wirken. Bereits Minuten nach dem ersten Schluck, wirkt das Ethanol lähmend auf die Aktivität sämtlicher Gehirnareale, darunter auch jenen für die Motorik und das Sprachzentrum – wir beginnen zu lallen und taumeln beim Gehen. Gleichzeitig fördert der Alkohol aber auch die Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin und beeinflusst das Belohnungszentrum, wenn auch auf andere Weise und weniger extrem als das Kokain.

Der Alkohol führt zunächst zu einer verstärkten Dopamin-Ausschüttung. Später lähmt er vor allem das Gehirn. © SXC

Neben sozialer Situation und psychischer Befindlichkeit der Betroffenen spielen, wie Wissenschaftler bereits nachgewiesen haben, auch bei diesen schleichenden Süchten unterschiedliche Faktoren dafür eine Rolle, ob über diese Mechanismen eine Abhängigkeit entsteht. So lassen Zwillings- und Adoptionsstudien auf eine genetische Disposition für Alkoholismus schließen. Denn das Risiko für eine Erkrankung naher Verwandter ist um das Drei- bis Vierfache gegenüber Menschen ohne familiären Krankheitshintergrund erhöht. Auch bestimmte Enzyme wie das Neprilysin, welches kürzlich bei Mäusen in Zusammenhang mit exzessivem Alkoholkonsum in Stresssituationen gebracht wurde, beeinflussen die Entstehung von Abhängigkeiten.

Gesellschaftlich akzeptiert

Besonders die unauffälligeren Drogen wie Alkohol oder Nikotin sind in unserer Gesellschaft weitgehend akzeptiert, sie gehören oft zum sozialen Umgang dazu. Deshalb fällt es häufig weder den Betroffenen noch dem sozialen Umfeld und der Familie rechtzeitig auf, wenn jemand in eine Abhängigkeit hineingleitet. Da gibt es zunächst etwa Saufgelage nur in Gesellschaft und mit Freunden, später auch allein oder unverhältnismäßig häufig. So werden die das Suchtverhalten tolerierenden Situationen beispielsweise zwanghaft herbeigeführt. Wenn die Freunde nicht können, geht man halt mit jemand anderem in die Kneipe oder allein. Dabei muss die Abhängigkeit nicht immer durch Exzess oder Regelmäßigkeit gekennzeichnet sein. Die klassischen Quartalstrinker nutzen so die Ausrede „Ich trinke ja nicht immer“, während die Pegeltrinker sagen können „Ich bin ja nie betrunken“. Gleiches gilt für viele andere Abhängigkeiten.

Das letzte Abendmahl als Trink-Gelage. © gemeinfrei

Welche Abhängigkeiten eine Gesellschaft begünstigt, ist zudem kulturell bedingt. In Deutschland ist Alkohol gesellschaftsfähig und wird in der Öffentlichkeit nicht nur toleriert, sondern gehört vielmehr ins Bild. In anderen Europäischen Ländern wie Spanien ist es dagegen undenkbar, mit einer Flasche Bier in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein. Ist man es doch, ist dies bereits ein deutliches Zeichen für den sozialen Abstieg.

Aber auch nicht-stoffliche Abhängigkeiten bleiben oft über lange Zeiträume unbemerkt. Arbeitet jemand übermäßig viel oder treibt Sport, bis er umfällt, wird dies in vielen Fällen nicht als Sucht erkannt, da es sich um Tätigkeiten handelt, die klassisch mit Disziplin und Motivation assoziiert werden und somit nicht ins „typische“ Bild eines Süchtigen passen. Denn dieser gilt bis heute vielerorts als schwach und undiszipliniert, denn er kann nicht ohne seine Droge. Trotzdem können auch diese vermeintlich gesunden Süchte genauso körperliche und soziale Schäden nach sich ziehen.

Kathrin Bernard
Stand: 22.02.2013

Wenn Verhaltensweisen und Freizeitaktivitäten abhängig machen

Kaufen, spielen, Internet

Die Stimulation des mesolimbischen Systems scheint allen Abhängigkeiten – ob substanzbezogen oder nicht – zugrunde zu liegen. Auch die sogenannten nicht- stofflichen Zwangsstörungen, wie „Spielsucht“, „Kaufsucht“ oder „Internetsucht“ kennzeichnet, dass hier ein zunächst angenehmes Gefühl durch eine Handlung oder ein Verhalten erzeugt wird. Das spätere böse Erwachen, wenn etwa alles Geld verspielt ist und der Schuldenberg in kaum absehbare Höhe gewachsen ist, wird dabei genau wie beim Alkohol oder beim Kokain zunächst ausgeblendet.

Solche Spielautomaten können es sein, die einen Glücksspiel-Abhängigen immer und immmer wieder anziehen. Manche verspielen dabei ihr ganzes Vermögen und verschulden sich, um ihrem zwanghaften Verlangen nachzugehen. © Pcb21 / CC-by-sa 3.0

Damit sich aus der Lust an Konsum, Spielen oder dem Surfen im Internet eine Abhängigkeit entwickelt, müssen auch hier mehrere Faktoren zusammen wirken. Als begünstigend für eine Erkrankung am pathologischen Spielen gelten so etwa ein geringes Selbstwertgefühl und weitere neurologische oder psychologische Erkrankungen. Wissenschaftler haben zudem gezeigt, dass sich die im Gehirn ablaufenden Verstärkungsmechanismen bei Spielern denen Substanzabhängiger deutlich ähneln. Schließlich sind auch hier häufig äußere Umstände – Geldsorgen, Stress, Beziehungs- oder familiäre Probleme Auslöser für ein oft langsames und unmerkliches Hinübergleiten ins Suchtverhalten.

Bei der offiziell nicht als Zwangsstörung anerkannten Sucht nach Arbeit oder nach Sport, ist es schwer eine Grenze zu ziehen, wo gesteigerter Ehrgeiz und Motivation aufhören und eine ungesunde Abhängigkeit beginnt. Denn eine hohe Motivation und Fleiß werden in der heutigen Gesellschaft honoriert – schaffen Anerkennung. Dennoch gehen Experten davon aus, dass allein in Deutschland zumindest jeder vierte Selbstständige süchtig nach seiner Arbeit ist, weitere besonders gefährdete Berufsgruppen seien Ärzte, Krankenpfleger, Journalisten oder Wissenschaftler, so die Forscher.

Das Bild zeigt die Halle, in der die Finalrunden der "World Cyber Games" in Singapur 2005 stattfanden. Vor allem junge Männer fühlen sich von den Online-Spielen wie magisch angezogen. In der virtuellen Welt können sie Erfolge erzielen und gewinnen, was ihnen in der Realität oft nicht gelingt. Das Internet bietet eine attraktive Ausweichmöglichkeit. © Conew / CC-by-sa 2.5

Ein umstrittenes Beispiel: Internetsucht

Auch etwas so Alltägliches wie das Surfen im Internet kann abhängig machen: Schon seit einigen Jahren registrieren Psychologen einen weltweiten Anstieg von mit Computern und dem Internet verbundenen Zwängen. Besonders in Asien häufen sich dabei in den letzten Jahren Studien, die sich mit der Abhängigkeit vom Computer und der exzessiven Nutzung des Internets befassen. Allein in China gelten 13,7 Prozent der Erwachsenen als internetsüchtig und in Korea wurde das Thema populär, nachdem zehn Menschen in Internetcafés an Atemstillstand und Kreislaufkollaps starben. Auch Morde, die in Zusammenhang mit Online-Computerspielen gebracht wurden, rückten die Problematik dort ins Licht der Öffentlichkeit.

Umstritten ist allerdings weiterhin, ob es sich bei der Internetsucht tatsächlich um eine Abhängigkeit oder vielmehr um ein Symptom einer bereits bestehenden Depression oder einer narzisstischen Persönlichkeit handelt. Die Klassifizierung als „Abhängigkeit“ wird zudem dadurch erschwert, dass die Kategorie „Zwanghafte Verwendung des Internets“ sowohl die Online-Kaufsucht, die Online-Glücksspielsucht wie auch die Online-Sexsucht und die Computersucht umfasst.

PC-Spieler: Zwei Männer spielen Computerspiele. Mit fortschreitendem Verlangen nach dem Computer, werden soziale Kontakte außerhalb der Cyberwelt vernachlässigt. © Love Krittaya / gemeinfrei

Computer-Spiele machen abhängig

Besonders die exzessive Nutzung von sozialen Netzwerken und sogenannten Multiplayer-Spielen breitet sich dabei in den letzten Jahren vor allem unter Jugendlichen aus. Aber auch Erwachsene Männer und Frauen sind betroffen, wobei unter den in Deutschland schätzungsweise 560.000 Abhängigen insgesamt mehr Männer zu finden sind. Typische Symptome sind dabei das unbezwingbare Verlangen das Internet zu nutzen, Kontrollverlust über die Nutzungsdauer – oft verbunden mit Schuldgefühlen, nachlassende Arbeitsleistung, Verheimlichung und/oder Verharmlosung der Internet-Aktivität gegenüber anderen, sowie Entzugserscheinungen wie Nervosität, Reizbarkeit, Depression und Schweißausbrüche.

Im Drogenbericht der Bundesregierung wurde der zwanghaften Online-Nutzung 2009 erstmals ein eigenes Kapitel gewidmet. Darin heißt es: „Aus gesundheitlicher Sicht hat die suchtartige Nutzung des Internets an Gewicht gewonnen. Vor allem männliche Jugendliche und junge Erwachsene zeigen häufiger ein sich verlierendes, entgleitendes und in Extremfällen psychopathologisch auffälliges Online-Nutzungsverhalten insbesondere in Bezug auf Online-Spielewelten“. Um eine bessere Erforschung der Problematik und mögliche Therapieansätze zu ermöglichen, soll die Anerkennung der Krankheit durch die WHO geprüft werden. In Deutschland gibt es bereits mehrere auf die Online-Sucht spezialisierte Ambulanzen.


Stand: 22.02.2013