Versunkene Schiffswracks und Kulturschätze in der Nordsee

Ohne Schutz im nassen Grab

Das Multibeam-Sonar machte dieses Schiffswrack am Grund der Nordsee sichtbar © Deutsches Schiffahrtsmuseum

Hunderte Schiffswracks liegen vor der deutschen Nordseeküste — archäologisch wertvoll, doch unerforscht und ohne Schutz. Die meisten von ihnen sind bisher weder genauer kartiert, geschweige denn geborgen. Doch Bauarbeiten für Windparks, Schleppnetze und Kiesabbau drohen, diese Kulturschätze zu vernichten, bevor sie erforscht werden können.

Das Deutsche Schifffahrtsmuseum will hier nun Abhilfe schaffen. Ein Forschungsprojekt soll nun zunächst den Meeresboden der Nordsee genau kartieren und alle Funde und ihren Gefährdungsstatus dokumentieren. Außerdem wollen die Forscher endlich Voraussetzungen schaffen, die Deutschland dazu bringen, die UNESCO- die Konvention zum Schutz des Kulturerbes unter Wasser zu ratifizieren.

Christoph Herbort-von Loeper /Leibniz Journal
Stand: 18.10.2013

Wracks und Eiszeitrelikte als Zeugen der Vergangenheit

Kulturschatz im Verborgenen

Hauptinsel Helgoland (vorne) und die Insel Düne (hinten) © Pegasus2 / GFDL

Jedes Jahr im Sommer zieht es mehrere Hunderttausend Urlauber auf Deutschlands einzige Hochseeinsel, Helgoland. Ob sie im Hochgeschwindigkeits-Katamaran durch die Deutsche Bucht Pflügen oder die Passage im Seebäderschiff aus den 1960er Jahren eher beschaulich angehen, die meisten sind fasziniert von der Weite des Blicks auf offener See. Wie nah sie dabei den Spuren steinzeitlicher Jäger und Relikten der Weltkriege kommen, ist den wenigsten bewusst.

Mehr als 300 Wracks – zumeist gesunkene Schiffe, aber auch abgestürzte Flugzeuge – befinden sich Schätzungen zufolge allein in der deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), jenem Gebiet, das sich jenseits der eigentlichen Hoheitsgewässer der Zwölf-Meilen-Zone befindet und das Deutschland nach den Bestimmungen des Seerechts exklusiv wirtschaftlich nutzen darf. In Küstennähe kommen noch etliche weitere Wracks hinzu.

Mehr als 300 Schiffswracks liegen am Grund der Nordsee © Deutsches Schiffahrtsmuseum

Gefährdet und ungeschützt

Der Meeresboden birgt damit einen riesigen archäologischen Schatz, der nicht nur technikgeschichtlich interessant ist, sondern auch Aufschluss über Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, soziale Lebensbedingungen oder politische Entwicklungen von Krieg und Frieden geben kann. „Zeitkapseln“ nennen Archäologen diese Spuren der menschlichen Vergangenheit auf dem Meeresgrund.

Die aber sind akut gefährdet, denn die Nordsee gehört zu den am intensivsten genutzten Meeren der Welt: Schleppnetzfischerei planiert den Meeresboden, neue Windkraftanlagen entstehen, Kies wird in großem Maßstab abgebaut und beim Ausbau von Schifffahrtswegen werden Sand und Sediment an der einen Stelle ausgebaggert und an einer anderen wieder abgeladen. Dazwischen liegen die Wracks – nahezu ungeschützt, denn Denkmalschutz ist in Deutschland Ländersache, und die Zuständigkeit der Landesbehörden endet mit der Zwölf- Meilen-Zone.

Christoph Herbort-von Loeper /Leibniz Journal
Stand: 18.10.2013

Kartierung der versunkenen Kulturschätze als erster Schritt

Jenseits der Zwölf-Meilen-Zone

Gegen Plünderei und Zerstörung sind die Wracks der Nordsee nicht geschützt © jeweils Deutsches Schiffahrtsmuseum

„Die Ausschließliche Wirtschaftszone ist, was die Kulturgüter auf dem Meeresboden angeht, quasi ein denkmalrechtlich nicht geschützter Raum“, sagt Ursula Warnke, Direktorin am Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven. „Wer in der AWZ einen Windpark errichtet oder Kies abbaut, könnte mit Schiffswracks im Prinzip machen, was er will. Auch gegen Schatztaucher gibt es keine Handhabe. Es fehlt in Deutschland an einer nationalen Einrichtung zum Schutz der unterseeischen Kulturgüter.

Das will die Archäologin nun ändern und hat in einem ersten Schritt das Bundesforschungsministerium überzeugen können, das dreijährige Forschungsprojekt „Bedrohtes Bodenarchiv Nordsee“ zu fördern. Es soll zunächst einen genaueren Überblick darüber liefern, was sich wirklich auf dem Meeresgrund befindet, denn die Kenntnis darüber ist noch sehr gering.

Was auf dem Meeresgrund liegt, ist bisher nur in Teilen bekannt © Deutsches Schiffahrtsmuseum

Kartierung und Altersbestimmung schwierig

Die verlässlichste Basis sind Seekarten des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH). Dieses jedoch untersucht den Meeresgrund nur nach der Maßgabe, ob ein Hindernis für die Schifffahrt gefährlich ist und gegebenenfalls sogar aus dem Weg geräumt werden muss. „Viel mehr als die geografische Lage und die Information, ob es sich um Wracks aus Holz oder Metall handelt, können wir diesen Karten nicht entnehmen“, berichtet Mike Belasus, der das Projekt am Schifffahrtsmuseum wissenschaftlich bearbeitet. Über den archäologischen Wert sagt das fast nichts aus.

Doch wie lässt sich dieser feststellen? „Das ist schwer einzuschätzen“, räumt der Archäologe und ausgebildete Forschungstaucher ein. „Bei Holzwracks müssen wir Materialproben nehmen, aus denen sich im Labor Alter und Herkunft des Baumaterials bestimmen lassen.“ Aber auch das Alter ist nur ein grober Anhaltspunkt. Nach einer Richtlinie der Kulturorganisation der Vereinten Nationen (UNESCO) gelten Wracks, die mehr als 100 Jahre alt sind, als archäologisch relevant. „Aber auch im Zweiten Weltkrieg gesunkene Schiffe sind zweifelsohne von wissenschaftlichem Interesse“, gibt Belasus zu bedenken.

Christoph Herbort-von Loeper /Leibniz Journal
Stand: 18.10.2013

Deutschland hinkt hinterher

Die UNESCO und die Wracks

Schiffswrack - ist es älter als 100 Jahre, soll der Handel damit und mit allen daraus stammenden Objekten verboten sein - so sieht es die Konvention der UNESCO vor. © gemeinfrei

Die UNESCO hat im Jahr 2001 auch die Konvention zum Schutz des Kulturerbes unter Wasser verabschiedet. Diese sieht unter anderem vor, dass jeglicher Handel mit Artefakten von Schiffswracks, die älter als 100 Jahre sind, untersagt ist. Aber: Deutschland hat die Konvention bis heute nicht ratifiziert. Wenn es das täte, müsste das Land eine nationale Einrichtung etablieren, die sich um diese Unterwasser-Kulturgüter kümmert.

Eine solche Einrichtung könnte das Deutsche Schifffahrtsmuseum sein. „Als gemeinsam von Bund und Ländern getragenes Institut, das noch dazu Expertise auf dem Gebiet der Unterwasserarchäologie mitbringt, wären wir sowohl unter föderalen wie auch fachlichen Gesichtspunkten sicher eine gute Wahl“, erläutert Ursula Warnke. Das sieht nicht nur das Schifffahrtsmuseum selbst so, sondern auch die Fachwelt: Mitte September sprachen sich bei einer Tagung sieben führende internationale Experten der Unterwasser-Archäologie dafür aus, das Deutsche Schifffahrtsmuseum als Kompetenzzentrum für Unterwasser- und Schiffsarchäologie auszubauen und damit eine Voraussetzung dafür zu schaffen, dass Deutschland endlich die UNESCO-Konvention unterzeichnet.

Diese Karte des "versunkenen Landes" der Nordsee entstand schon 1913. Sie stammt vom britischen Geologen Clement Reid. © historisch

Als die Nordsee noch festes Land war…

Damit würde auf dem Meeresboden weit mehr geschützt als nur Wracks, denn er birgt noch mehr Geheimnisse; solche, die viel weiter in die Vergangenheit zurückreichen – in eine Zeit, in der der Meeresboden gar kein Meeresboden war, sondern Festland. Wären die heutigen Helgoland-Ausflügler vor 20.000 Jahren unterwegs gewesen, ihre Seereise wäre eine Landpartie, bestenfalls eine Flusskreuzfahrt gewesen.

Denn in der späten Altsteinzeit lag die Nordseeküste sehr viel weiter im Norden, noch oberhalb von Helgoland. Über das Land unter dem Meer ist nicht viel bekannt, obwohl unsere Vorfahren dort lebten, jagten und Handel trieben. Ihre Hinterlassenschaften zu finden, ist noch schwieriger als bei

den Schiffswracks, die kaum älter als wenige hundert Jahre sind. „Die Menschen der Steinzeit waren viel stärker als heute darauf angewiesen, sich mit der Natur zu arrangieren“, sagt Mike Belasus. „Anhand der topographischen Struktur der Landschaft – Anhöhen, Flussläufe und Mündungen – lässt sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit voraussagen, wo sich Siedlungen befunden haben könnten.“

Christoph Herbort-von Loeper /Leibniz Journal
Stand: 18.10.2013

Suche nach der versunkenen Eiszeit-Landschaft

Ur-Ems vor Helgoland

Das Spezial-Echolot "Boomer" wird auf seinen Kartierungs-Einsatz vorbereitet. © Radio Bremen

Einen weißen Fleck auf der Karte der steinzeitlichen Nordsee-Landschaft konnten die Wissenschaftler im August dieses Jahres aufklären. Geophysiker des Forschungszentrums MARUM der Universität Bremen rekonstruierten den Lauf des Flusses Ems jenseits der heutigen Küstenlinie. Bei Bodenuntersuchungen für einen Windparkbetreiber war der alte Flusslauf vor einiger Zeit eher zufällig entdeckt worden.

Da sich das alte Flussbett unter Wasser mit Sediment angefüllt hatte, scannten die Geophysiker den Meeresgrund per Sediment-Echolot und rekonstruierten den Lauf der Ur-Ems fast vollständig. Die mündete vor 20.000 Jahren nicht in die Nordsee, sondern floss nördlich von Helgoland ins Elbe-Urstromtal. Von dieser alten Mündung aus fuhren die Wissenschaftler den Flusslauf „landeinwärts“ ab und verfolgten ihn bis auf die Höhe von Juist. Hier erst verliert sich die Spur im Bereich der ostfriesischen Inseln.

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Kartierung macht archäologische Suche leichter

Mit diesen neuen Erkenntnissen ist es den Wissenschaftlern nun möglich, gezielter nach archäologischen Spuren zu suchen. Nämlich dort, wo es eine größere Wahrscheinlichkeit gibt,

dass sich dort einmal menschliche Siedlungen befunden haben – in Fachkreisen heißt diese Vorgehensweise „indicative mapping“. Das Ergebnis wird allerdings zunächst nicht der spektakuläre Fund sein, aufgrund dessen die Geschichte Norddeutschlands neu geschrieben werden muss.

Der eigentliche Schatz ist die vielfältige Projektdatenbank, in die die zahlreichen kleineren und größeren Erkenntnisse einfließen. Mit ihr soll auch der vorhandene Forschungsrückstand in der maritimen Archäologie in Deutschland aufgearbeitet werden. Erst 2010 hat das Schifffahrtsmuseum einen eigenen Forschungsbereich zu diesem Gebiet eingerichtet – nennenswerte Lehrstühle an deutschen Hochschulen gab es zuletzt keine (mehr). Die neue geschäftsführende Direktorin des Schifffahrtsmuseums Sunhild Kleingärtner aber hat seit April 2013 eine Professur für Schifffahrtsgeschichte und Maritime Archäologie an der Universität Bremen inne. Die maritime Archäologie hat damit an der Weser ihren akademischen Hafen gefunden.

Christoph Herbort-von Loeper /Leibniz Journal
Stand: 18.10.2013

…und viele weitere Funde

360 Wracks

Forschungstaucher Mike Belasus inspiziert eine Fundstelle am Meeresboden. © Jens Auer/ Süddänische Universität

Die Aufgaben und möglichen Forschungsansätze, die sich den Wissenschaftlern damit bieten, sind vielfältig: Die lokalisierten Wrackfundstellen müssen mit Sonar und Echolot genauer analysiert werden. Die Probenentnahme oder das Bergen von Artefakten ist oft nur mit Forschungstauchern möglich, was angesichts der rauen Nordsee ein nicht unbeträchtliches Risiko birgt. Bei besonders wertvollen Wracks ist auch eine komplette Bergung denkbar – mit all den Problemen, die die Bergung selbst, aber auch das Konservieren der Wracks außerhalb des Wassers mit sich bringen.

Mike Belasus schätzt, dass von den etwa 360 Wracks, die zurzeit in der AWZ bekannt sind, etwa zwei Drittel archäologischen oder kulturhistorischen Wert haben – von den frühzeitlichen Funden, die über Natur und Lebenswelt der Steinzeit Aufschluss geben, ganz zu schweigen.

Heuhaufen Nordsee

Auch wenn Belasus die Nordsee mit einem gigantischen Heuhaufen vergleicht, so bieten allein die darin gefundenen Nadeln Forschungsstoff für Generationen von Wissenschaftlern. Kann ein Forscher dabei ein ganz besonderes Projekt haben, das er am liebsten sofort untersuchen würde? Nach kurzem Überlegen nennt Mike Belasus ein Wrack, das das BSH vor kurzem lokalisiert hat.

Wrack des englischen Kriegsschiffs HMS Royal Oak, das 1914 vor Scapa Flow versenkt wurde. © ADUS DeepOcean

Dabei handelt es sich mutmaßlich um eines der ersten Torpedo-Boote der deutschen kaiserlichen Marine aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. „Mich würde an diesem Wrack besonders reizen, mehr über die realen Lebensbedingungen der Menschen an Bord zu erfahren“, begründet der Schiffsarchäologe seine Auswahl.

„Vor allem der vermutlich vorhandene Kontrast zu den oft glorifizierenden Schilderungen der damaligen Zeit, die ja oft unsere einzigen Quellen über das Leben an Bord sind, ist ein spannendes Thema“, sagt Belasus. Und ein aktuelles noch dazu, jährt sich doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bald zum hundertsten Mal. Bei dessen Vorgeschichte, Verlauf und Ende spielte diese kaiserliche Marine schließlich keine unbedeutende Rolle.

Christoph Herbort-von Loeper /Leibniz Journal
Stand: 18.10.2013