Science-Fiction als Wegweiser in die moderne Welt

Jules Vernes „Außergewöhnliche Reisen“

Titelblatt von Jules Vernes "Außergewöhnliche Reisen" - seine Romane trafen den Nerv seiner Zeit © Edouard Riou

Ob „20.000 Meilen unter dem Meer“, die „Reise zum Mond“ oder „In 80 Tagen um die Welt“ – diese Klassiker von Jules Verne kennt auch heute noch fast jeder. Mit ihnen begann die große Ära der Science-Fiction-Romane – von visionären Geschichten, die Wissenschaft und Technik in ganz neuem, spannendem Licht zeigten.

Jules Vernes Romane trafen den Nerv der Zeit: Der Übergang von einer statischen zu einer dynamischen Weltsicht warf im 19. Jahrhundert erstmals Fragen nach zukünftigen Entwicklungen auf. Diese betrafen auch die Eroberung neuer Räume in immer kürzeren Zeiten, teils dank neuartiger, schneller Verkehrsmittel. Obwohl die geschilderten Technologien meist auf realen Ideen oder Geräten basierten, eröffneten sie einen Blick in eine neue, modernere Welt.

Anne Hardy / Forschung Frankfurt
Stand: 11.04.2014

Ein Anwaltssohn wird zum Bildungsbeauftragten

„Auf unterhaltsame Weise belehren“

Der französische Schriftsteller Jules Verne (1828–1905) war der älteste Sohn eines Anwalts – und damit war sein Karriere eigentlich vorprogrammiert. Doch dem Wunsch seines Vaters, er solle als Anwalt arbeiten, widersetzte sich der junge Verne hartnäckig. Zunächst allerdings sahen auch seine Chancen als Schriftsteller nicht sonderlich rosig aus: Seine von Edgar Allan Poe und E.T.A. Hoffmann inspirierten Werke und Theaterstücke blieben mehrheitlich unveröffentlicht.

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Ab 1854 musste Jules Verne daher seinen Lebensunterhalt als Makler an der Pariser Börse verdienen. Das änderte sich erst, als der den Jugendbuch-Verleger Pierre-Jules Hetzel kennenlernte. Dieser plante die Herausgabe eines Familienmagazins mit dem programmatischen Titel „Le Magasin illustré d’Education et de Récréation. Seiner Vorstellung nach sollten Wissenschaftler, Schriftsteller und Illustratoren zusammenarbeiten, um bildende Publikationen für die ganze Familie zu produzieren.

Der Durchbruch

Jules Vernes Roman „Fünf Wochen im Ballon“ passte sehr gut in dieses Konzept – und wurde prompt ein Erfolg. Für Verne bedeutet dies, dass er den Traum, ausschließlich vom Schreiben zu leben, realisieren konnte. Dazu musste er sich allerdings auf Kompromisse mit dem Verleger einlassen. Dieser wollte vor allem eines: Seine Leser auf unterhaltsame Weise belehren.

Fünf Wochen im Ballon - mit diesem Roman begann Vernes Erfolg © Edouard Riou / Henri de Montaut

In dieses Konzept passt der zweite Roman, den Verne für Hetzel schrieb, allerdings nicht. „Paris im 20. Jahrhundert“ zeichnete eine eher finstere Zukunftsvision der Metropole. Prompt lehnte Hetzel die Veröffentlichung ab – zu düster und dystopisch erschien ihm der Stoff für seine Zielgruppe. Erst 1994 erschien der Roman postum. Wie sich inzwischen zeigte, trafen viele von Vernes im Roman gemachten Vorhersagen erstaunlich genau zu.

Dennoch war dies Verne eine Lehre: Er konzentrierte sich fortan auf Reise- und Abenteuerromane mit mehr oder weniger großem Science Fiction-Anteil, darunter vor allem die „Außergewöhnlichen Reisen“.

Anne Hardy / Forschung Frankfurt
Stand: 11.04.2014

Der wissenschaftliche Hintergrund der Romane

Reale Technik – weitergesponnen

Elektrische Geräte im Alltag, Weltreisen im Rekordtempo und Unterseeboote, die monatelang auf See blieben – für seine Leser, die die Romane größtenteils noch bei Kerzenschein oder unter Gaslampen lasen, war die Welt, die Jules Verne ihnen präsentierte, exotisch und visionär. Doch Jules Verne extrapolierte zwar in seinen Romanen technische Entwicklungen, aber er verlegte die Handlung nicht in die Zukunft.

Kapitän Nemo bei der Positionsbestimmung - naturwissenschaftliche Grundlagen vermittlte Verne quasi nebenbei © Alphonse de Neuville/ Edouard Riou

Mit einem Fuß in der Wirklichkeit

Ganz im Trend der zeitgenössischen Schule um den Schriftsteller und Journalisten Emile Zola war er darauf bedacht, seinen Erzählungen einen realistischen Anstrich zu geben. Max Popp, der erste und bis heute einer der wichtigsten Biographen Jules Vernes schreibt 1908 über ihn: „Denn gerade das ist die Eigenart Vernes: Er gibt sich bei seinen Schlussfolgerungen nicht müßigen Spekulationen hin sondern bleibt immer auf dem Boden der Wahrheit.“

Doch während sich Zola für die sozialen Folgen des Fortschritts interessierte, nutzte Verne seine abenteuerlichen Reisen, um Wissenschaft zu popularisieren. Die Präzision und die detailgetreuen Schilderungen, mit denen er den Eindruck erweckte, er habe die Reise selbst unternommen, begeisterte auch die Literaturkritiker. Sie bescheinigten ihm, seine Beschreibungen seien „exakt und minutiös wie ein Logbuch“ und vermittelten den „absoluten Eindruck des Wirklichen“.

Der Maschinenraum der "Nautilus" - Vernes Schilderungen basieren auf realer Technik © Alphonse de Neuville / Edouard Riou

Zettelkasten mit wissenschaftlichen Auszügen

Das ist umso erstaunlicher, als der Autor sein Wissen meistenteils aus Büchern oder populärwissenschaftlichen Artikeln bezog. Er besaß eine Kartei mit Exzerpten, die er ständig erweiterte und die in den 1890er Jahren auf 20.000 Notizen anwuchs. Außerdem fragte er immer wieder Experten um Rat, beispielsweise seinen Bruder Paul, der Seemann war, oder den Erfinder Jacques-François Conseil. Letzterer arbeitete an einem mit Dampf betriebenen U-Boot.

Das Vorbild für die „Nautilus“, das U-Boot von Kapitän Nemo in „20.000 Meilen unter dem Meer“, war vermutlich das 1863 vom Stapel gelassene U-Boot „Le Plongeur“, das im Auftrag des französischen Kriegsministeriums gebaut worden war. Verne hatte ein Modell des Bootes 1867 bei der Pariser Weltausstellung gesehen. Allerdings waren die Versuche mit „Le Plongeur“ wieder eingestellt worden, weil es beim Tauchen nicht auf einer Höhe gehalten werden konnte und es auch noch keine unter Wasser verwendbaren Waffen gab.

Anne Hardy / Forschung Frankfurt
Stand: 11.04.2014

Technik lässt den Raum schrumpfen

Um die Erde in 80 Tagen

Die eigentliche kreative Leistung Vernes bestand meistens nicht in der Erfindung eines technischen Artefakts, sondern im Ausspinnen der Möglichkeiten seines Gebrauchs, sobald es perfekt funktionierte. Erfolg hatten Vernes „Außergewöhnliche Reisen“ nicht zuletzt deshalb, weil sie an die damals beliebte Reiseliteratur anknüpften und die Neugierde des Lesers auf die Geographie und die Sitten ferner Länder stillten.

Um die Erde in 80 Tagen - Vernes Roman traf den Nerv der Zeit © Alphons de Neuville/ Léon Benett

Dass sein 1873 erschienener Roman „Um die Erde in 80 Tagen“ sein beliebtester wurde – zu Lebzeiten Vernes verkauften sich allein in Frankreich 108.000 Exemplare –, deutet darauf hin, dass die Leser zunehmend darauf brannten, diese Reisen dank neuer Verkehrsmittel selbst zu unternehmen. Hier fiel der Bildungsauftrag des Verlegers mit dem Wunsch des Lesers nach Orientierung und Unterhaltung zusammen.

Verkürzte Reisedauer

Bemerkenswert ist an der Reise des exzentrischen Engländers Phileas Fogg, dass Verne kein einziges neues Verkehrsmittel zur Umrundung der Erde erfand. Neu und für Vernes Zeitgenossen faszinierend war die Tatsache, dass dank des regelmäßigen Postschiffverkehrs im British Empire und der Eisenbahnstrecken durch den indischen Subkontinent sowie quer durch Nordamerika die Reisedauer um die Erde ungemein verkürzt werden konnte.

Neue Verkehrsmittel wie die Eisenbahn ließen Entfernungen schrumpfen © Alphons de Neuville/ Léon Benett

Brauchte man beispielsweise zuvor sechs Monate, um von San Francisco nach New York zu gelangen, waren es mit der Eisenbahn nur noch sieben Tage. Damit schien auch der Raum zu schrumpfen. Das wird gleich zu Anfang des Romans thematisiert, als Phileas Fogg beim Kartenspiel im Londoner Reform Club behauptet, die Erde sei früher einmal groß gewesen. „Was meinen Sie mit ‚früher‘? Sie wollen doch nicht behaupten, dass der Erdball geschrumpft wäre?“, entgegnet der Ingenieur Andrew Stuart.

Worauf Gauthier Ralph vom Direktorium der Bank of England bestätigt: „Die Erde ist kleiner geworden. Für eine Erdumrundung braucht man heute zehnmal weniger Zeit als vor hundert Jahren.“ Als Informationsquelle dient dem Gentleman der Morning Chronicle, der die Zeit für die einzelnen Teilstrecken addiert hat und dabei auf 80 Tage kommt. Etwaige Verzögerungen durch Nebel, Sturm, Entgleisung, Schiffbruch und Überfälle, behauptet Fogg, seien bereits eingerechnet.

Anne Hardy / Forschung Frankfurt
Stand: 11.04.2014

Vernes Leitmotiv trifft den Nerv der Zeit

Höher, schneller, weiter

Die Idee einer Weltreise war keine Erfindung Vernes. Bereits 1870, zwei Jahre bevor er seinen Roman

schrieb, hatte die Zeitschrift „Le Magasin Pittoresque“ den von Verne zitierten Zeitplan veröffentlicht. Auch der Reiseveranstalter Thomas Cook hatte 1871 mit der Möglichkeit einer Weltreise geworben. Dem Verne-Biografen Peter Costello zufolge hat dieser Reiseprospekt den Autor inspiriert.

George Francis Train, das reale Vorbild für Vernes Helden Phileas Fogg © historisch

Offenbar hatte Phileas Fogg auch ein historisches Vorbild. George Francis Train, ein wohlhabender Geschäftsmann aus Boston, der selbst eine Schiffsverbindung zwischen Liverpool und Australien eröffnet hatte, war 1870 tatsächlich in 80 Tagen um die Welt gereist. Später, als Vernes Buch so überaus erfolgreich war, beklagte er sich, die Literaturgeschichte habe ihn, den wahren Phileas Fogg, übergangen.

Rekorde als Trend

Was der Reise des historischen Vorläufers von Vernes Helden fehlt, ist jedoch das Element des Zeitdrucks, das durch den Abschluss einer Wette in die Geschichte kommt. Schafft Phileas Fogg es nicht, binnen 80 Tagen zurück zu sein, verliert er die Hälfte seines Vermögens. Da er die andere Hälfte in Reisekosten investiert, riskiert er nicht weniger als seinen Ruin.

Der Wunsch, Rekorde aufzustellen und wieder zu brechen, ist ein typisches Phänomen der Zeit. Noch um 1900 war es kaum möglich, „von der Zukunft etwas anderes als Tempo und Beschleunigung zu erwarten“, urteilt der Technikhistoriker Joachim Radkau in seinem Buch „Das Zeitalter der Nervosität“. Allerdings entsprang der Ehrgeiz weniger dem Bereich der Technik als dem Sport. So verwundert es nicht, dass auch Vernes Roman seine Zeitgenossen dazu anspornte, die Erde in weniger als 80 Tagen zu umrunden.

Kein touristisches Interesse - Vernes Held Phileas Fogg ist nur von der Zeit getrieben © Alphons de Neuville/ Léon Benett

„Schwerkörper“ ohne touristisches Interesse

Dass Phileas Fogg von sportlichem Ehrgeiz getrieben ist, verdeutlicht Verne, indem er seinen Helden mit einem Chronometer vergleicht. Vor Antritt seiner Reise ist Foggs Tagesablauf auf die Minute geregelt. Er zeichnet sich durch äußerste Ökonomie der Bewegung aus und wählt immer den kürzesten aller Wege. Anders als sein Diener Passepartout hat er an der Reise keinerlei touristisches Interesse. Mit seinen Reisegefährten plaudert er nicht, er interessiert sich nicht für Land und Leute.

„Er reiste ja auch gar nicht – er war ein Schwerkörper, der entsprechend den Gesetzen der Bewegungslehre eine Erdumkreisung vollzog“, erklärt Verne. Dass Fogg trotzdem im Laufe der Geschichte zu einem Helden wird, ist in erster Linie seinem Mut und seiner Entschlossenheit zu verdanken. So macht er einen Umweg, um eine indische Witwe vor der Verbrennung mit ihrem verstorbenen Gatten zu retten, er trotzt dem Sturm auf einem Lotsenboot im Ostchinesischen Meer und verfeuert zuletzt die hölzernen Aufbauten eines gecharterten Handelsschiffs, dem die Kohle ausgegangen ist.

Anne Hardy / Forschung Frankfurt
Stand: 11.04.2014

Die Eroberung neuer Räume durch Technologie

20.000 Meilen unter dem Meer

Ein zweites Motiv, das Verne in seinen Romanen aufgreift, ist die Eroberung des Raums. Nachdem sich das Zeitalter der geographischen Entdeckungen dem Ende zuneigte, stillte der Autor die Neugierde seiner Leser, indem er sie in die exotischsten Regionen der Erde, in die Tiefsee, zum Mittelpunkt der Erde und sogar zum Mond entführte. Dazu musste der Autor bereits existierende Pläne für U-Boote, Luftschiffe und Autos in der Fantasie zu perfekt funktionierenden Transportmitteln reifen lassen.

Eroberung des Ozeans: Spaziergang im Taucheranzug auf dem Meeresboden © George Roux

Glaubwürdige Technik

In „20.000 Meilen unter dem Meer“, erschienen 1869, nimmt Kapitän Nemo die Weltmeere in Besitz. Getreu seinem Motto „Mobile in Mobilis“ (mobil in einem beweglichen Element) bewegt er sich durch ein Element, in dem der Mensch ohne technische Hilfsmittel nicht überleben kann. Kapitän Nemo macht sich das Meer – auch im biblischen Sinne – untertan: Er nutzt es als Transportmittel, Lebenswelt und Ressource zugleich und ernährt und kleidet sch aus seinen Erträgen.

Glaubwürdigkeit gewinnt das Ganze auch durch immer wieder eingestreute Bezüge zu existierenden Geräten oder Gegebenheiten. Die Nautilus hat der geniale Ingenieur so umgerüstet, dass es nahezu autark ist und er das Festland niemals mehr betreten muss. Lange bevor Jacques Cousteau seine ersten Unterwasser-Expeditionen startete, lässt Verne vor den großen Glasfenstern im Salon der Nautilus bereits die exotische Flora und Fauna des Meeres vorbeiziehen.

Kapitän Nemo am Südpol - Vernes Helden waren Inspiration auch für reale Pioniere © Alphonse de Neuville/ Edouard Riou

Inspiration auch für reale Pioniere

In Vernes Phantasie kommt Kapitän Nemo weiter als jeder Forschungsreisende vor ihm. Nemo hebt die Schätze gesunkener Schiffe, findet die sagenumwobene Stadt Atlantis und entdeckt im Jahr der Eröffnung des Suezkanals eine unterseeische Passage zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer. Einer der Höhepunkte von Vernes Roman ist die Entdeckung des Südpols.

Vernes Schilderungen der Erlebnisse und technischen Konstruktionen faszinierte nicht nur Leser rund um die Welt. Sie inspirierten ihrerseits Technikpioniere wie den U-Boot-Entwickler William Beebe und Entdecker wie den Polarforscher Richard Byrd.

Anne Hardy / Forschung Frankfurt
Stand: 11.04.2014

Vernes visionärster Roman

Von der Erde zum Mond

In den beiden Romanen „Von der Erde zum Mond“ (1865) und „Reise um den Mond“ (1870) dehnt Jules Verne die Eroberung des Raumes über die Erde hinaus aus. Sein Held Michel Ardan versucht, eine neugierige Menge von dem Projekt zu überzeugen, indem er behauptet: „›Entfernung‹ ist ein ganz relatives Wort, das man in Zukunft mit ›Null‹ gleichsetzen kann. So wie wir heute von Liverpool nach New York spazieren, wird man von der Erde zum Mond spazieren. Durchquerung des Ozeans, Durchquerung des Weltraumes – wo liegt da der grundsätzliche Unterschied?“

Vorbild für Michel Ardan ist Vernes Freund Felix Nadar, der Konstrukteur des Riesenballons "Le Géant" © Henri de Montaut

Realer Visionär als Vorbild

Das historische Vorbild für Ardan war Vernes Freund, der Fotograf Felix Nadar, eine schillernde Persönlichkeit, die in Paris unter anderem durch die Konstruktion des Riesenballons „Le Géant“ berühmt geworden war. Verne schildert ihn als einen Visionär, der „in das Unmögliche verliebt ist, der versucht, der probiert, mehr oder weniger Erfolg hat, letztlich aber eine Sache in Gang bringt; dann mischen sich die Gelehrten ein, reden, schreiben, rechnen, und eines schönen Tages

tritt der Erfolg vor aller Augen zutage!“

Im Roman ist es Ardans Ziel, den Mond zu kolonialisieren, ihn landwirtschaftlich zu nutzen und dort Hunde zu züchten. Dem Abenteurer Ardan stellt Verne den Ingenieur Impey Barbicane zur Seite. Der Präsident des amerikanischen Kanonenclubs sucht für seine nach dem Ende des amerikanischen Sezessionskrieges untätigen Freunde eine neue Aufgabe. Sie sollen ihr Können durch eine technische Herausforderung bisher unbekannten Ausmaßes unter Beweis stellen: die Konstruktion einer Kanone, die ein Geschoss von der Erde zum Mond transportiert.

Realisierbar nur durch Kooperation: die Mondkapsel © Henri de Montaut

Großforschung vorweggenommen

An diesem Mondprojekt werden im Laufe der Handlung 2.000 Menschen beteiligt; seine Finanzierung kann nur dank internationaler Subskriptionen gesichert werden. Aus dem ursprünglichen Geschoss wird eine bemannte Raumkapsel. Verne nimmt hier nicht nur den Gedanken späterer Großforschungsprojekte vorweg, sondern auch ihre Realisierung durch internationale Kooperationen.

Vorausschauend ist auch die Thematisierung der unerwarteten und riskanten Folgen eines solchen Großprojekts. Der Start der Raumkapsel führt am Ende des ersten Bandes zu einer Naturkatastrophe, die sich vom Ort des Abschusses in Florida in einem Umkreis von 300 Seemeilen von der amerikanischen Küste auswirkt: Durch den Rückstoß der Kanone wird ein Beben ausgelöst, auf das eine Windhose folgt.

Verne ließ seine Mondfahrer absichtlich nicht landen © Henri de Montaut

„Die Menschen fielen wie Ähren unter der Sichel, Tausende wurden verletzt und getötet […] 300.000 wurden auf der Stelle mit Taubheit, Blindheit und Entsetzen geschlagen.“ Am Ende des zweiten Bandes, den Verne fünf Jahre später schrieb, sind diese Schrecken allerdings vergessen: Nach ihrer glücklichen Rückkehr beschließen die Raumfahrer, eine interstellare Kommunikationsgesellschaft zu gründen, die eine regelmäßige Verbindung zum Mond aufbauen soll.

Bezeichnend für Verne ist, dass er seine Mondfahrer vom Kurs abkommen lässt, so dass sie den Mond nicht betreten. So vermied er es, über Dinge spekulieren zu müssen, die er nicht aus vorhandenem Wissen extrapolieren konnte. Ardan und Barbicane umrunden lediglich den Erdtrabanten, wobei sie sich die Frage stellen, ob er bewohnt ist und ob die Seleniten primitiver

oder fortschrittlicher sind als die Erdbewohner.

Anne Hardy / Forschung Frankfurt
Stand: 11.04.2014

Zwischen Bildungsauftrag und mystischer Ästhetik

Wegweiser in die moderne Welt

Jules Vernes Haltung zu Wissenschaft und Technik war, im Gegensatz zu englischen Autoren wie Herbert George Wells, zumeist positiv, auch wenn sich in späteren Jahren kritische Töne in seine Romane mischten. Im Laufe seines Lebens machte er sich den Bildungsauftrag seines Verlegers so zu eigen, so dass er drei Jahre vor seinem Tod behauptete, er sei nicht besonders stolz darauf, über technische Entwicklungen wie das Auto, das U-Boot oder lenkbare Luftschiffe geschrieben zu haben, bevor sie realisiert wurden.

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„Ich habe lediglich eine Fiktion aus dem entwickelt, was in der Folge zur Tatsache werden musste, und so ist meine Absicht in diesem Verfahren auch nicht das Prophetisieren gewesen, sondern geographisches Wissen unter der Jugend zu verbreiten, indem ich es auf größtmögliche Weise anziehend gestaltete.“ Neben den Beschreibungen ferner Länder flicht Verne auch immer wieder Erklärungen zu grundlegenden naturwissenschaftlichen Phänomen ein – ganz im Sinne seines selbst empfundenen Bildungsauftrags.

Seine Erzählungen sollten Wegweiser in die moderne Welt sein. Verne selbst soll gesagt haben: „Ich stehe immer mit einem Fuß in der Wirklichkeit.“ Trotzdem aber beinhalten seine Romane oft unüberbrückbare Gegensätze zwischen Vernes technisch-realistischem Ehrgeiz und einer mystisch-symbolischen Ästhetik. Gerade sie aber dient nach Ansicht des Literaturwissenschaftlers Adam Roberts als Motor von Vernes größten Fiktionen. Vielleicht erklärt das den Reiz, den die „Außergewöhnlichen Reisen“ auch heute noch auf uns Leser ausüben.

Anne Hardy / Forschung Frankfurt
Stand: 11.04.2014