Verbreiteter Irrglauben in der Biologie

Tierische Missverständnisse

Wenn es ums Tierreich geht, liegen wir häufiger falsch als wir denken © Fuse/ iStock.com

Bringen Lemminge sich wirklich um, und verbietet die Physik den Hummeln das Fliegen? Können Hunde mit der Nase sehen? Und warum haben Giraffen einen langen Hals? Für solche und ähnliche Fragen sind viele teilweise abenteuerliche Antworten im Umlauf – doch welche davon stimmen?

Ob durch veralteten Stand des Wissens, ungenaue Beschreibungen oder schlichte Übertreibung – über viele Tiere existieren Legenden, die nur schwer zu glauben sind. Andere klingen zwar befremdlich, sind aber so verbreitet, dass wir sie kaum hinterfragen – und dennoch treffen sie nicht zu. Wir erklären einige verbreitete Missverständnisse, wie sie zustande kamen, und was es wirklich damit auf sich hat.

Ansgar Kretschmer
Stand: 15.01.2016

Tiere mit höherer Lebenserwartung als gedacht

Ein Leben wie eine Eintagsfliege

Die kurze Lebenserwartung der Eintagsfliegen ist geradezu sprichwörtlich. Doch werden diese Insekten tatsächlich nur einen Tag alt? Rein logisch betrachtet erscheint das unwahrscheinlich: Innerhalb eines so kurzen Lebens müssten die Fliegen aus dem Ei schlüpfen, bis zur Geschlechtsreife heranwachsen, sich paaren, das Weibchen müsste Eier legen, und bereits am nächsten Tag müsste die nächste Generation schlüpfen – ein volles Programm für einen einzigen Tag.

Nur ausgewachsene Eintagsfliegen haben eine kurze Lebenserwartung, die Larven leben mehrere Jahre. © FreeImages.com / Eric Pseja

Fliegen ohne Mundwerkzeuge

Der Name der Eintagsfliegen, alteinisch Ephemeroptera, ist dennoch nicht unpassend gewählt. Denn die Lebensdauer der erwachsenen Tiere ist in der Tat nur äußerst kurz: Ausgewachsene Eintagsfliegen haben keine funktionierenden Mundwerkzeuge und keinen Verdauungstrakt. Sie existieren einzig und allein zur Paarung und Fortpflanzung, ganz wie im oben beschriebenen Leben im Schnelldurchlauf.

Nach erfolgtem Paarungsritual und Eiablage sterben sie in der Regel innerhalb eines Tages. Bei manchen Arten überleben die erwachsenen Eintagsfliegen sogar nur wenige Stunden, andere dagegen bis zu einer Woche. Die aus den Eiern schlüpfenden Larven haben allerdings viel mehr Zeit zum Heranwachsen: Sie verbringen rund zwei Jahre im Larvenstadium.

Während dieser Zeit leben sie jedoch im Wasser und haben äußerlich nichts mit ihren vergänglichen Eltern gemeinsam. Erst nach der abschließenden Metamorphose erscheinen sie wie Fliegen und verlassen das Wasser. So entsteht der Eindruck, dass die Eintagsfliegen insgesamt nur ein sehr kurzes Leben führen.

Lemminge: Massenselbstmord gegen Überbevölkerung?

Ein hartnäckiges Gerücht hält sich auch über die Lebenserwartung der Lemminge: Angeblich begehen diese im Norden Skandinaviens und Sibiriens lebenden Nagetiere regelmäßig Massenselbstmord. Immer wenn ihre Population zu groß wird, so die verbreitete Ansicht, machen sie sich in riesigen Scharen auf den Weg, um sich von Klippen in Flüsse oder ins Meer zu stürzen.

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Die Wahrheit ist viel weniger dramatisch. Zwar kommt es in der Tat bei einigen Lemming-Arten vor, dass sie sich mitunter explosionsartig vermehren. Dann kommt es zu Massenwanderungen, bei denen sich viele der Tiere auf die Suche nach weniger übervölkertem Lebensraum machen. Auf diesen Wanderungen durchschwimmen die Nager oft auch Flüsse, und einige kommen dabei zu Tode.

Hartnäckiges Gerücht aus einem Disney-Film

Doch die Tiere bringen sich nicht vorsätzlich um, um ihren Bestand zu senken, und stürzen auch nicht in blinder Massenpanik von Klippen. Außerdem kommen solche Massen-Ereignisse geschätzt nur alle dreißig Jahre vor. Von regelmäßigem Massenselbstmord kann also keine Rede sein.

Zum großen Teil verantwortlich für das falsche Bild von den selbstmörderischen Lemmingen ist der Disney-Film „White Wilderness“ aus dem Jahr 1958. In dieser Naturdokumentation zeigen die Filmemacher eine solche Massenwanderung mit tödlichem Ausgang. Der Haken dabei: Die angeblichen Szenen aus der Polarwildnis sind nachgestellt. Die Lemminge fallen nicht von einer Klippe in den Arktischen Ozean, sondern werden vom Filmteam in den Bow River in der Nähe von Calgary in Kanada geschubst.

Der Film stellt den Massenselbstmord der Lemminge nicht als absichtlich dar. Stattdessen spekuliert der Kommentator, die Nagetiere hielten den Ozean für einen See, den sie auf ihrer Wanderung durchschwimmen wollen. Dabei sterben sie schließlich vor Erschöpfung. Aus dieser Darstellung entstand schließlich die Legende von der Bevölkerungsexplosion der Lemminge mit anschließender Massenwanderung und tödlichem Ausgang.

Ansgar Kretschmer
Stand: 15.01.2016

Tierisches Farbensehen ist für uns schwer fassbar

Nicht nur schwarzweiß

Für uns Menschen ist oft wenig verständlich, wie Tiere die Welt wahrnehmen. Die Augen der Bienen erfassen beispielsweise auch UV-Licht – diese Wahrnehmung ist für uns schwer nachvollziehbar. Daher existieren viele verschiedene Vermutungen und Vorstellungen, die jedoch oft nur ungenau zutreffen.

Die Blüte von Echium angustifolium ist für Menschen einheitlich gefärbt (links), Bienen sehen Flecken im UV-Bereich (rechts). © Jolyon Troscianko

Während beispielsweise Hunde ein ausgezeichnetes Gehör und eine hervorragende Nase haben, gelten ihre Augen als vergleichsweise schlecht. Daher stammt die Annahme, dass Hunde sich generell mehr auf die Nase als ihre Augen verlassen, und dass sie gewissermaßen „Gerüche sehen“ können. Tatsächlich hat der Geruchssinn für Hunde einen ähnlich hohen Stellenwert wie der Sehsinn für uns Menschen.

Jenseits von grün ist alles gelb

Doch unterentwickelt sind die Augen der Hunde keineswegs, sie sind sogar sehr leistungsfähig – allerdings auf völlig andere Weise als das menschliche Auge: Hunde sind besonders gut darin, kleinste Bewegungen zu bemerken und auch schnelle Bewegungen erfassen sie besser als wir: So können Hunde zum Beispiel 60 bis 70 Einzelbilder pro Sekunde wahrnehmen – das ist mehr als doppelt so viel wie das menschliche Auge.

Ebenfalls unzutreffend über die Sicht der Hunde ist, dass sie nur schwarzweiß sehen können. Hunde haben zwei verschiedene Farbrezeptoren in ihren Augen, so wie die meisten an Land lebenden Säugetiere. Während wir Menschen drei verschiedene Farben wahrnehmen können nämlich rot, grün und blau, decken die Rezeptoren der Hunde vor allem den blauen Bereich des Spektrums ab. Blaue Gegenstände erkennen sie daher sehr gut, rot und grün können sie jedoch nicht unterscheiden und sehen sie stattdessen einheitlich als gelb.

Stiere: „Rot sehen“ oder nicht?

Für Stiere, wie für alle Huftiere, ist die Farbe Rot ebenfalls nicht besonders auffällig. Auch sie haben lediglich zwei Arten von Farbrezeptoren. Das sprichwörtliche „Rot sehen“ basiert daher ebenfalls auf einem Missverständnis. Es ist nicht die rote Farbe des geschwenkten Tuches, die einen Stier beim Stierkampf rasend macht. Stattdessen fühlen sie sich vor allem durch die Bewegungen des Stierkämpfers bedroht und durch Lärm und Schmerz zusätzlich angestachelt.

Eine bessere Sicht als gemeinhin angenommen haben auch typische nachtaktive Tiere wie Fledermäuse und Eulen. Diese verwenden im Dunkeln zwar eher ihre Ohren als ihre Augen. „Blind wie eine Fledermaus“ oder „blind wie eine Eule“ bedeutet aber nicht, tatsächlich blind zu sein: Eulen haben sehr große und leistungsstarke Augen. Fledermäuse können sogar im UV-Bereich sehen. Ihre größeren Verwandten, die Flughunde, sehen sogar so gut, dass sie völlig ohne die für Fledermäuse typische Echolokation auskommen.

Sonnenblumen zeigen nicht immer zur Sonne: Hier steht die Sonne hinter der Blüte. © FreeImages.com / Mike Gromov

Richtungsweisende Blüten

Wenn uns schon die Sinne der Tiere so fremd sind, gilt das erst recht für Pflanzen. Auch über deren „Sinneswahrnehmungen“ existieren falsche Annahmen. Sonnenblumen haben ihren Namen angeblich daher, dass sie ihre großen, auffälligen Blüten stets der Sonne zuwenden. Doch das stimmt nicht, oder zumindest nur zum Teil: Auf einem Sonnenblumenfeld zeigen zwar tatsächlich praktisch alle Blüten in dieselbe Richtung. Aber im Normalfall zeigen sie nur bei Sonnenaufgang zur Sonne.

Das liegt daran, dass nur die Knospen der Sonnenblume sich an der Sonne orientieren. Öffnen sie sich zur Blüte, zeigen sie den sogenannten Heliotropismus nicht mehr. Dann behalten sie die Wuchsrichtung bei, die sie beim ersten Öffnen der Knospe eingenommen hatten – und das ist meistens in Richtung Sonnenaufgang. Wenn also tatsächlich die Ausrichtung der Blüten namensgebend war, wäre der etwas sperrige Name „Sonnenaufgangsblume“ passender.

Ansgar Kretschmer
Stand: 15.01.2016

Die falschen Geschmackszonen

Irrtum liegt auf der Zunge

Und selbst über unsere eigenen Sinne sind hartnäckige Fehlinformationen im Umlauf. Ein berüchtigtes Beispiel sind die „Geschmackszonen“ auf der Zunge. Selbst viele Lehrbücher verbreiten noch, dass wir einzelne Geschmacksrichtungen nur in bestimmten Bereichen der Zunge wahrnehmen, Süßes beispielsweise auf der Zungenspitze und Bitteres eher im Rachenbereich.

Geschmackszonen? Ein Irrglaube: Unsere Zunge ist nicht in spezialisierte Bereiche für jeden Geschmack eingeteilt. © FreeImages.com / Bjorn de Leeuw

Doch diese Darstellung ist falsch: Sie basiert auf einer Übersetzung, die wiederum auf einer ungenauen wissenschaftlichen Veröffentlichung beruht. Der deutsche Forscher Daniel Hänig hatte bereits 1901 untersucht, ob verschiedene Bereiche der Zunge unterschiedlich stark auf verschiedene Geschmacksempfindungen ansprechen. Dabei hatte er in der Tat Unterschiede festgestellt: Einzelne „Zonen“ unserer Zunge schmecken manche Geschmäcker intensiver als andere.

Verbreiteter Irrtum durch irreführende Daten

Doch das bedeutet nicht, dass der jeweilige Geschmack außerhalb dieser Zonen gar nicht mehr wahrnehmbar ist. Hänig veröffentlichte seine Daten jedoch so irreführend, dass sie genau diesen falschen Eindruck erweckten. Viele Wissenschaftler weltweit verfielen diesem Irrtum, so auch der US-Amerikaner Edwin Boring, als er im Jahr 1942 Hänigs Arbeit übersetzte und neu auswertete. Diese Übersetzung trug maßgeblich zur Popularität der falschen Idee bei.

Wissenschaftlich sind die Geschmackszonen längst eindeutig widerlegt: Rezeptoren für alle Geschmacksrichtungen kommen auf der ganzen Zunge vor. Allerdings sind sie unregelmäßig verteilt. Hinzu kommt, dass die ursprüngliche Idee der Geschmackszonen von nur vier Geschmacksrichtungen ausging: Süß, sauer, salzig und bitter.

Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass wir Menschen noch mindestens einen weiteren Geschmack wahrnehmen können, nämlich das fleischig-würzige umami. Außerdem gibt es Hinweise, dass auch Fette einen eigenen Geschmack haben könnten. Für diese zusätzlichen Geschmacksrichtungen fehlt in der Karte der Geschmackszonen der Platz.

Ansgar Kretschmer
Stand: 15.01.2016

Physikalische Gesetze widersprechen nicht den Tatsachen

Warum können Hummeln nicht fliegen?

Hummeln gehören eindeutig zu den fliegenden Insekten – dennoch hält sich die Annahme, dass sie nach physikalischen Gesetzen nicht fliegen können dürften. Dies wird häufig als Anekdote verbreitet, die zeigen soll, dass manche Naturgesetze noch nicht ausreichend verstanden sind: Wie man sieht, können Hummeln sehr wohl fliegen. Wenn physikalische Gesetze anderes behaupten, müsse das also an diesen Gesetzen liegen, nicht an der Hummel.

Hummeln sind Flugkünstler, und die Gesetze der Physik behaupten nichts anderes. © FreeImages.com / Tamas Nyari

Doch die Gesetze der Physik widersprechen auch in diesem Fall nicht der Natur. Ursprung dieses Irrglaubens ist wahrscheinlich ein Scherz unter Insektenforschern und Physikern zu Anfang der 1930er Jahre: In einer kurzen Überschlagsrechnung stieß ein Physiker darauf, dass Hummeln im Verhältnis zu ihrem Körpergewicht viel zu kleine Flügel haben. Nach aerodynamischen Strömungsregeln allein könnten sie damit nicht genug Auftrieb erreichen, um ihren Luftwiderstand zu überwinden und zu fliegen.

Hummel-Scherz unter Wissenschaftlern

Die Anekdote taucht auch im Buch „Der Flug der Insekten“ des französischen Insektenforschers Antoine Magnan auf. Es ist aber unwahrscheinlich, dass die Forscher und ihre Zeitgenossen die Berechnungen für bare Münze nahmen. Tatsächlich ist die Physik hinter dem Flug der Insekten mittlerweile gut erforscht und beschrieben.

Wären Hummeln Flugzeuge, könnten sie bei ihrem Körpergewicht im Verhältnis zur Fläche ihrer Flügel in der Tat nicht fliegen. Doch den Hummeln kommen zwei Dinge zugute: Erstens sind sie viel kleiner und leichter als ein Flugzeug. Die Luft, durch die sie fliegen, bleibt aber genauso dicht. Daher gelten für die Luftströmungen um ihre Flügel völlig andere Bedingungen, und auf Flugzeug-Aerodynamik basierende Rechnungen liefern zwangsläufig irreführende Ergebnisse.

Erfolgreiche Insekten-Hubschrauber

Hinzu kommt, dass die Flügel der Hummel nicht starr stehen wie bei einem Flugzeug und auch nicht bloß einfach auf und ab schlagen. Stattdessen rotiert die Hummel ihre Flügel rasend schnell, so dass sich der Winkel zur anströmenden Luft im Flug ständig ändert. Dadurch erzeugt das Insekt Luftwirbel, die stark genug sind, um den Körper in die Luft zu heben.

Der Hummelflug ähnelt in diesem Aspekt eher einem Hubschrauber als einem Flugzeug. Damit sind Hummeln sogar so erfolgreich, dass sie mit gut 5.000 Metern die höchste Flughöhe von allen Insekten erreichen und auch in extrem dünner Luft noch fliegen können.

Zecken lauern nicht hoch auf Bäumen, sondern im Gras und an Sträuchern. © André Karwath (CC BY-SA 2.5)

Zecken fallen nicht von Bäumen

Im Gegensatz zu Hummeln können Zecken nicht fliegen – und sie versuchen es auch nicht. Entgegen dem verbreiteten Glauben stürzen sie sich jedoch nicht von Bäumen herab auf ihre Opfer. Diese Strategie wäre für diese blutsaugenden Spinnentiere viel zu riskant: Das Klettern auf einen Baum kostet viel Zeit und vor allem Energie und der Sprung auf einen möglichen Wirt hat zu geringe Erfolgschancen.

Stattdessen kommen Zecken aus der entgegengesetzten Richtung: Sie lauern an Grashalmen oder im Gebüsch, oft sogar fast auf Bodenhöhe. Einen Wirt, wie etwa einen Menschen beim Spaziergang, ein streunendes Haustier oder ein Schaf auf der Weide, erkennen sie durch dessen Geruch und Atemluft, aber auch an Vibrationen durch Schritte oder einen Schatten, der die Zecke streift.

Sobald sie ein solches Signal wahrnimmt, streckt eine Zecke ihre vorderen Beine weit von sich und hält sich nur noch mit den hinteren Beinpaaren an ihrem Lauerplatz fest. Streift der vorbeikommende Wirt daran entlang, packt die Zecke sofort zu und lässt sich mitnehmen. Diese Vorgehensweise verspricht viel mehr Erfolg und ist deutlich weniger anstrengend als der angebliche Sprungangriff von einem Baum herab.

Ansgar Kretschmer
Stand: 15.01.2016

Die Evolution und ihre Missverständnisse

„Nur“ eine Theorie?

Kaum ein naturwissenschaftliches Thema zieht so viele Diskussionen an wie die Evolutionstheorie. Bereits seit Charles Darwin die ersten Ansätze dieser Theorie veröffentlichte, ist sie umstritten – und die Ursache ist oft ein falsches Verständnis dessen, was die Theorie eigentlich besagt.

Charles Darwin und seine Evolutionstheorie werden oft missverstanden und verunglimpft. (Karikatur aus 'The Hornet' von 1871) © gemeinfrei

Schon Darwin wurde heftig dafür kritisiert, dass er dem Menschen eine Abstammung von Affen nachsagte – was der berühmte Naturforscher tatsächlich nie getan hat und was auch die heutige Evolutionstheorie nicht besagt. Sie geht lediglich von einer engen Verwandtschaft zwischen modernen Menschen und heutigen Affen aus, mit gemeinsamen Vorfahren vor über fünf Millionen Jahren.

Wenn es um die Evolution geht, liest man oft Sätze wie „Die Menschen entwickelten einen aufrechten Gang“ oder „Einige Dinosaurier entwickelten Flügel und wurden zu Vögeln.“ Diese Wortwahl ist jedoch leicht irreführend: Sie erweckt schnell den Eindruck, die jeweilige Entwicklung sei vorsätzlich und gezielt vor sich gegangen, selbst wenn dies eigentlich nicht gemeint ist.

Dinosaurierflügel und Giraffenhälse

Aussagen wie „bei einigen Frühmenschen entwickelte sich die Fähigkeit zum aufrechten Gang“ und „bei einigen Dinosauriern entstanden Flügel“ geben den Evolutionsprozess präziser wieder. Denn diese Vorgänge fanden über zahlreiche Generationen und Entwicklungsschritte statt und geschahen völlig zufällig durch winzige Veränderungen im Erbgut. Da sie jedoch einen Überlebensvorteil brachten, blieben sie erhalten und wurden an folgende Generationen weiter vererbt.

Ein oft angeführtes Beispiel hierzu ist die Giraffe: Giraffeneltern können sich noch so sehr nach den Blättern an hohen Bäumen strecken – die Reichweite ihrer Nachkommen wird davon nicht größer. Wenn jedoch besonders hochgewachsene Tiere gegenüber den kürzer geratenen Artgenossen im Vorteil sind und häufiger überleben, besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie sich vermehren und dieses Merkmal in der Population erhalten bleibt.

Giraffenhälse erhalten ihre Länge nicht durch ständiges Strecken. © FreeImages.com / Byron Hardy

Der lange Giraffenhals liefert übrigens auch einen weiteren Irrglauben: Er dient der Giraffe nicht dazu, hoch gelegene Blätter von Bäumen pflücken zu können – diesen Zweck erfüllen vor allem die langen Beine. Der lange und biegsame Hals ist nötig, damit das Tier sich zum Wassertrinken hinunter beugen kann.

Eine Theorie ist keine Hypothese

Besonders unter Gegnern der Evolutionstheorie weit verbreitet ist das Argument, sie sei immer noch „nur eine Theorie“ und es gebe keine Beweise. Doch die Grundlage dieses angeblichen Arguments ist ein falsches Verständnis des Begriffes „Theorie“, wie die Wissenschaft ihn gebraucht. Eine wissenschaftliche Theorie beschreibt die theoretischen Aspekte eines Forschungsfeldes, abgegrenzt von praktischen Teilen wie Experimenten und Beobachtungen. Eine „unbewiesene Vermutung“ bezeichnen Wissenschaftler nicht als Theorie, sondern als „Hypothese“.

Nur wenige Grundannahmen der Wissenschaft lassen sich so eindeutig beweisen wie beispielsweise ein mathematisches Gesetz. Eine wissenschaftliche Theorie, wie die Relativitätstheorie oder eben die Evolutionstheorie, kommt dem jedoch so nah wie möglich: Sie ist ein Modell, das beobachtete Vorgänge umfassend beschreibt, die Ergebnisse von Experimenten erklärt und zusammenführt sowie Voraussagen über geplante Tests ermöglicht. Selbst wenn sie gelegentlich verfeinert werden müssen, gelten Theorien deshalb gemeinhin als anerkannt und gültig. Aus diesem Grund heißt es „Evolutionstheorie“ und nicht „Evolutionshypothese“.

Ansgar Kretschmer
Stand: 15.01.2016